Wenn Computerspielen süchtig macht
PC und Internet sind heute aus dem beruflichen und privaten Leben kaum mehr wegzudenken. Sie sind Bestandteil unseres Alltags. Für viele Menschen ist deren Gebrauch faszinierend. Besonders auf Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene üben sie eine enorme Anziehungskraft aus. Das ist nicht weiter verwunderlich, bedenkt man die gigantischen Möglichkeiten, die die Nutzung moderner elektronischer Medien heute eröffnet.
Wir wissen: Grundsätzlich können sich sehr viele Verhaltensweisen suchtähnlich verändern. Deshalb besteht die Gefahr, dass auch der Gebrauch elektronischer Medien zu Missbrauch wie zu süchtigem Verhalten führen kann.
Bereits Mitte der 90er Jahre haben amerikanische Autor(inn)en auf die potenziellen Gefahren dieses Mediums hingewiesen. Trotzdem ist bis heute nicht abschließend geklärt, ob es sich dabei um eine manifeste Abhängigkeitserkrankung oder ein vorübergehendes Trendproblem handelt. Das Störungsbild "Computerspielsucht" oder "Internetsucht" ist bislang offiziell nicht anerkannt. Die Botschaften aus der Praxis werden jedoch eindeutiger. Beratungsstellen und Online-Suchtportale berichten von einer hohen Nachfrage nach Beratung und Unterstützung für Betroffene, Angehörige, besorgte Eltern und Lehrer(innen). Computerspielen mit Suchtfaktor tritt zunehmend ins öffentliche Bewusstsein. Internet- und Onlinesucht wird in der Fachwelt immer intensiver als neues Störungsbild psychischer Erkrankungen diskutiert.
Internetsucht hat viele Gesichter
Internetsucht, Computerspielsucht, Onlinesucht, Mediensucht oder exzessiver Internetgebrauch als nicht substanzgebundene Verhaltenssucht … die Begrifflichkeiten sind vielfältig. Ein anerkannter Begriff hat sich in der Fachwelt noch nicht durchgesetzt. Umgangssprachlich ist der Begriff "Computerspiel- und Internetsucht" geläufig. Grundsätzlich ist mit der sogenannten Internetsucht eine nicht stoffgebundene Verhaltenssucht gemeint (im Gegensatz zu stoffgebundenen Süchten wie Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit), die sich in unkontrolliertem Surfen, Chatten, Spielen, Downloaden oder anderen Aktivitäten im Internet äußern kann.1 Bei näherer Betrachtung bilden sich jedoch Tendenzen bestimmter Verhaltensmuster ab. Aktuelle Befunde weisen bei erwachsenen Menschen bei missbräuchlichem oder süchtigem Umgang mit elektronischen Medien mehrheitlich auf die intensive Nutzung von "Cybersex" (sexuell gefärbte oder pornografische Aktivitäten im Internet) hin. Bei Kindern und Jugendlichen stehen eher das exzessive vielstündige pathologische Rollenspiel, etwa "World of Warcraft", mit extrem angeregter Fantasie und multiplen Rollenangeboten und sogenannte Ego-shooter-Spiele im Vordergrund, bei denen aus der Perspektive eines bewaffneten Schützen potenzielle Gegner möglichst schnell zu treffen sind.2
Forschungsergebnisse benennen Trend
Die Verbreitung und Häufigkeit von Computerspiel- und Internetsucht ist noch nicht fundiert erforscht. Aufgrund unterschiedlich verwendeter Methodik und Kriterien sind die Ergebnisse der bislang vorliegenden Studien nicht immer vergleichbar und eröffnen eine große Bandbreite in der Aussagekraft. Neuere Studien weisen aber auf gewisse Trends im Konsumentenverhalten hin. Etwa sechs bis neun Prozent der bisher untersuchten Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die aktiv am Computer spielen, erfüllen die Kriterien einer Abhängigkeit. Dies fand eine Forschergruppe der Universitätsklinik Mainz heraus.3
Untersuchungen der Charité - Universitätsmedizin Berlin zum Computerspielverhalten bei Kindern kamen zum Ergebnis, dass 9,3 Prozent der untersuchten Schüler(innen) einer 6. Klasse formal die Kriterien für ein exzessives Computerspielverhalten erfüllen und somit als gefährdet gelten.4 Eine Untersuchung bei Jugendlichen der 8. Klasse ergab einen Wert von 9,7 Prozent.5 Eine bundesweite Onlinebefragung von über 7000 jungen erwachsenen Computerspieler(inne)n zeigte, dass sogar 11,9 Prozent dieser Stichprobe die Kriterien einer Abhängigkeit in Bezug auf Computerspielverhalten erfüllen.6 Spannend sind auch die weiteren Schlüsse, die die Forscher(innen) aus ihren Studien ziehen. Zum einen stellen sie fest, dass ihre Ergebnisse den Resultaten vergleichbarer internationaler Studien entsprechen. Zum anderen legen die Ergebnisse der Studien nahe, dass das exzessive Computerspielen durchaus mit der Abhängigkeit von psychotropen Substanzen (zum Beispiel Alkohol) vergleichbar ist.
Suchtpotenzial liegt in der Grenzenlosigkeit des Netzes
Aber: Das Internet selbst macht nicht süchtig. Entscheidend ist der jeweilige Umgang mit den schier grenzenlosen Möglichkeiten der Internetnutzung - im Spiel wie in der Informationsgewinnung. Die Zugänge zum Internet sind inzwischen immer einfacher und günstiger geworden, was auch zu seiner enorm weiten Verbreitung beigetragen hat. Dies führt dazu, dass das Internet permanent greifbar ist. Dass die Spielsucht zunimmt, liegt auch im großen Reiz der virtuellen Räume der Online-Spielwelten begründet, die immer realistischer gestaltet sind, ebenso wie auch in der Anonymität des Umgangs.
Der Übergang in eine Sucht ist bei den sogenannten verhaltensbezogenen Süchten vergleichbar mit der Abhängigkeit von Alkohol, Medikamenten oder den illegalen Suchtmitteln. Das Mittel wird zum Ersatz für die reale Welt. Die virtuelle Welt der Spiele, das Internetangebot wird zum Zufluchtsort vor realen Problemen, Ärger und Stress und ermöglicht, Defizite auszugleichen. Die große Verlockung besteht darin, dass Anerkennung, Erfolg und Zuspruch leichter zu bekommen sind.
Der Psychologe Klaus Wölfling kann aus seiner Erfahrung in Deutschlands erster Ambulanz zur Behandlung von Computerspiel- und Internetsucht an der Universität Mainz inzwischen recht genau sagen, was in den meisten Fällen suchtauslösend wirkt: "Der entscheidende Faktor ist die Onlineanbindung. Die betreffenden Spiele haben kein Ende, Raum und Zeit werden irrelevant, und sie ermöglichen virtuelle Kontakte."7
Exzessiver Umgang bedeutet nicht gleich süchtig
Der exzessive Umgang mit elektronischen Medien alleine ist noch kein Symptom für Missbrauch oder Abhängigkeit. Deswegen reichen einfache Formeln (zum Beispiel Zeitumfang der Nutzung ergibt Abhängigkeit) nicht aus. Bei der Fragestellung, inwieweit Computerspielen eine Sucht sein kann, berufen sich internationale Studien auf Kriterien, die durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) festgelegt sind. Im Wesentlichen sind es die folgenden Kriterien, die für diese Bewertung maßgeblich sind:
- unstillbares Verlangen, am Computer zu spielen;
- Toleranzentwicklung und Dosissteigerung - Verlängerung der Spielzeit, damit es sich lohnt;
- Entzugserscheinungen beim Absetzen des Mediums wie aggressive Spannungen, Nervosität und Unruhe;
- Kontrollverlust - man kann nicht aufhören;
- negative Konsequenzen und Folgeprobleme, wie Beziehungsstörungen, Leistungseinbrüche in Schule und Beruf, Vernachlässigungen in alltäglichen Verrichtungen, Schlafstörungen, Mangel- oder Fehlernährung, Verwahrlosungstendenzen.
Die WHO spricht dann von einem problematischen Umgang mit den Medien oder gar von Abhängigkeit, wenn mindestens drei dieser Kriterien erfüllt sind.8 Verfahren zum Selbsttest finden sich im Internetportal www.onlinesucht.de oder im Ratgeber "Computerspielsüchtig? Rat und Hilfe" von Grüsser und Thalemann (siehe Anmerkung 4).
Jungen und junge Männer sind besonders gefährdet
Der Suchtfaktor bei Computerspielen scheint bei Männern höher ausgeprägt zu sein als bei Frauen. Zu dieser Erkenntnis kam eine Forschergruppe der Stanford University. Bei den Untersuchungen konnte festgestellt werden, dass das Belohnungszentrum im Gehirn eines Mannes beim Spielen mit Computern stärker angeregt wird als das einer Frau.9 Mitarbeiter(innen) des Selbsthilfeberatungsportals "Onlinesucht" kommen zur Einschätzung, dass sie es im Bereich Online-Spielsucht zu 90 Prozent mit männlichen Kindern und jungen Erwachsenen zu tun hätten. Suchtforscher wie Ralf Thalemann gehen davon aus, dass die einseitige Beteiligung von Jungen und jungen Männern unter den Betroffenen auch mit dem unterschiedlichen Umgang von Frauen und Männern mit Stress in Verbindung steht. Seine These ist: Computerspielen, also das Abtauchen in andere Welten, deckt sich mit dem spezifischen Umgang mit Stress. Mädchen gehen mit Stress tendenziell problemorientiert um, indem sie Unterstützung bei Freundinnen suchen, während Jungs dazu tendieren, vermeidend zu reagieren.10
Die Mehrzahl der Menschen kommt mit der Nutzung des Internets gut zurecht. Für sie ist das Internet ein Medium wie andere auch, das nicht per se zu Problemen führt. Elektronische Medien sind wesentlicher und alltäglicher Bestandteil unserer Lebenswelt. Sie sind hilfreich und bereichernd und aus unserem privaten wie beruflichen Umfeld kaum mehr wegzudenken.
Für viele Jugendliche bleibt die exzessive Nutzung ein zeitlich begrenztes und jugendtypisches exzessives Verhalten, das von alleine wieder aufhört. Für manche Nutzer(innen) - Kinder, Jugendliche wie Erwachsene - führt der Gebrauch zu Abhängigkeitsproblemen.
Was aber begünstigt die eine oder die andere Ausrichtung? Eingeteilt in Risiko- und Schutzfaktoren gelten insbesondere ein gering ausgeprägtes Selbstwertgefühl, Depressivität und soziale Ängstlichkeit, fehlende Anerkennung im realen Leben sowie hohe, unrealistische Erwartungen an das Internet und ungenügende Bewältigungsstile als Risikofaktoren für eine exzessive Nutzung elektronischer Medien. Hingegen sind wesentliche Schutzfaktoren eine gute soziale Integration, Frustrationstoleranz, alternative Interessen und Freizeitbeschäftigungen, Bewältigungs- und Kommunikationsfähigkeiten sowie ein kompetenter Umgang mit dem Medium.
Information und Beratung
Dabei beschränkt sich die Medienkompetenz nicht auf technische Fähigkeiten im Umgang mit elektronischen Medien. Gemeint ist damit darüber hinaus die Fähigkeit, sich kritisch, reflektierend und verantwortungsbewusst in der Medienwelt zu bewegen und Medien zum eigenständigen und kreativen Ausdruck zu nutzen.11 Diese Fähigkeit ist umso bedeutender, da im exzessiven Umgang mit dem Internet nicht einfach Abstinenz hilft, um problematisches Verhalten zu verändern. Hilfreich sind Anleitungen und Hilfestellungen, den kompetenten Umgang mit Internet und Onlinespielen zu erlernen und sich der möglicherweise bestehenden "Verhaltenssucht" zu stellen.
Anmerkungen
1. Berger, Christa: Abhängigkeit online. In: Suchtprävention, laut & leise Nr. 1, März 2008, S. 5-6.
2. Bilke, Oliver: Multiple Medien-Abhängigkeit - die sogenannte "Internetsucht" aus entwicklungspsychiatrischer und klinischer Sicht. In: Sucht, Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis, Ausgabe 54 (1) 2008, S. 6-8.
3. Jaensch, Jennifer, Ambulanz für Computerspiel- und Internetsucht an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz: Kriterien für Spielsucht und Hilfe für Betroffene. In: Via Medici, Artikel vom 30. März 2008, Thieme-Verlag.
4. Grüsser, Sabine; Thalemann, Ralf: Computerspielsüchtig? Rat und Hilfe. Bern : Verlag Hans Huber, 2006, S. 33-34.
5. Grüsser-Sinopoli, Sabine-Miriam: Exzessive Computernutzung : Ergebnisse verschiedener Studien. Klinikum der Universität Mainz, 2007.
6. Thalemann, Ralf: Variablen exzessiver Computer- und Internetnutzung im Kindes- und Jugendalter. Publikationspromotion, Lehrstuhl für Medizinische Psychologie, Zentrum für Human- und Gesundheitswissenschaften, Charité - Universitätsmedizin Berlin, 14. März 2008.
7. Grohé, Moses: Computerspieler auf Entzug. In: Spiegel online, 30. April 2008.
8. Höche, Martin: Interview mit Ralf Thalemann. In: Planet interwiew, www.planet-interview.de
9. Brandt, Michelle L.: Video games spark brain reward in men more than women. In: Stanford Report, 6. Februar 2008.
10. Höche, Martin, a.a.O.
11. Berger, Christa, a.a.O., S. 6-7.