Humanitäre Hilfe darf nicht zum Instrument der Politik werden
Menschen in Not zu helfen, ist ein universales und über die Grenzen von Religionen und Weltanschauungen gültiges ethisches Gebot. Doch guter Wille allein, egal ob gespeist aus einer religiösen oder humanistischen Motivation, reicht nicht aus. „Barmherzigkeit braucht Qualität“ – so lautet der Titel einer Publikation von Caritas international über die humanitäre Hilfe. Wie aber kann Professionalität im Kontext der humanitären Hilfe definiert werden? Ein gemeinsames Grundverständnis darüber ist unter den humanitären Akteuren keineswegs vorhanden. Auch die wissenschaftliche Debatte ist bisher eine überzeugende Definition schuldig geblieben. Die folgenden Ausführungen gehen davon aus, dass professionelles Handeln in der humanitären Hilfe drei Dimensionen hat: eine operative, eine ethische und eine politische.
Hilfe, die Helfer kommen?
Humanitäre Hilfe findet heute in einem komplizierten Gefüge von Notlagen, gewaltsamen Konflikten, konkurrierenden Hilfsangeboten, Geberinteressen und politischen Kalkülen statt. Hilfsorganisationen sehen sich mit immer höheren Anforderungen an ihre operativen und administrativen Kompetenzen zur Durchführung humanitärer Hilfsprogramme konfrontiert. Öffentliche Geldgeber setzen immer neue Normen und Standards für das Projektmanagement und für die Koordination im internationalen Verbund. Die Gefahr besteht, dass Professionalität zunehmend an diesen operativen Kompetenzen und Qualitätsstandards gemessen wird. Zu befürchten ist auch, dass zukünftig Akteure das Feld der humanitären Hilfe beherrschen, die zwar hohe Standards hinsichtlich der handwerklich-technischen Durchführungskompetenzen garantieren können, denen aber die ethischen und politischen Implikationen von Professionalität in der humanitären Hilfe gewissermaßen artfremd sind, weil sie außerhalb ihres institutionellen Selbstverständnisses liegen. Gerade diese beiden Dimensionen sind aber für professionelles Handeln in der humanitären Hilfe elementar und unverzichtbar.
Die operative Dimension
Mit der operativen Dimension von Professionalität in der humanitären Hilfe sind die technisch-handwerklichen Fähigkeiten und Erfahrungen gemeint, die humanitäre Organisationen für ihre Arbeit benötigen, also Strukturen, Verfahren, Personal- und Sachausstattung sowie technische Standards. Diese sind notwendig, um schnelle, bedarfsgerechte und wirksame Hilfe in humanitären Notlagen leisten zu können. Voraussetzung für eine professionelle Reaktions- und Handlungsfähigkeit in Krisen und Katastrophen sind angemessene Organisationsstrukturen, eine gute internationale Vernetzung und Koordination, qualifiziertes Personal, technische Ausstattungen wie Fahrzeuge und Kommunikationsmittel und kurzfristig verfügbares Geld.
Die Beachtung internationaler Qualitätsstandards, wie sie im Rahmen des Code of Conduct (Verhaltenscodex) oder des Sphere Projects (eine Art Qualitätsmanagement für Nichtregierungsorganisationen) formuliert sind, ist hier ebenso zu erwähnen wie Schnelligkeit und Qualität als Schlüsselbegriffe in der Diskussion um die humanitäre Hilfe. Diese stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander – Schnelligkeit geht in der Regel zulasten der Qualität, gute Qualität braucht Zeit und steht damit im Widerspruch zum gebotenen schnellen Handeln in Notsituationen.
Die ethische Dimension
Humanitäre Hilfe ist als sittliches Gebot und Ausdruck zwischenmenschlicher Solidarität über alle Grenzen hinweg gültig und hat sich ethischen Prinzipien und Grundsätzen verpflichtet, die das humanitäre Handeln bestimmen. Das sind zunächst die Grundprinzipien der Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit. Eine ethische Professionalität humanitärer Hilfe muss sich an diesen Mindestanforderungen messen lassen. Insbesondere mit dem Prinzip der Unabhängigkeit dürften solche Akteure ihre Not haben, die nicht primär ein humanitäres, sondern ein politisches oder militärisches Mandat haben, die aber trotzdem Hilfeleistungen erbringen.
Eine Ethik der humanitären Hilfe beinhaltet aber mehr als die individuelle oder kollektive Verpflichtung zur Hilfeleistung die Einhaltung der grundlegenden Prinzipien. Sie richtet ihr Augenmerk auch auf das Verhältnis des Helfenden zu den Betroffenen einer Katastrophe. Welches „Opferverständnis“ des Helfers wird aus seinen Handlungsmustern erkennbar? Auch notleidende Menschen sind Subjekte ihres Handelns mit eigener Würde und der Fähigkeit, ihr Leben selbst zu gestalten. Humanitäre Hilfsorganisationen pflegen gerne das Bild vom weißen, omnipotenten Helfer, der eingeflogen kommt und die Dinge in die Hand nimmt, während die hilflosen einheimischen Opfer verzweifelt auf die Ankunft der Hilfe warten. Erfahrene Katastrophenhelfer wissen, dass die ersten Hilfsmaßnahmen von den Betroffenen selbst und von lokalen Kräften eingeleitet werden und dass es oft Tage dauert, bis die ersten internationalen Helfer eintreffen. Zur ethischen Professionalität gehört also auch, die eigenen Grenzen und Möglichkeiten einzugestehen und keine falschen Opferbilder oder überhöhten Heldenmythen zu pflegen.
Mangelnde ethische Professionalität kommt auch zum Ausdruck, wenn Hilfsorganisationen, häufig getrieben durch erfolgshungrige Medien oder im Konkurrenzwettlauf mit anderen spendensammelnden Organisationen, sich an einem Profilierungswettbewerb um schnelle Erfolge, Vorzeigeprojekte und Medienaufmerksamkeit beteiligen. Gerade bei Großkatastrophen ist oft eine Hysterie zu beobachten, gepaart mit einem zwar gut gemeinten, aber dennoch blinden und kontraproduktiven Aktionismus, geschürt von einer nachrichtensüchtigen Presse, die über schnelle und sichtbare Ergebnisse des Wiederaufbaus berichten will.
Die Wahrhaftigkeit gegenüber Spendern und Hilfeempfängern, der sorgsame Umgang mit anvertrauten Geldern – wozu auch die Bekämpfung von Korruption gehört –, Transparenz und Rechenschaftslegung, all dies sind wichtige Aspekte ethischer Professionalität. Es sind hohe Anforderungen, die an die Organisationskultur der Hilfsorganisationen gestellt werden.
Die politische Dimension
Professionelle humanitäre Hilfe zeichnet sich schließlich auch dadurch aus, dass sie die politische Dimension des eigenen Tuns erkennt und Tendenzen der politischen Vereinnahmung und Instrumentalisierung widersteht. Humanitäre Hilfe muss zwar unabhängig von politischen Interessen agieren, findet aber keineswegs in einem politischen Vakuum statt. Eine zunehmende Politisierung der humanitären Hilfe lässt sich durchaus im Blick auf die Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte konstatieren. Darauf deutet unter anderem schon die problematische Verknüpfung von militärischen Interventionen und humanitärer Hilfe im Begriff der „humanitären Intervention“ hin.
Die anfangs erwähnten Grundprinzipien der humanitären Hilfe – insbesondere die der Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Neutralität – werden zunehmend aufgeweicht durch Bestrebungen, die humanitäre Hilfe als Instrument außen- und sicherheitspolitischer Erwägungen zu sehen. Auch wenn diese Entwicklungen mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten versehen werden – im Kontext der Vereinten Nationen wird von „Integrierten Missionen“2, in NATO-Kreisen vom „Konzept der vernetzten Sicherheit“ gesprochen – gemeint ist immer, dass neben den politischen und militärischen Instrumenten der Krisenbewältigung auch humanitäre Hilfe, Wiederaufbau und Entwicklung eingebunden und auf ein gemeinsames politisches Ziel ausgerichtet werden sollen. In diese Richtung zielt auch der verstärkte Einsatz staatlicher Durchführungsorganisationen in der humanitären Hilfe wie Zivilschutz und Militär. Ein besonderer Sündenfall der Verletzung des Neutralitätsgedankens der humanitären Hilfe ist der Einsatz von Streitkräften in der humanitären Hilfe, wenn diese gleichzeitig ein politisches Mandat und eine militärische Aufgabe haben.
Professionell operierende Hilfsorganisationen müssen in der Lage sein, neben plumpen und direkten Umarmungsversuchen auch subtile Formen der politischen Vereinnahmung oder Instrumentalisierung zu erkennen und abzuwehren. Humanitäre Hilfe findet zunehmend in komplexen Situationen statt, die sich zum Beispiel durch schwache oder fehlende Regierungen, unklare und wechselnde Konfliktlinien, zunehmende Unsicherheit für die Helfer (Anschläge, Entführungen) auszeichnen. Deshalb ist eine sorgfältige politische Analyse erforderlich, um die möglichen Fallstricke zu erkennen: Welche Interessen verfolgen die Geldgeber? Folgen sie wirklich nur dem humanitären Imperativ oder fördern sie durch gezielte Selektion der Begünstigten oder der geförderten Regionen politisches Wohlverhalten? Wer beeinflusst im Empfängerland die Verteilung der Hilfsgüter? Wird die Hilfe benutzt, um zum Beispiel politische Ziele (Wahlkampf) zu verfolgen?
Die politischen Fallstricke sind vielfältiger Natur: Sie reichen von der Zuteilung der Mittel für humanitäre Hilfe durch die staatlichen Geber bis hin zur Frage, ob durch die Gewährung von Nothilfe lokale Regierungen möglicherweise aus ihrer Pflicht entbunden werden, der eigenen notleidenden Bevölkerung zu helfen, statt Prestigeprojekte oder Rüstungsausgaben zu finanzieren.
Die Anforderungen an die Professionalität steigen
Professionelle humanitäre Hilfe muss handwerklich solide, politisch unabhängig und ethisch motiviert sein. Sie muss immer die drei Dimensionen der Professionalität umfassen, sonst greift sie zu kurz. Humanitäre Hilfe ist darüber hinaus weder Ersatz für gescheiterte Politik noch Tummelplatz für notorische Gutmenschen, sondern ein schwieriges und verantwortungsvolles Tätigkeitsfeld für professionelle und erfahrene Organisationen und ihre Helferinnen und Helfer.
Der Bedarf an humanitärer Hilfe wird weiter steigen. Dazu tragen globale Entwicklungstrends wie die Zunahme der Weltbevölkerung von jetzt 6,7 Milliarden auf mindestens neun Milliarden bis 2050 und die damit voraussichtlich einhergehende Verknappung von Nahrungsmitteln mit verschärften Verteilungskämpfen und Hungerkatastrophen bei. Die beginnende Rezession der Weltwirtschaft, der Klimawandel und die zunehmende globale Erderwärmung, die Verknappung fossiler Brennstoffe wie Kohle und Erdöl sind weitere Faktoren, die dazu beitragen können, die Zahl, Heftigkeit und Dauer gewaltsamer Konflikte, humanitärer Krisen und Katastrophen zu erhöhen.
Selbst wenn man diese pessimistischen Zukunftsprognosen nicht teilt, so ergeben sich auch heute schon besondere Herausforderungen für die humanitäre Hilfe, aus der Tatsache, dass die Helfer zunehmend mit langandauernden Krisen zu tun haben sowie mit einer zunehmenden Gewalt gegen die Zivilbevölkerung und humanitäre Helfer.
Hilfsorganisationen tragen zur Friedenssicherung bei
Die Anforderungen an wirklich professionelle humanitäre Hilfe werden also steigen. Gleichzeitig drängen verstärkt Akteure in die humanitäre Hilfe, die aus einer nicht von der humanitären Hilfe geprägten professionellen Tradition kommen, wie etwa Feuerwehr, Zivilschutzorganisationen oder Militär. Diese Organisationen und ihre Protagonisten betrachten humanitäre Hilfe als vorwiegend logistische beziehungsweise technische Aufgabenstellung und messen ihre Qualität ausschließlich daran, wie schnell und effizient Versorgungsgüter, Wasser, Unterkunft, Medizin zu den akut Bedürftigen gebracht werden können. Es besteht die Gefahr, dass zivilgesellschaftliche Organisationen an den Rand gedrängt werden zugunsten von technisch und operativ gut ausgestatteten „Hightechorganisationen“, die mit viel Geld, ausgefeilter Technik und hohem Know-how technisch perfekte Hilfsprogramme organisieren können.
Die größten Fallstricke dürften aber im Feld der politischen Professionalität liegen. Das Bild von der unpolitischen humanitären Hilfe, die sich nicht einmischt, sondern einfach nur zupackt und den hilflosen Opfern hilft, wird zwar in der Öffentlichkeit noch gerne gepflegt, stimmt aber schon längst nicht mehr. Humanitäre Hilfe darf nicht zum Instrument der Politik werden, schon gar nicht zum Instrument der Terrorismusbekämpfung. Sie muss ihre eigenständige und unabhängige Rolle erhalten. Es darf nicht, auch nicht begrifflich, zu einer Verwischung zwischen militärischen Mitteln und Maßnahmen und humanitärer Hilfe kommen. Und schließlich: Es ist auch die Aufgabe der humanitären Organisationen, immer wieder deutlich zu machen, dass Krisen und Konflikte sich nicht allein mit militärischen Mitteln lösen lassen. Kosovo, Afghanistan und Irak stehen als Beispiele für die Schwierigkeiten, jenseits des militärischen Einsatzes zu einer wirklich nachhaltigen Friedenssicherung zu kommen.
Anmerkungen
1. Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Vortrags anlässlich der World Conference of Humanitarian Studies im Februar 2009 in Groningen, Holland.
2. Vlg. Pietz, Tobias; Burghardt, Diana: Integrierte Missionen der Vereinten Nationen : Liberia, ein Prototyp? In: Wissenschaft & Frieden 4/2006: Zivil-militärische Zusammenarbeit.