Behinderte Menschen überfordern das Krankenhaus
Besorgniserregend mehren sich in jüngster Zeit die Hinweise, dass sich die Situation von Menschen mit schwererer geistiger und mehrfacher Behinderung, die stationär im Krankenhaus behandelt werden müssen, sehr verschlechtert. Die Probleme sind vielschichtig: erhebliche Pflegemängel während des Krankenhausaufenthaltes, personelle Unterstützungen von dritter Seite (Angehörige, Einrichtungen) als Bedingung für Krankenhausaufnahmen, vorfristige und schlecht vorbereitete Entlassungen. Diese Probleme sind nicht grundsätzlich neu, haben sich aber erwartungsgemäß seit Einführung des fallgruppenbezogenen Vergütungssystems (sogenannte DRGs: Diagnosis Related Groups) der stationären Krankenhausleistungen im Jahre 2004 erheblich verschärft.
Bedauerlicherweise ist weder seitens der Krankenkassen noch seitens der Sozialhilfekostenträger die Bereitschaft zu erkennen, zur Lösung des komplexen Problems beizutragen. Beide Seiten richten - natürlich unter wohlfeilem Verweis auf unzumutbare finanzielle Belastungen - ihre Energie auf den Beweis, warum keinesfalls man selbst und ausschließlich andere zuständig seien. Nebenbei: Dies ist ein Beispiel dafür, wie wenig noch in unserer Gesellschaft die Belange behinderter Menschen von bestimmten Entscheidungsträgern als Herausforderung an die eigene Verantwortung begriffen werden. Man sieht daran auch, wie weit wir noch von einer wirklich inklusiven Gesellschaft entfernt sind. Auch die Gesundheitspolitiker(innen) auf Länder- und Bundesebene haben sich dem Problem noch kaum zugewandt.
Die Fachverbände der Behindertenhilfe und die Organisationen der Selbsthilfe bringen das Problem zunehmend offensiv in die öffentliche Diskussion und in den gesundheitspolitischen Diskurs ein. Es sind dringend konzertierte Anstrengungen erforderlich, um diesem gesundheitspolitischen Skandal ein Ende zu bereiten. Auch im Hinblick auf die Krankenhausbehandlung ist endlich dem Gebot der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen - in Deutschland seit März 2009 unmittelbar geltendes Recht - uneingeschränkte Geltung zu verschaffen, nämlich sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderung den anderen Menschen gleichgestellt werden und die notwendige medizinische Versorgung erhalten.
Wohl für jeden Menschen ist ein Krankenhausaufenthalt ein belastendes und einschneidendes Erlebnis. Zumeist in einer Situation von mehr oder weniger ausgeprägter existenzieller Beunruhigung über die Krankheit, Schmerzen und Ungewissheit über die Prognose begegnet man einer schwer durchschaubaren neuen Situation, bedrohlich erlebten Prozeduren und belastenden diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen. Im Mittelpunkt des Erlebens stehen folglich oft Gefühle von Abhängigkeit, Fremdbestimmung und Desorientiertheit - nicht selten sogar des Ausgeliefertseins. Weil sich unter dem Druck der Finanzierungsengpässe - auch hier begegnet man übrigens der Verzauberung der Politik durch das neoliberale Versprechen, der Markt werde es schon richten - überall die personelle Ausstattung der Krankhäuser verschlechtert hat, ist die persönliche Ansprache und Unterstützung immer begrenzt. Die Abläufe sind hochgradig standardisiert. Parallel dazu wird vom Patienten eine immer höhere Kompetenz zur Mitwirkung am Behandlungsprozess verlangt.
Krankenhaus macht Angst
Für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung stellt sich ein Krankenhausaufenthalt oft noch viel undurchschaubarer, komplizierter und beängsti- gender dar als für Menschen ohne Behinderung. Ihre Möglichkeiten, sich auf neue, hochkomplexe Situationen mit fremden, mit ihren individuellen und mit ihren spezifischen behinderungsbedingten Bedürfnissen unvertrauten Menschen (Pflegekräfte, Ärzte, Therapeuten) einzustellen, sind eingeschränkt. Nicht selten reagieren sie auf die außerordentlichen Belastungen durch die Erkrankung und die Krankenhaussituation mit Verhaltensproblemen, auf deren Bewältigung das Krankenhaus im Allgemeinen weder fachlich noch ressourcenmäßig vorbereitet sein kann. Stattdessen erlebt das Krankenhauspersonal solches Verhalten als Störung der Abläufe, der durch schnellstmögliche Entlassung oder sogar durch Restriktionen (Sedierung, Fixierung) zu begegnen ist, wenn nicht Vertrauenspersonen (Angehörige, Mitarbeiter(innen) aus Behinderteneinrichtungen) einspringen.
Weil Menschen mit geistiger Behinderung nicht selten zusätzliche Behinderungen - zum Beispiel Mobilitätseinschränkungen, Sinnesbehinderungen, Kontrak- turen, Spastik, Schluckstörungen - haben, stellen sich an die Grund- und an die Behandlungspflege sehr individuelle Anforderungen, auf die das Personal einer bestimmten Fachabteilung im Krankenhaus nicht vorbereitet ist - und wohl auch nicht vorbereitet sein kann. Man stelle sich beispielsweise vor, dass eine Patientin mit einer schweren geistigen Behinderung, einer ausgeprägten Spastik und Kontrakturen wegen einer Netzhautablösung in einer Augenklinik aufgenommen wird. Hier liegt das Problem in der pflegerischen Begleitung. Das Personal einer Augenklinik ist nicht darauf vorbereitet, die Patientin so wie notwendig regelmäßig sachgerecht umzulagern und die nötigen Handgriffe fachlich korrekt und rücksichtsvoll auszuführen. Werden jedoch in der pflegerischen Versorgung grobe Fehler gemacht, können gefährliche Folgen entstehen (zum Beispiel Dekubitus, also Wundliegen). Die erheblichen Pflegemängel bei mehrfach behinderten Menschen sind wiederholt publiziert worden.1
Natürlich gibt es auch Behandlungssituationen im Krankenhaus, in denen sich die besonderen Anforderungen nicht allein im Pflegeprozess zeigen. Durch die geistige oder mehrfache Behinderung eines Patienten gestalten sich auch der diagnostische oder der therapeutische Prozess schwieriger, langwieriger, komplexer und ressourcenaufwendiger. Weil Menschen mit Behinderung oft nicht präzise genug ihre Beschwerden schildern können, sind überdurchschnittlicher Zeit- und Ressourceneinsatz, der vermehrte Rückgriff auf apparative Untersuchungsmethoden und lange Aufenthaltsdauern unumgänglich.
Krankenhäuser unter Druck
Die Krankenhäuser stehen - offenkundig politisch gewollt - unter erheblichem wirtschaftlichem Druck. Dies wirkt sich schon heute in einem fulminanten Personalabbau am Rande des Pflegenotstandes und mit erkennbarem Ärztemangel aus. Die Politik will mit dem seit dem Jahr 2004 bestehenden Fallpauschalensystem als Grundlage der Krankenhausvergütung auch die Bettenkapazitäten reduzieren - im Darwin-Jahr sei die Erinnerung an das Motto "Survival of the Fittest" erlaubt - und nimmt dabei die Zentralisierung und den strukturellen Wandel der Krankenhauslandschaft in Kauf. Damit werden kleine, wohnortnah versorgende Krankenhäuser auf lange Sicht zugunsten zentraler Standorte von Großkrankenhäusern verschwinden. Die Ablehnung von unzulänglich refinanzierten kostenintensiven Patient(inn)en drückt sich in verschiedener Weise aus: Als offene oder verdeckte Verweigerung von stationären Aufnahmen, als fachlich unvertretbar verkürzte Verweildauer oder als unzulängliche medizinische beziehungsweise pflegerische Leistungen. Damit hat schon längst die heimliche Rationierung - die Vorenthaltung notwendiger Güter - Einzug gehalten. Dies ist wahr, auch wenn in Wahlkampfzeiten ungeniert Empörung über die Folgen politischer Entscheidungen geheuchelt wird.
Keine Lösung nach Schema F
Die vorstehende Schilderung der Probleme und ihrer Folgen legt nahe: Es wird keine einfachen, schematischen Lösungen geben. Zunächst ist festzuhalten, dass alle Krankenhäuser und alle medizinischen Fachdisziplinen sich in die Lage versetzen müssen, besser als bisher auf die Belange von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung einzugehen. Das beginnt bei der fachlichen Qualifizierung (Aus-, Fort- und Weiterbildung) aller Mitarbeitenden. Es ist nötig, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen. Der zumindest bei schwererer geistiger und mehrfacher Behinderung regelmäßig überdurchschnittliche Ressourcenbedarf darf nicht unter Verweis auf Durchschnittskalkulationen geleugnet, sondern muss in geeigneten Ergänzungen der DRG-basierten Krankenhausvergütung gesucht werden. Der behinderungsbedingte quantitative und qualitative Mehrbedarf kann bislang nämlich noch nicht sachgerecht im DRG-System abgebildet und aufwandsgerecht vergütet werden. Das belegen die Erfahrungen von spezialisierten Krankenhäusern, die schwerbehinderte Patient(inn)en behandeln, beispielsweise die St.-Lukas-Klinik in Meckenbeuren.
Die Formulierung eines transparenten und missbrauchssicheren Verfahrens ist eine Herausforderung an die Gremien der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen. Die Kostenträgerschaft liegt dann selbstverständlich bei den Krankenkassen.
Spezialangebote sind nötig
Eine Alternative besteht darin, für spezielle Anforderungen Krankenhäuser oder Krankenhausabteilungen zu schaffen, die im Hinblick auf die medizinische Versorgung von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung besonders versiert und ausgestattet sind. Dafür müssen sie eine pflegetagebezogene Vergütung durch die Krankenkassen als sogenannte besondere Einrichtungen außerhalb des DRG-Systems erhalten. Ein Beispiel dafür ist das Zentrum für Behindertenmedizin am Krankenhaus Mara in Bielefeld. Zweierlei ist notwendig: erstens der Erhalt solcher spezieller Krankenhausangebote (sogenannte besondere Einrichtungen), zweitens die Aufrechterhaltung einer pflegetagebezogenen Vergütungsform, bis zweifelsfrei erwiesen ist, dass ein noch anzupassendes DRG-System diese besondere Vergütung aufwandsdeckend ablösen kann.
In der stationären Psychiatrie, in der ohnehin nicht nach dem DRG-System vergütet wird, gibt es gleichfalls Beispiele spezialisierter Angebote wie das Behandlungszentrum für akut psychisch kranke Erwachsene mit geistiger Behinderung am Krankenhaus Königin-Elisabet-Herzberge in Berlin oder die Fachabteilung Psychiatrische Therapie für Menschen mit geistiger Behinderung am Isar-Amper-Klinikum München-Ost, Haar.
Es kann kein Zweifel bestehen, dass das Regelversorgungssystem immer die erste Ansprechadresse auch für Menschen mit Behinderung sein muss. Aber für besondere Fragen sollte es ergänzende Spezialangebote im ambulanten und stationären Sektor geben. Das entspricht langjährigen Forderungen der Fachverbände der Behindertenhilfe, jüngsten Forderungen des 112. Deutschen Ärztetages und den "Potsdamer Forderungen". Dort formulierte man: "Spezielle Zentren in der ambulanten Versorgung erwachsener Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung und spezialisierte Krankenhäuser sind für die Unterstützung der Regelversorgung und für besondere Krankheitsbilder zwingend notwendig. Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen, Therapeuten und andere Gesundheitsfachberufe sollen dort zusammenarbeiten."2
Soweit der überdurchschnittliche Ressourcenverbrauch unmittelbar auf die bestehende Behinderung zurückgeht - zum Beispiel der besondere und individuelle kundige Pflege- oder Assistenzaufwand - ist es unsinnig, vom Krankenhaus zu erwarten, dass er dort immer gänzlich gedeckt werden kann. In vielen Fällen wird es notwendig sein, mit dem jeweiligen Patienten vertraute Personen mit in den Grund- und Behandlungspflegeprozess und sonstige Assistenzleistungen während des Krankenhausaufenthaltes einzubinden. Durch solche vertraute Personen kann der/die Patient(in) auch emotional unterstützt werden. Auch dazu treffen die Potsdamer Forderungen eine klare Aussage: "Eine Assistenz und Begleitung durch pädagogische Fachleute oder andere Unterstützer muss bei der ambulanten wie stationären Gesundheitsversorgung gewährleistet sein."3
Soweit dafür finanzieller Aufwand für Dritte (Angehörige, Einrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe) entsteht, müssen ihnen die Kosten vollständig ersetzt werden. Dafür kommen verschiedene Lösungswege in Betracht: Vorrangig muss aus Sicht des Autors der Sozialhilfekostenträger in dieser Zeit für den Mehraufwand (Personal- und Fahrtkosten) aufkommen. Dies gilt insbesondere dann, wenn kundiges Personal aus Behindertenhilfeeinrichtungen diese Menschen ins Krankenhaus begleiten muss. Die Einrichtungen und Dienste müssen vor allem dann eine aufwandsdeckende Vergütung erhalten, wenn sie - wie oft der Fall - während eines Krankenhausaufenthaltes keine oder nur eine reduzierte Leistungsvergütung erhalten.
Für Menschen mit Behinderung, deren Assistenz beziehungsweise Pflegeassistenz im Rahmen des Arbeitgebermodells realisiert wird, sind die Einbeziehung ihrer Assistent(inn)en in die Betreuung während des Krankenhausaufenthalts und deren Vergütung auch über den Krankenhausaufenthalt hinaus von größter Bedeutung. Darüber hat der Deutsche Bundestag im Juni 2009 positiv entschieden. Leider trifft diese sachlich richtige Lösung nur für Menschen mit angestellten Assistent(inn)en zu. Übrigens stellten sich Krankenkassen und Sozialhilfekostenträger gegen eine solche gesetzliche Regelung. Der Begründung für die Notwendigkeit und Besonderheiten der Pflegeassistenz im Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus ist uneingeschränkt zuzustimmen.4
Wenn die Sozialhilfekostenträger während des Krankenhausaufenthalts nicht unmittelbar für den notwendigen personellen Aufwand aufkommen, der von außerhalb des Krankenhauses aufgebracht werden muss, müsste die Weitergabe aufwandsdeckender Anteile einer erhöhten Krankenhausvergütung ermöglicht werden. Dies erscheint aber dem Autor wenig logisch und praktikabel.
Es ist noch viel zu tun, um die skandalösen Mängel zu überwinden. Die Fachverbände der Behindertenhilfe bereiten deshalb ein Symposium "Der Patient mit geistiger und mehrfacher Behinderung" für den Februar 2010 in Berlin vor. Dort sollen die Probleme gründlich analysiert, gute und schlechte Erfahrungen kommuniziert und Lösungen diskutiert werden.
Anmerkungen
1. Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen (ForseA) (Hrsg.): Ich muss ins Krankenhaus. Mulfingen, 2006.
2. Bundesvereinigung Lebenshilfe und Bundesarbeitsgemeinschaft Ärzte für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung (Hrsg.): Potsdamer Forderungen. Fachtagung "Gesund fürs Leben". Potsdam, 16. Mai 2009, 3. Forderung (www.lebenshilfe.de).
3. Ebd., 4. Forderung.
4. Bundestags-Drucksache 16/12855.