Kinder sind mehr wert - und Erzieherinnen auch
Kaum ein anderes Thema hat in den letzten Jahren einen solchen öffentlichen Bedeutungszuwachs erfahren wie die Förderung von Kindern im Elementarbereich. Vor diesem Hintergrund müssen Kindertageseinrichtungen (Kitas) - neben den gesellschaftlichen und demografischen Veränderungen - immer häufiger auch auf politische Forderungen reagieren. Die Politik strebt zwar ein quantitativ ausreichendes Angebot an, die qualitativen Standards werden jedoch vernachlässigt.
Schon längst haben sich die Kitas bundesweit auf den Weg gemacht, die Anforderungen aus den landesspezifischen Bildungsplänen für den Elementarbereich konzeptionell aufzugreifen und umzusetzen. Dennoch müssen sie sich ständig neuen politischen, gesellschaftlichen und familiären Erfordernissen stellen.
Die Kita als politisches Luftschloss?
Inzwischen wird aber mehr als deutlich, dass die vorhandenen personellen und institutionellen Voraussetzungen nicht ausreichen, um den gesetzlichen Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsauftrag in all seinen Facetten angemessen umzusetzen. Allein die aktuellen Forderungen sind kaum zu bewältigen. Dazu gehören unter anderem:
- die Planung von Bildungsangeboten, die die Entwicklungsbedürfnisse, die Lebenssituationen und die Bildungsinteressen der Kinder mit einbeziehen;
- regelmäßige, systematisch aufbereitete Entwicklungsgespräche mit Eltern;
- ein Qualitätsmanagement einschließlich regelmäßiger Evaluation der Umsetzung des institutionellen Auftrags;
- neue Verfahren zur Sicherung des Kindeswohls;
- die Intensivierung der Sprachförderung;
- eine nachhaltige Verstärkung der Kooperation mit der Grundschule;
- der flächendeckende Ausbau des Angebotes für Kinder unter drei Jahren;
- die Vernetzung mit der Kindertagespflege;
- neue Kooperationen mit den Trägern der Familienbildung;
- die Zusammenarbeit mit örtlichen Ämtern und lokalen Bündnissen.
Dies alles unter den gleichen Bedingungen wie vor 20 Jahren! Ohne eine wesentliche Verbesserung der personellen und strukturellen Rahmenbedingungen ist eine nachhaltige Umsetzung des gesetzlichen Erziehungs- und Bildungsanspruchs der Kinder nicht mehr zu realisieren, geschweige denn zu garantieren. Zu klären ist, wie sich die Bundesregierung und die Länder in ihrer jeweiligen Verantwortung an diesen offensichtlich entstehenden Bildungskosten beteiligen werden.
Frühe Bildung hat ihren Preis
Die gestiegenen Qualitätsanforderungen haben ihren Preis, der bisher kaum berücksichtigt wurde. Wer "Bildung von Anfang an" meint, der sollte auch nachhaltig in deren Grundlagen investieren. Zum Wohl der Kinder bedarf es eines politischen und gesellschaftlichen Konsenses, in dem sich Entscheidungsträger gemeinsam für gerechte Bedingungen für das Aufwachsen der Kinder einsetzen.
Vor diesem Hintergrund hat die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (LAG FW) Niedersachsen in diesem Jahr eine Kampagne unter dem Motto "Kinder sind mehr wert" durchgeführt. Darin wurde eine Verbesserung der gesetzlichen Vorgaben für die Erziehungs- und Bildungsarbeit in den Kitas gefordert.
Forderung 1: Maximale Fachkraft-Kind-Relation / minimale Gruppengröße
Bei der Altergruppe von einem bis drei Jahren sollte ein(e) Erzieher(in) für vier Kinder da sein, die Gruppen sollten höchstens zwölf Kinder umfassen. Bei den Drei- bis Sechsjährigen sollte eine Erzieherin höchstens acht Kinder betreuen, wobei eine Gruppe aus höchstens 15 Kindern bestehen sollte.
Forderung 2: Verbindliche Bereitstellung mittelbarer pädagogischer Arbeitszeit
Mittelbare pädagogische Arbeitszeit sind die Stunden der sogenannten Vor- und Nachbereitung für die unmittelbare pädagogische Arbeit mit den Kindern. Dazu gehören aber auch die Elternarbeit, Vernetzung und Fortbildung. Die mittelbare pädagogische Arbeitszeit ist von zurzeit 10 Prozent auf 20 Prozent der derzeitigen jährlichen Arbeitszeit zu erhöhen.
Forderung 3: Angemessene Freistellung für Leitungsaufgaben
Nur mit Führungskräften, die sich den organisatorischen, strategischen und konzeptionellen Aufgaben umfassend widmen können, werden Kitas als leistungsfähige Unternehmen bestehen. Ab 60 genehmigten Kindergartenplätzen ist die volle Freistellung der Leitung erforderlich; unterhalb dieser Marke eine anteilige Freistellung für die Leitungskräfte.
Forderung 4: Aufwertung der Raumstandards
Die Größe der Gruppenräume ist so zu bemessen, dass jedem Kind vier Quadratmeter im Elementarbereich und sechs Quadratmeter in den Krippen zur Verfügung stehen. Um in Kitas dauerhaft ein hochwertiges Raumangebot gewährleisten zu können, sind neben den Investitionen für Neubauten ausreichende Mittel für Sanierung und Instandhaltung vorzusehen.
Forderung 5: Gute Qualifikation der Fachkräfte
Um den ständig wachsenden und höchst differenzierten Anforderungen gerecht zu werden, müssen die pädagogischen Fachkräfte in einer Kita mindestens eine Qualifikation als Erzieherin haben.
Forderung 6: Gewährleistung von Fachberatung
Um eine qualifizierte und prozessbegleitende Fachberatung sicherstellen zu können, sollte eine Fachberatungsstelle für maximal 50 Einrichtungen zuständig sein.
Qualität und Platzkapazität müssen gleichzeitig steigen
Je günstiger die Fachkraft-Kind-Relation, je kleiner die Gruppen, je besser das Ausbildungsniveau der pädagogischen Fachkräfte und je mehr Zeit für Vor- und Nachbereitung der Angebote zur Erziehung und Bildung für die Kinder zur Verfügung steht, desto besser sind die Qualität der pädagogischen Prozesse und die individuelle kindbezogene Förderung. Deshalb muss die Debatte um den quantitativen Ausbau der Betreuung dringend um eine fachliche Diskussion über die Qualität ergänzt werden. Dabei ist der Fokus verstärkt auf die Rahmenbedingungen für die Erziehungs- und Bildungsarbeit in Kindertageseinrichtungen zu richten.
Für die in Niedersachsen zusammengeschlossenen Wohlfahrtsverbände sind definierte Basis-Standards eine notwendige Voraussetzung für eine qualitätsorientierte pädagogische Arbeit. Sie müssen alle Aspekte der Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsleistung in Kitas umfassen.
Auch Inklusion ist nicht umsonst zu haben
Zusätzlich müssen weitere Faktoren berücksichtigt werden wie spezielle Förderbedarfe von behinderten oder von Behinderung bedrohten Kindern, besondere Lebenslagen sowie sozialräumliche Bedingungen und die Gewährleistung einer möglichst hohen Beziehungskontinuität für die Kinder. Diesbezüglich hat sich die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege gegenüber dem Land Niedersachsen mit der Forderung nach Umsetzung des Inklusionsgedankens positioniert (Download-Möglichkeit unter: www.lag-fw-nds.de, Rubrik "Stellungnahmen", Eintrag vom 2. 11. 2009).
Die Auseinandersetzungen auf Landesebene haben begonnen. Dabei sind Kultusministerium, Kommunale Spitzenverbände und Freie Träger meilenweit entfernt von einer Einigung auf den Fokus der inklusiven Erziehung und Bildung von Kindern in Krippen. Das Ministerium steht jedoch unter politischem Druck, Formen der gemeinsamen Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindern mit und ohne Behinderung im Alter von unter drei Jahren in Krippen zu finden und landesweit umzusetzen. Welche Auswirkungen das schon 2010 haben wird, bleibt abzuwarten.
Vielzahl von Kampagnen muss zu denken geben
Ganz offensichtlich ist nicht nur Niedersachsen zu der Auffassung gelangt, dass die Rahmenbedingungen in den Kitas im Vergleich zu den Anforderungen schon längst nicht mehr stimmen. Wer mit offenen Augen durch die sozialpolitische Landschaft in Deutschland reist, erkennt, dass die Erzieher(innen) mit ihrer Arbeitskraft am Ende sind und so manchem Träger die Fürsorge für seine Mitarbeiter(innen) kaum mehr gelingt.
Während in Bundesländern wie Bayern und Nordrhein-Westfalen gegen offensichtliche Verschlechterungen der neu aufgelegten Kitagesetze zu kämpfen war und ist, haben sich die Ligen der freien Wohlfahrtspflege in verschiedenen Bundesländernin den letzten zwei Jahren fast zeitgleich formiert und ihre Kampagnen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen in Kitas gestartet:
- Hessen: "Entdecker voraus"
- www.entdecker-voraus.de
- Niedersachsen: "Kinder sind mehr wert"
- www.kinder-sind-mehr-wert.de
- Brandenburg: "Kita ist Bildung. Erst gut für mich, dann gut für dich"
- www.kita-ist-bildung.de
- Thüringen: "Sechs Minuten sind zu wenig"
- www.6minutensindzuwenig.de
- Mecklenburg-Vorpommern: "Qualität kostet Zeit"
- www.qualitaet-kostet-zeit.de
- Kita-Bündnis Baden-Württemberg: "Seiltanz auf der Großbaustelle"
- www.kita-buendnis.org
Gleichzeitig wurden Kampagnen für bessere Bildung (Hamburg: "Kita - weil wir’s wissen wollen") sowie für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Erzieherinnen (Verdi) gestartet. Die Unterschiede sind für die Öffentlichkeit nur schwer zu erkennen, richtet sich doch der Fokus bei den Kampagnen für Rahmenbedingungen und Bildung auf das Kind, bei den anderen jedoch auf die Erzieherin. Allein das Phänomen der Vielzahl an Kampagnen müsste den Entscheidungsträgern doch zu denken geben: Wo gibt es derartig viele Bündnisse in einem Fachbereich zu ähnlichen Problemstellungen, bei denen sich die Verbände übergreifend einig sind? Diese müssen bundesweit geballt in der Politik auf allen Ebenen thematisiert werden. Dabei darf neben den Ebenen der Kommunen und der Länder die Diskussion um Kampagneninhalte, Forderungen und Möglichkeiten der Umsetzung auf der Bundesebene nicht fehlen. Nur über diesen politischen Weg gelingt auf Dauer eine bessere gesellschaftliche Verständigung zum Wohl der Kinder.
Die Koalitionsverhandlungen haben gezeigt, dass offensichtlich Geld für den Bereich der frühkindlichen Erziehung und Bildung in Deutschland vorhanden ist. Deshalb muss die Zeit der kategorischen Verweigerung mit dem Hinweis auf fehlende Finanzierungsmöglichkeiten endlich vorbei sein. Es bedarf entschiedener Schritte und keiner Sonntagsreden mehr. Klar ist, dass das jeweilige Bundesland und die Kommunen mit dem flächendeckenden Ausbau von Krippen sehr belastet sind. Aber es hilft nichts, eine bauliche Infrastruktur zu schaffen und gleichzeitig personell ein kollektives Burn-out zu produzieren.
Es geht hier nicht einfach um verbesserte Arbeitsbedingungen für Erzieherinnen, es geht um die Zukunft unserer Gesellschaft. Die finanzielle und zeitliche Entlastung von Eltern ist das Eine, eine gute Betreuung und Bildungsbegleitung der Kinder ist das Andere. Beides ist nötig - aber nur in den quantitativen Ausbau von Kinderbetreuung zur Entlastung der Eltern wird bisher investiert.
Damit aus den guten Chancen, die alle Kinder mitbringen, keine verpassten Gelegenheiten werden, ist eine bundesweite Allianz ist dringend notwendig. Denn die Qualität der Kita-Arbeit zur frühen Bildung hängt entscheidend von deren Rahmenbedingungen ab. Paradoxerweise wurde gerade aus Sorge, die Weiterentwicklung könnte blockiert werden, viel zu lange geschwiegen und immer wieder versucht, den aktuellen Anforderungen gerecht zu werden.
Jetzt müssen die Kitas mit ihren Verbündeten in den Verbänden, in den Gewerkschaften und den Erzieher(innen)-vereinigungen tätig werden. Sie müssen Unterstützung durch Universitäten und wissenschaftliche Institute einfordern und sich mit allen vernetzen, die sich dem Wohl und der Bildung von Kindern verbunden fühlen und vehement dafür eintreten - damit auf die zahlreichen politischen Reden auch absehbar Taten folgen.