Jedem Patienten gerecht werden - mit Hilfe einsehbarer Kriterien
Das Thema Rationierung von Gesundheitsleistungen bewegt die Gemüter. Der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, forderte im vergangenen Jahr bei der Eröffnung des Ärztetages in Ulm, dass Rationierung medizinischer Leistungen ein Wahlkampfthema werden müsse. In Deutschland fände eine heimliche Rationierung statt. Aus seiner Sicht sei Rationierung unumgänglich, sie müsse aber transparent erfolgen. Hoppe tritt für eine Priorisierung von Gesundheitsleistungen nach Patientengruppen und Krankheiten ein und fordert einen Gesundheitsrat, der dafür Kriterien entwickelt. Kaum hatte Hoppe diese Äußerungen gemacht, wurde er mit schwersten Vorwürfen konfrontiert. Diese jüngste Debatte ist kennzeichnend für den tabuisierenden Umgang mit dem Thema Rationierung in Deutschland. Eine offene Debatte über das Thema findet nicht statt beziehungsweise wird meistens sehr schnell unterbunden. Gleichwohl berichten immer häufiger Patient(in-n)en darüber, dass sie Rationierung im ärztlichen Sprechzimmer oder im Krankenhaus erleben.
Der Rationierungsbegriff wird sehr unterschiedlich verwendet - von der reinen Verteilung bis zur Vorenthaltung von Leistungen. Rationierung bedeutet, dass notwendige medizinische oder pflegerische Leistungen vorenthalten werden. Rationalisierung heißt hingegen, dass Wirtschaftlichkeitsreserven ausgeschöpft werden. Priorisierung meint eine Prioritätensetzung beziehungsweise Auswahlentscheidung bei Gesundheitsleistungen. Zu unterscheiden ist zwischen impliziter, also verdeckter, und expliziter Rationierung nach transparenten Kriterien. Die Gründe für Rationierung sind vielfältig.
Die Gesundheitssysteme der westlichen Industrienationen bieten einen hohen medizinischen Standard und entwickeln sich durch den medizinischen Fortschritt permanent weiter. Gleichzeitig steigt die Nachfrage nach medizinischen Leistungen. In allen Gesundheitssystemen wurden Steuerungseingriffe zur Kostendämpfung vorgenommen. Trotzdem konnten die Gesundheitssysteme bislang keine großen Fortschritte in der Kostensenkung erreichen. Gleichwohl sind in jedem Gesundheitssystem Fehlanreize sowie Über- und Unterversorgung von bestimmten Patientengruppen zu beobachten. Es bestehen also noch deutliche Optimierungs- und Rationalisierungsreserven. Jedoch sind sich die meisten Expert(inn)en darüber einig, dass die Gesundheitssysteme unabhängig von ihrer jeweiligen Finanzierungsart und ihren Strukturen vor der Notwendigkeit stehen, schon jetzt, aber erst recht zukünftig die knappen Ressourcen zuzuteilen und zu rationieren. In einigen Staaten wurden Modelle der Prioritätensetzung entwickelt. Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer hatte bereits im Jahr 2007 Vorschläge zu einem ähnlichen Prozess der Prioritätensetzung gemacht.1 Diese sind in der Politik jedoch bislang nur auf sehr wenig Resonanz gestoßen.
Rationierung ist in Europa verbreitet
Der Nachweis von Rationierung von Gesundheitsleistungen ist in den verschiedenen westlichen Gesundheitssystemen unterschiedlich gut möglich. Vergleichende Studien wie beispielsweise von S. Hurst et al. zeigen, dass in verschiedenen Gesundheitssystemen in Europa Rationierung auftritt. Die Studie wurde in der Schweiz, Italien, Norwegen und Großbritannien mit Internisten durchgeführt.2 56,3 Prozent der befragten Mediziner(innen) sagten aus, dass sie bereits Gesundheitsleistungen rationiert haben. Wie sieht es in Deutschland aus?
Im deutschen Gesundheitswesen sind seit Jahren vielfältige Steuerungseingriffe zur Kostendämpfung zu beobachten. Daraus ergeben sich folgende Effekte für die Leistungserbringer: Wirtschaftlichkeitsdruck, verstärkter Wettbewerb, Rationalisierungsmaßnahmen sowie Aussagen über implizite Rationierungsphänomene.
Krankenhäuser müssen ihre Wirtschaftlichkeit gegenüber den Kostenträgern nachweisen und sind so zur effizienten Leistungserstellung verpflichtet. Ein zentrales Element der Steuerungsmaßnahmen ist die Budgetierung einzelner Leistungsbereiche. Die Einführung von DRGs (Diagnosis Related Groups) hat die Situation in den Krankenhäusern dahingehend verändert, dass die Leistungserbringung nicht mehr vornehmlich auf Basis von Tagespauschalen erstattet wird. Krankenhausärzte sind somit indirekt in die Budgetverantwortung eingebunden, sie müssen bei ihren Entscheidungen in der Patientenversorgung die Vorgaben des Budgets beziehungsweise Fallzahlen berücksichtigen. Daraus ergeben sich diverse Effekte für die stationäre Patientenversorgung. Dazu gehören die Erhöhung der Leistungsdichte, die Verkürzung der Verweildauer, die Verlegung behandlungsaufwendiger Patient(inn)en in andere Krankenhäuser, ihre frühere und häufigere Verlegung in Rehabilitationseinrichtungen sowie die Verschiebung von Leistungen auf den ambulanten Sektor.
Personalabbau auf dem Rücken der Patienten
In den Krankenhäusern wurden insbesondere in der Pflege viele Stellen abgebaut, weil aufgrund des Arbeitszeitgesetzes zusätzliche Arztstellen geschaffen werden mussten. Der Rationierungsdruck trifft deshalb insbesondere die Pflegekräfte. Es gibt in der Praxis vielfältige Überlastungsanzeigen aus der Pflege und Rückmeldungen, dass eine bedarfsgerechte Pflege der Patient(inn)en auf vielen Stationen nicht mehr möglich sei. In diesem Sinn kann die Verknappung der Personalressourcen als implizite Rationierung bezeichnet werden. Ein aktuelles Beispiel: Eine Patientin wurde nach einer OP nach wenigen Tagen mit Drainagen und damit mit einer hohen Infektionsgefahr aus dem Krankenhaus entlassen, weil die Station über Ostern zu wenig Pflegepersonal hatte und geschlossen wurde.
Im ambulanten Bereich werden für die einzelnen Ärzt(inn)e(n) Richtgrößen für Arzneimittelausgaben festgelegt. Überschreiten die Arzneimittelverordnungen des Arztes die vorgesehenen Richtgrößen, muss er Regress zahlen. Dieser wird ihm von seinem Honorar abgezogen. Er ist also allein schon aus betriebswirtschaftlichen Gründen gezwungen, seine Entscheidungen in der Patientenbehandlung auch an diesen Vorgaben zu orientieren. Häufig wird berichtet, dass Patient(inn)en mitgeteilt wird, dass sie bestimmte notwendige medizinische Leistungen selbst zahlen müssen, weil diese nicht von der Krankenversicherung getragen werden. Oder sie erhalten die Mitteilung, dass sie die Leistung erst im nächsten Quartal erhalten, weil die Pauschale, die der niedergelassene Arzt pro Quartal und Patient erhalte, so gering sei. Ein Beispiel aus der Praxis: Einer gesetzlich versicherten Patientin wurde von ihrem Augenarzt nach einer Netzhautuntersuchung zu Beginn des Quartals mitgeteilt, dass sie die notwendige Sehnervuntersuchung aus kostentechnischen Gründen erst im nächsten Quartal erhält. Die Folge davon sind monatelanges Warten und Verunsicherung.
Trotz vieler Praxisberichte ist der empirische Nachweis von Rationierungserscheinungen im deutschen Gesundheitswesen bislang schwierig. Es existieren nur wenige Studien zu dieser Frage.3
In einer aktuellen repräsentativen Umfrage unter Krankenhausärzt(inn)en in der Intensivmedizin und Kardiologie gaben 68 Prozent der Ärzte an, Patienten nützliche Maßnahmen aus Kostengründen vorenthalten zu müssen. Nur wenige geben allerdings an, dass dies häufig vorkomme. Insgesamt sehen die Befragten kaum noch Rationalisierungsreserven. Mehr als 50 Prozent der Befragten fordern zusätzliche finanzielle Mittel für das Gesundheitswesen durch höhere Krankenkassenbeiträge oder einen höheren finanziellen Eigenanteil der Patienten.4
Der ethische Diskurs über Rationierung
Im deutschsprachigen Raum wird das Thema Rationierung seit circa 15 Jahren in der Ethik intensiv diskutiert. Es wurden Konzepte aus der Sicht verschiedener Gerechtigkeitstheorien und Kriterien für die gerechte Ressourcenverteilung und Rationierung entwickelt.5 Der Rationierungsdiskurs wurde durch einen Priorisierungsdiskurs erweitert. Die verschiedenen Ansätze sind zumeist vorwiegend auf der Makroebene angesiedelt und berücksichtigen weniger die konkreten Akteure, Beteiligten und Kontexte der Verteilungspraxis. Grundsätzlich handelt es sich bei der Rationierung um eine ethische Frage, weil die Gesundheitsversorgung für den Menschen ein existenzielles Gut und eine wichtige Voraussetzung für die selbstbestimmte Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen ist.6 Eine gerechte Ressourcenverteilung erfordert eine mehrdimensionale ethische Betrachtung, weil die unterschiedlichsten Akteure und Handlungsebenen beteiligt sind.7 Hier wird die organisationsethische Dimension des Krankenhauses herausgegriffen, da diese in der ethischen Diskussion seltener beachtet und untersucht wird.8
Krankenhaus: bessere Rahmenbedingungen nötig
Krankenhäuser sind als Organisationen verpflichtet, vorrangig das Patientenwohl zu berücksichtigen. Daneben müssen sie sich auch am Mitarbeiterwohl orientieren. Eine durch Einsparungserfordernisse begründete einseitige Belastung des verbleibenden Personals ist aus organisationsethischer Sicht nicht vertretbar. Gleichzeitig kann aber das Krankenhaus als Organisation dieses Dilemma in vielen Fällen nicht selbst lösen. Im Sinne des Mitarbeiterwohls ist es daher notwendig, bei den Kostenträgern auf diese Problematik aufmerksam zu machen und sich im Zusammenschluss mit anderen Krankenhäusern für eine Veränderung der Rahmenbedingungen einzusetzen.
Wenn Rationierungsentscheidungen in der konkreten Patientenversorgung notwendig sind oder Verteilungskonflikte auftreten, dürfen diese nicht auf den Arzt/die Ärztin abgeschoben werden. Es gilt, den einzelnen professionellen Akteur (auch die Pflegekraft) von dieser Entscheidung zu entlasten. Die professionellen Akteure müssen auf gesellschaftlich und organisational legitimierte Kriterien zurückgreifen können. Das Krankenhaus steht in der Pflicht, Rationierungsnotwendigkeiten zu enttabuisieren. Der Patient muss die Möglichkeit haben, gegen diese Entscheidungen anzugehen. Bei einer impliziten Rationierung ist dies jedoch nicht möglich. Als einzelner Akteur ist das Krankenhaus mit der Gestaltung von ethisch begründeten Rationierungsregeln überfordert. Die Entscheidungen über solche Regeln müssen auf der Makroebene, also durch die Gesellschaft, getroffen werden. In der Umsetzung muss sich das einzelne Krankenhaus dann an den prozeduralen Verfahrensregeln und inhaltlichen Kriterien orientieren, die auf der Makroebene festgelegt werden. Grundsätzlich sollte das Krankenhaus als Organisation die Patient(inn)en und Mitarbeitenden über die Entscheidungsbedingungen in der Ressourcenverteilung informieren. Es sollten Strukturen und Gremien im Krankenhaus geschaffen werden, in denen strittige Fälle interdisziplinär diskutiert und abgewogen und Entscheidungsleitlinien für die Ressourcenverteilung unter Mitwirkung der Betroffenen entwickelt werden können.
In der Organisation sollten grundsätzlich Räume (zum Beispiel Ethikkomitee, offene Ethikcafés, ethische Fallbesprechungen) geschaffen werden, in denen sich Leitung, Mitarbeitende und Patient(inn)en über ethische Themen informieren und auseinandersetzen können. Vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips hat das Krankenhaus sich an höhere Ebenen zu wenden (zum Beispiel an die Kostenträger, politische Institutionen), wenn es organisationale und professionelle Konflikte, die aufgrund der Rahmenbedingungen entstehen, nicht allein lösen kann. Das Krankenhaus ist mit Blick auf das Patienten- und Mitarbeiterwohl sowie auf seine Verantwortung im Gesundheitswesen nicht berechtigt, diese Konflikte zu verschleiern, zu tabuisieren oder an die einzelnen Berufsgruppen zu delegieren. Ebenso ist es aus Patientensicht und im Sinne des effizienten Ressourceneinsatzes nicht zu rechtfertigen, wenn Krankenhäuser notwendige Leistungen auf andere Leistungserbringer abwälzen, indem sie etwa Patient(inn)en an andere Krankenhäuser abschieben oder frühzeitig entlassen. Selbstverständlich ist ein Krankenhaus im Einzelfall berechtigt, Patienten in ein anderes Krankenhaus oder eine ambulante Einrichtungen zu überweisen, wenn es beispielsweise aus Kostengründen nicht in der Lage ist, sie adäquat zu betreuen. Dieses Verhalten muss jedoch transparent erfolgen und darf nicht allein der Kostenreduktion und eigenen Entlastung dienen.
Verteilung von Ressourcen muss offen diskutiert werden
Grundsätzlich besteht die Gefahr, dass vulnerable Gruppen besonders schnell von Rationierung betroffen sind - seien es ältere, chronisch oder schwer kranke Menschen, Menschen mit Behinderung oder in schwierigen sozialen Lebenslagen. Es gibt keinen systematischen Überblick, ob es in Caritaseinrichtungen zu Rationierungserscheinungen kommt. Es werden deutliche Überlastungen insbesondere aus der Pflege und von Ärzt(inn)en berichtet. In der verbandlichen Caritas ist das Thema noch nicht breiter diskutiert worden.
Auf der politischen Ebene hat sich der DCV zu einzelnen ordnungspolitischen Fragen des Gesundheitswesens positioniert. Er setzt sich für eine nachhaltige Gestaltung der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung und eine umfassende Prävention ein. Viele soziale Problemlagen werden auf das Gesundheitswesen abgeschoben (zum Beispiel Vereinsamung). Erforderlich ist es, die sozialen Verhältnisse zu verändern und gesundheitserhaltende Lebensbedingungen zu fördern (Konzept der sozialen Gesundheit). Der DCV tritt für die Rechte von benachteiligten Menschen im Gesundheitswesen ein. Die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände könnten und sollten Räume schaffen, wo der dringend notwendige gesellschaftliche Diskurs über ein gerechtes Gesundheitswesen der Zukunft initiiert und geführt wird. Der DCV und der Katholische Krankenhausverband Deutschlands (KKVD) haben bereits eine gemeinsame Arbeitsgruppe gebildet, um das Thema "Gerechte Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen" weiterzubearbeiten.
Anmerkungen
1. Vgl. Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer zur Priorisierung medizinischer Leistungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). In: Deutsches Ärzteblatt 104/40 (2007), A-2750-2754.
2. Hurst, Samia A. et al.: Prevalence and Determinants of Physician Bedside Rationing : Data from Europe. In: Journal of General Internal Medicine 21/11 (2006), S. 1138-1143.
3. Strech, Daniel et al.: Ärztliches Handeln bei Mittelknappheit. Ergebnisse einer qualitativen Interviewstudie. In: Ethik in der Medizin 20/2 (2008), S. 94-109; Boldt, Joachim; Schöllhorn, Thilo: Rationierung ist längst Realität. Ergebnisse einer Fragebogenaktion auf deutschen Intensivstationen. In: Deutsches Ärzteblatt 105/19 (2008), A-995-997.
4. Vgl. Strech, Daniel et al.: Ausmaß und Auswirkungen von Rationierung in deutschen Krankenhäusern : Ärztliche Einschätzungen aus einer repräsentativen Umfrage. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 134/24 (2009), S. 1261-1266.
5. Siehe aktuelles Themenheft der sozialethischen Zeitschrift Amos international 2/2009.
6. Kostka, Ulrike: Gerechtigkeit im Gesundheitswesen und in der Transplantationsmedizin : Mehrdimensionale Handlungsfelder als systematische und normative Herausforderung für die Bioethik und Theologische Ethik. Basel, 2008.
7. Vgl. Kostka, Ulrike: Gerechtigkeit.
8. Kettner, Matthias; May, Arnd: Organisationsethik - Das nächste Paradigma im Gesundheitswesen? In: Brand, Angela et al. (Hrsg.): Individuelle Gesundheit versus Public Health? Jahrestagung der Akademie für Ethik in der Medizin e.V., Hamburg, 2001, Münster, 2002, S. 209-219.