Schlaganfall, Krankenhaus - und dann?
Herr Müller ist 82 Jahre alt. Bis zu seinem Schlaganfall lebte er mit seiner 79-jährigen Ehefrau in einem kleinen Siedlungshaus am Rande der Stadt: alles verwinkelt und unpraktisch klein, aber eben idyllisch und heimelig. Drei Söhne und eine Tochter leben mit ihren Familien in ganz Deutschland verteilt, der älteste Sohn wohnt rund 15 Kilometer entfernt am anderen Ende der Stadt. Frau Müller braucht seit ihrer Schenkelhalsfraktur vor zwei Jahren eine Gehhilfe. Wichtig war für das alte Ehepaar immer, alle "Herausforderungen des Schicksals" gemeinsam zu meistern.
Der Schlaganfall von Herrn Müller ist eine Katastrophe: Er ist halbseitig gelähmt, kann nur mit Hilfe aus dem Bett aufstehen und wenige Meter in Begleitung gehen. Hantieren mit rechts geht im Augenblick gar nicht. Er findet nicht mehr die Worte, der rechte Mundwinkel hängt und auch das Schlucken von Flüssigkeiten fällt noch schwer. Der Normalfall: Vier Tage Schlaganfallstation, acht Tage Normalstation, dann ist die Klinikzeit vorbei. Das war die Botschaft für das alte Ehepaar bereits am Aufnahmetag. Und dann?
Klinikzeit ist knapp bemessen
Wie soll Herr Müller mit all diesen Funktionseinschränkungen wieder nach Hause kommen? Die Zeit in der Klinik ist knapp bemessen. Woher soll Hilfe kommen? Pflegeversicherung beantragen? Geht es vielleicht mit Unterstützung der Sozialstation doch noch zu Hause? Sie wollten doch nie an ein Pflegeheim auch nur denken! Sie wollten doch bis ans Ende - egal, was komme - in ihrem Häuschen zusammenbleiben!
Seit 1. Januar 2004 werden in Deutschland Krankenhausleistungen nicht mehr nach Liegedauer, sondern nach sogenannter "DRG" (diagnosebezogener Fallgruppe) abgerechnet. Für einen mittelschweren Schlaganfall bei typischen Risikoerkrankungen, die keinen besonderen Behandlungsmehraufwand (wie zum Beispiel Demenz) verursachen, erhält ein Klinikbetreiber ein entsprechendes pauschales Entgelt. Das rechnet sich betriebswirtschaftlich umso mehr, je idealer hierfür die Verweildauer gestaltet werden kann: nicht zu kurz, dann wäre die Diagnose wohl nicht realistisch, nicht zu lang, dann wären Tage vielleicht verbummelt worden, an denen schon ein anderer Patient hätte gewinnbringend behandelt werden können. Ideal ist eine "mittlere Verweildauer", diagnostisch und therapeutisch voll ausgelastete Tage, in denen alles Notwendige abgehandelt wird.
Ziel dieser Abrechnungsform war die Ökonomisierung von Medizin, um über Wettbewerb und betriebswirtschaftliche Denkstrukturen die Kosten-Nutzen-Relation im Gesundheitswesen zu optimieren - letztlich um bei möglichst effizienter, qualitätvoller Behandlung dennoch Kosten einzusparen.
Anreize, früh zu entlassen
Weil mit dieser Neuordnung des Vergütungssystems im Gesundheitswesen vorhersehbar war, dass Anreize für möglichst frühe Entlassungen von Patienten aus der stationären Behandlung geschaffen würden, dass es zu "blutigen Entlassungen" kommen würde, sollte dieses Problem entsprechend kompetent und vorausblickend aufgefangen werden. Bereits 2002 stellte das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) einen "nationalen Expertenstandard für Entlassmanagement in der Pflege" vor1. Als hehres Ziel wurde darin formuliert: "Die (optimierte) Entlassung beginnt am Tag der Aufnahme." Es sollte "systematisch aus pflegerischer Perspektive dem Entstehen von Versorgungsbrüchen bei der Patientenentlassung (…)" entgegengewirkt werden.
Prinzipiell gut vorausgedacht, aber doch bereits im Vorhinein mit erwartbaren Problemen belastet: Verantwortlich für gelingende Entlassungen waren bisher die Sozialdienste der Kliniken. Definiert ist dafür sogar ein gesetzlicher Auftrag im Landeskrankenhausgesetz Baden-Württemberg. In § 31 Abs. 2 heißt es: "Der soziale Krankenhausdienst hat die Aufgabe sozial zu beraten und zu betreuen, insbesondere wegen der Hilfen, die (…) nach der Entlassung geboten sind. Der soziale Krankenhausdienst sorgt dafür, dass nach der Entlassung des Patienten die zu seiner Pflege, Nachsorge und Rehabilitation notwendigen Maßnahmen eingeleitet werden."
Letzte Verantwortung für die Entlassung eines Patienten aus der stationären Behandlung trägt zudem der behandelnde Arzt. Auch gibt es die Geriatrie und die Servicestelle der Krankenkasse mit ihren Hilfen zum Entlassmanagement. Verantwortlich für ein funktionierendes qualitätvolles Entlassmanagement sind so eigentlich alle im Team - mit allen Gefahren des Scheiterns durch redundante Delegationen und im optimalen Fall mit allen Chancen für patientenfreundliche und patientendienliche Synergieeffekte.
Insbesondere Patient(inn)en, die erwartbar auch in Zukunft bei ihren alltäglichen Aktivitäten unterstützt werden müssen, brauchen Entlassvorbereitungen. Kann sich ein(e) Patient(in) in allen persönlichen Aspekten selber organisieren und behelfen, zum Beispiel aus dem Bett aufstehen, sich waschen und anziehen, essen und trinken, auf die Toilette gehen und mobil sein, dann hat er/sie einen "Aktivitäten des täglichen Lebens" (ATL)-Score von 100 Punkten. Bleibt er/sie deutlich darunter, ergibt sich daraus Hilfebedarf, gegebenenfalls Rehabilitationsbedarf, und das Entlassmanagement muss anlaufen. Wie viel Hilfe für eine(n) Patienten/in vorbereitet werden muss, immer mit Blick darauf, größtmögliche Selbstbestimmung und Selbstständigkeit wiederzuerlangen, muss für alle Patient(inn)en - für die fitten jungen wie für die gebrechlichen alten - beantwortet werden. Dass junge Patient(inn)en wenig oder keine Unterstützung brauchen, ist in der Regel schnell geklärt.
Professionelles Entlassmanagement ist selbstverständlicher Leistungsanspruch aller Patient(inn)en, eine von den Krankenkassen finanzierte Leistung. Es ist im Interesse der Kostenträger, dass die poststationären Hilfebedarfe frühzeitig, angemessen, qualitätvoll und wirtschaftlich organisiert werden, um stationäre Wiederaufnahmen aufgrund ungenügender Vorsorge und Versorgung zu vermeiden. Für eine eventuell entstandene dauerhafte Pflegesituation wird der Finanzierungstopf gewechselt. Die gesetzliche Pflegeversicherung wird leistungspflichtig.
Besondere Herausforderungen im Entlassmanagement entstehen dann, wenn ein hilfebedürftiger, unter Umständen alter Patient keine Angehörigen als Ansprechpartner hat. Selbst dann müssen in bestmöglicher Übereinstimmung mit den individuellen Vorstellungen des Betroffenen, gegebenenfalls mit Hilfe eines bestellten gesetzlichen Betreuers, Entscheidungen getroffen werden: Wo geht das Leben unter welchen Bedingungen weiter? Augenmaß, Sensibilität, Behutsamkeit, Zeit und Fähigkeit zuzuhören sind nötig, um für alle Beteiligten akzeptable Lösungen zu erarbeiten.
Weil Entlassmanagement zu Recht mit hohem Qualitätsanspruch verknüpft ist, sollte ihm aus organisationsethischem Blickwinkel im Klinikbetrieb ein besonders privilegierter Stellenwert eingeräumt werden.
"Diagnostische Wohnraumbegehung" angeboten
Behandlungsqualität im optimalen Zeitfenster heißt das kostbare Gut. Dafür braucht es exzellente Überleitungen und perfektes Schnittstellenmanagement. Die Ärzt(inn)e(n), Therapeut(inn)en und Sozialarbeiter(innen) der Klinik haben dem Ehepaar Müller bereits am dritten Tag gesagt, Herr Müller solle im direkten Anschluss an den Klinikaufenthalt in Rehabilitation gehen.
Die Krankenkasse muss dem zustimmen und die Kosten übernehmen. Einen entsprechenden ärztlichen Rehaantrag auf Kostenübernahme legt sie in der Regel dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) vor.
Die Fachkraft für Pflegeüberleitung, die das Ehepaar Müller am vierten Tag besucht hat, hat von "postrehabilitativen Hilfen" gesprochen, von einem ambulanten Pflegedienst, aber auch von einem Pflegebett, von einem Toilettenstuhl und gegebenenfalls von einer "diagnostischen Wohnraumbegehung" zu Hause. All dies könnte mit ihrer Hilfe bereits im Vorfeld über die zu beantragende Pflegeversicherung eingeleitet werden. Es ist klug, auf jede Situation und jedes Reharesultat vorbereitet zu sein.
Die Arzt-Patient-/Arzt-Angehörigen-Gespräche müssen angemessen verständlich, vollständig und empathisch transportieren, was sich ereignet hat. Der Informationsaustausch im Team aus ärztlichem, therapeutischem und pflegerischem Dienst, die Informationsübergabe bei jedem Schichtwechsel muss ohne Reibungsverluste ablaufen, und alle Beteiligten sind gleichermaßen für ihr Gelingen verantwortlich. Die Organisationskontakte zur Krankenkasse, zum MDK, zur Rehaeinrichtung und zum ambulanten Pflegedienst müssen optimal gestaltet werden. Der Hausarzt sollte frühzeitig als umfassend informierte Schaltstelle mit im Boot sein.
Dass diese Schnittstellen und Überleitungen in der derzeitigen Kompression der Zeit und der Fülle der Aufgaben im Gesundheitswesen immer wieder misslingen, weil die Kompetenzen nicht gut genug geklärt sind und die Kommunikation nicht immer funktioniert, liegt fast in der Natur dieser komplizierten Sache.
Am vierten Kliniktag beginnt die Entlassung
Elf Tage nach seinem Schlaganfall wurde Herr Müller aus der Akutklinik in die wohnortnahe geriatrische Rehaklinik verlegt. Seine Entlassung begann sozusagen am vierten Tag nach Klinikaufnahme. Nach Gesprächen der Ärztin mit dem Patienten, seiner Frau und den Kindern, der nötigen Diagnostik und Therapieeinleitung war vom Sozialarbeiter ein Rehaantrag an die Krankenkasse und die Rehaklinik weitergeleitet worden. Die Pflegeüberleitung hatte nach Rücksprache mit dem Pflege- und Therapeutenteam, der Ärztin, dem Sozialarbeiter und natürlich dem Ehepaar Müller die nötigen Vorbereitungen für eine ambulante, postrehabilitative Pflege durch die Sozialstation organisiert.
Die Leistungen aus der Pflegeversicherung zu beantragen war an die Rehaklinik delegiert worden, um dem erwarteten und erhofften Rehaerfolg Raum zu geben. Die Krankenkasse hatte die Rehamaßnahme gewährt, um Pflegebedürftigkeit zu verhindern. Als Rehaziel hat Herr Müller für sich die Rückkehr nach Hause definiert, auch wenn die Sozialstation ihn täglich waschen müsste.
Wenn Herr Müller nicht auf die Unterstützung seiner Familie hätte vertrauen können, wenn er nach der Reha nicht wieder ins Siedlungshäuschen mit ambulanter Hilfe durch die Sozialstation hätte zurückkehren können, auch dann hätten tragfähige Lösungen kreiert werden müssen. Es gibt Kurzzeitpflegeeinrichtungen, zum Teil angeschlossen an den akutstationären Bereich der Kliniken, die zur zeitlichen Überbrückung "Gäste" aufnehmen, bis ein neuer Lebensort gefunden ist. Neben den Angeboten der stationären Heimpflege nehmen gerade im städtischen Bereich alternative Lebensformen für ältere und/oder pflegebedürftige, auch demente Menschen zu: Leben in Pflegefamilien und betreuten Senioren-WGs .
Wenn es dem Wunsch des Betroffenen entspricht, müssten von allen an der Überleitung Beteiligten Möglichkeiten für eine dauerhafte Präsenzpflegekraft zu Hause geprüft werden, legal, gerecht bezahlt und sozial versichert. Ob eine solche Hilfskraft aus dem europäischen Ausland oder aus Deutschland kommt, ist sekundär. Aber ohne menschenfreundliche, gerechte und legale Rahmenbedingungen wird ein solches Setting nicht dauerhaft erfolgreich sein können.
Individuelle Wünsche beachten
Am Ende steht die Frage, ob die individuellen Wünsche des/der Patienten/Patientin ausreichend beachtet wurden. Und wie kann sichergestellt werden, dass auch in Zukunft der Wille des entlassenen Patienten beachtet wird? Vielleicht sollten in Zukunft wesentliche ethische Überlegungen, die bei Krankheit und Hilfebedürftigkeit akut werden, Inhalt eines "ethischen Überleitbogens" sein, der Menschen über den Klinikaufenthalt hinaus sinnvoll begleitet.
Anmerkung
1. DNQP: Expertenstandard Entlassmanagement in der Pflege : Entwicklung, Konsentierung, Implementierung. Osnabrück, 2004. Der Expertenstandard war in der Pilotphase bereits im November 2002 publiziert.