Nichts mehr zu verlieren - außer dem eigenen Leben
Vielfältige Fluchtgründe sind bekannt: Kriege, Völkermord, Diktaturen. Armut und Perspektivlosigkeit. Ökologische Krisen wie beispielsweise die fortschreitende Wüstenbildung in Afrika - Wasser wird für viele zu einem kaum noch bezahlbaren Gut. Ungenügende medizinische Versorgung; Unterernährung; große Kindersterblichkeit. Nur mäßige Bildungschancen und damit geringe Zukunftsaussichten. Ausbeutung der Lebensgrundlagen zum Beispiel durch reiche Nationen, die im Besitz großer Flotten von schwimmenden Fischfabriken sind - gerade vor der afrikanisch-mauretanischen Küste. Überfischung raubt den Armen unmittelbar die Nahrung vom Tisch.
Diese und andere Gründe sind Ursache für die großen Fluchtbewegungen hin zu den reichen Ländern. Viele junge Afrikaner hegen den Wunsch, ein wenig an der Sicherheit und den Lebensbedingungen der Europäer teilzuhaben. Verständlich! Sie möchten ihren Frauen und Kindern das Leben erleichtern. Junge Männer ziehen nach Norden, sozusagen als Hoffnungsträger für ihre Familien. Und als Schande würde es angesehen, wenn sie erfolglos zurückkämen, zumindest meinen sie dies.
Die Tragik: Viele von ihnen kommen nie dort an, wohin sie wollen. Der Weg ins "gelobte Land" Europa ist dermaßen verschlossen, militärisch überwacht, mit Sperren versehen, dass es kaum gelingt, auch nur die Vorposten Europas zu erreichen.
So landen die jungen Afrikaner(innen) in den Abschiebegefängnissen von Marokko und Algerien: Sie werden hier Gewalterfahrungen machen, korrupte Polizei kennenlernen, verprügelt, beraubt, vergewaltigt werden und ohne Wasser und Brot in diesen unmenschlichen Haftbedingungen dahinvegetieren, bis sie zur Abschiebung in Busse gesteckt und irgendwo im Niemandsland ohne angemessene Ausrüstung ausgesetzt werden. Die einen bedrohen sie und schießen zur Abschreckung hinter ihnen her, die anderen empfangen sie mit ihren Gewehren, ihren Schlagstöcken und ihrem unmenschlichen System. Wer Glück hat, gelangt bis in ein spanisches oder italienisches Abschiebegefängnis. Hier sind die Bedingungen etwas kontrollierter und etwas humaner. Aber auch hier gibt es viele Grausamkeiten. Sicher ist: Die Abschiebung folgt!
Die europäische Gemeinschaft gibt viel Geld dafür aus, dass beispielsweise Marokko, Algerien, Libyen und andere afrikanische Staaten den "schmutzigen Dienst" der Grenzüberwachung, der Abschreckung und Bestrafung übernehmen.
Entweder ergeht es den flüchtigen Afrikaner(inne)n so wie geschildert, oder sie kommen gar nicht erst so weit. Ihr vermeintliches Rettungsboot wird auf dem Meer kentern. Die Leichen werden irgendwann angeschwemmt oder bilden auf dem Meeresgrund zwischen Afrika und Europa auf Dauer den "größten Friedhof". Nach Informationen von Pro Asyl waren es im Jahr 2006 an die 2088 Flüchtlinge, die zu Tode kamen, und 2007 waren es mindestens 1861. Und diejenigen, die überlebt haben, werden möglichst schnell zurückgeschickt und in noch größere Not entlassen, denn ihre Flucht hat sie sehr viel Geld gekostet.
Flüchtlingshilfe am Tummelplatz der Schleuser
Nouadhibou ist die zweitgrößte Stadt der Islamischen Republik Mauretanien. Die nördliche Meerlage und ihre Grenznähe ist für viele (junge) Afrikaner(innen) der Ausgangspunkt, um von hier die Flucht nach Europa fortzusetzen. Viele "Clandestines", also sogenannte illegale Flüchtlinge, halten sich in dieser Stadt auf und hoffen auf eine günstige Gelegenheit, um in Richtung Europa zu gelangen: vorbei an dem Kontrollsystem, den vielen Militärposten, der Küstenüberwachung - trotz schneller Polizeiboote (finanziert durch Europa) und Luftaufklärung, die viel Geld kostet. Ihr Ziel sind beispielsweise die Kanarischen Inseln.
Pfarrer Jerome Dukiya koordiniert die Flüchtlingshilfe der katholischen Kirche in Nouadhibou. Sie ist für viele Flüchtlinge eine Rettungsstation. Der junge Pfarrer berichtet: "Immer wieder wollen Menschen von hier mit kleinen Fischerbooten in das vermeintlich gelobte Land gelangen. Oder da gibt es Geschäftemacher, die den Flüchtlingen das Geld aus der Tasche ziehen und sie auf dem Meer sich selbst überlassen. Die Boote sind brüchig, die Motoren veraltet, kaum Trinkwasser an Bord, keine Verpflegung. Viele auf den Booten können nicht schwimmen, keine erfahrenen Seeleute sind am Ruder."
Überfahrt in den Tod
"Das kann nicht gut gehen", berichtet Jerome Dukiya weiter. "Wir erhalten später die Todesnachrichten. Die Boote kentern auf hoher See oder unterwegs sterben Flüchtlinge in den Booten. Nächtliche Kälte, die Hitze und Sonneneinstrahlung des Tages, das tagelange Sitzen am Fleck in überfüllten Booten, die ständige Gefahr, kaum Essen und Trinken, das alles überleben viele nicht."
In Nouadhibou sind es an die 10.000 Menschen, die sich auf der Flucht befinden, die weiterwollen. Jerome Dukiya kennt viele Fluchtgeschichten. Er berichtet über die Lage an der Grenze zu Melilla, der spanischen Exklave in Marokko, mit ihrem riesigen Grenzzaun. Überall gibt es starke Kontrollen. Der Pfarrer weiß von unmenschlichen Zuständen in den Abschiebegefängnissen, berichtet über Gewaltanwendungen und macht auf die Militarisierung der europäischen Maßnahmen aufmerksam.
Ein Deutscher als Bischof in Mauretanien
Für viele dieser Flüchtlinge in Nouadhibou ist die kleine katholische Kirche, 1956 auf einem Hügel erbaut, ein Hoffnungsort. Bei den Flüchtlingen hat sich herumgesprochen, dass es dort Hilfe gibt. "Wir möchten ihnen Perspektiven eröffnen", so der Bischof von Nouakchott, Martin Happe, der zur Gemeinschaft der Weißen Väter gehört. "Unsere indischen Schwestern in Nouadhibou arbeiten mit Frauen, damit diese eine Existenzgrundlage erhalten. Da entstehen ganz konkrete Vorhaben, beispielsweise kleine Läden zum Verkauf von selbst geschneiderten Textilien. Oder wir organisieren Sprachkurse, schulische und berufliche Bildungsmaßnahmen. Und wir sprechen mit den jungen Afrikanern über ihre Lebensträume", so der Bischof. Unterstützt werden die Christ(inn)en dabei von einigen Nichtregierungsorganisationen und von Caritas international. Pfarrer Jerome Dukiya ergänzt: "Wir vertreten die Flüchtlinge auch gegenüber der staatlichen Obrigkeit. Zu unserem Dienst gehört auch, dass wir die Gefangenen in den Gefängnissen besuchen und hier einen wachen Blick haben."
Christliche Gemeinschaften und Initiativen in Mauretanien sind seit längerem bemüht, Flüchtlinge (woher auch immer sie kommen) zu beraten und ihnen konkret zu helfen. "Jeder ist da mit seiner eigenen Geschichte, auch Tragik. Jeden müssen wir als Einzelnen beraten. Es geht dabei um ihre Würde. Vielen ist diese geraubt worden, weil man sie unmenschlich behandelt hat, oft gedemütigt", so Jerome Dukiya. Die Kirche auf dem Hügel erinnert an das biblische Bild einer Stadt auf dem Berg, vom Salz der Erde, vom Licht der Welt (Matth. 5, 13-16): "Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf dem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben … So soll euer Licht vor den Menschen leuchten …" In Nouadhibou wird ganz konkret erlebbar, was das bedeuten kann.
Bischof Martin Happe hat vor, mit seinen spanischen Mitbrüdern über die Situation der Bootsflüchtlinge zu sprechen. Wichtig für die Christ(inn)en Mauretaniens werden die Fragen sein: Was wollen sie und was können sie für die Flüchtlinge tun? Dabei werden sie sehr wach sein müssen, denn sie dürfen auf keinen Fall zu Gehilfen des (unmenschlichen) Überwachungssystems werden. Sie dürfen sich nicht an Abschiebemaßnahmen beteiligen lassen oder nur deshalb "Fluchtverhinderer" sein, weil dies das reiche Europa subventioniert. Da werden die Bischöfe auch sehr politisch denken und handeln müssen. "Was dient den Flüchtlingen?", mahnt Bischof Happe: "Das ist und bleibt unsere Ausgangsfrage."