EU-Reformvertrag nimmt weitere Hürde
Der Lissabon-Vertrag, der die Europäische Union auf eine neue rechtliche Grundlage stellen soll, hat eine weitere Hürde genommen. Am 30. Juni 2009 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass das Zustimmungsgesetz des Bundestages zum Reformvertrag mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Parallel dazu haben die Karlsruher Richter aber Nachbesserungen am Begleitgesetz gefordert, welches die Beteiligungsrechte der nationalen Gesetzgebungsorgane bei EU-Entscheidungen regelt. Damit müssen vor dem Abschluss der Ratifizierung durch Deutschland die Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat am europäischen Einigungsprozess gestärkt werden.
Nach übereinstimmenden Angaben von SPD und Union hat bei einer Sondersitzung am 26. August die erste Lesung zum neuen Begleitgesetz stattgefunden. Am 8. September sind in zweiter Lesung die Lissabon-Begleitgesetze im Bundestag verabschiedet worden. Der Bundesrat hat den Gesetzen, die die Rechte des deutschen Parlaments bei Europafragen künftig stärken werden, am 18. September zugestimmt. Damit konnte Deutschland den Lissabon-Vertrag rechtzeitig vor dem zweiten Referendum in Irland über den EU-Reformvertrag ratifizieren. Entscheidend ist insofern allerdings der Ausgang der zweiten Volksabstimmung in Irland am 2. Oktober 2009 (nach Redaktionsschluss). Die Iren hatten den Umsetzungsprozess durch ein negatives Votum im Jahr 2008 ins Stocken gebracht. Die Tschechische Republik und Polen, bei denen es zur vollständigen Ratifikation noch an der Unterschrift der Staatspräsidenten fehlt, wollen den Ausgang des neuen Referendums in Irland abwarten. Sollte dieses, wie in Prognosen vorhergesagt, positiv ausfallen, müssten sich die bekennenden EU-Skeptiker Vaclav Klaus und Lech Kaczynski in Prag und Warschau wohl dem öffentlichen Druck beugen und den Vertrag ebenfalls ratifizieren.
Das mit Spannung erwartete Urteil des Bundesverfassungsgerichts war notwendig geworden, weil sich mehrere Verfassungsbeschwerden (unter anderem des CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler und der Fraktion "Die Linke" im Bundestag) gegen den Vertrag gerichtet und insbesondere eine Entmachtung des nationalen Gesetzgebers und das demokratische Defizit der Union bemängelt hatten. Das Urteil stellt nun klar, dass die EU auch durch die Neuerungen des Reformvertrages ein Staatenverbund bleibt, die Mitgliedstaaten also weiterhin als souveräne Staaten anzusehen sind. Allein dies sei auch durch das Grundgesetz gedeckt. Jede weitergehende Integration Richtung eigener Staatlichkeit der Union würde eine Verfassungsneuschöpfung erforderlich machen.
Die Richter stellen zudem fest, dass der Reformvertrag - etwa durch die Stärkung des Europäischen Parlaments - das demokratische Defizit der Europäischen Union zwar verringere, aber es nicht auflösen könne. Deshalb trügen auch zukünftig die nationalen Vertretungsorgane der europäischen Völker die Hauptverantwortung für den Integrationsprozess. In der Praxis bedeutet dies, dass Bundestag und - wo vorgesehen - Bundesrat immer dann ausdrücklich zustimmen müssen, wenn neue Kompetenzen von der nationalen auf die europäische Ebene verlagert werden beziehungsweise die Entscheidungsverfahren auf Unionsebene verändert werden sollen (insbesondere beim Wechsel von Einstimmigkeit zu Mehrheitsentscheidung im Ministerrat).
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag klargemacht, dass dieser mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Gleichzeitig wurden aber wichtige Sicherungsmechanismen geschaffen, die die schrankenlose Abgabe nationaler Souveränität nach Brüssel verhindern sollen. Zwar sei das Grundgesetz grundsätzlich europafreundlich, zentrale Hoheitsrechte, die etwa Strafrecht, Polizei und Militär, Steuern, Sozial-, Familien- und Bildungspolitik oder Religionsfragen betreffen, müssten aber weiterhin auf der nationalen Ebene geregelt werden. Insofern ist das differenzierte Urteil letztlich sowohl aus mitgliedstaatlicher als auch aus europäischer Sicht zu begrüßen.
Sozialpolitik ist Ländersache
Die Sozialpolitik fällt nach dem Reformvertrag in die geteilte Zuständigkeit (Artikel 4 (2b) AEUV (Abkürzung für "Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union")), das heißt die "Mitgliedstaaten nehmen ihre Zuständigkeit wahr, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat" (Artikel 2 (2) AEUV). Dies betrifft allerdings nur die "Sozialpolitik hinsichtlich der in diesem Vertrag genannten Aspekte", also hauptsächlich die in Artikel 153 AEUV ausgewiesenen Bereiche mitsamt den dort (unverändert) festgelegten Einschränkungen. Die gegenwärtige Kompetenzordnung wird demnach beibehalten, wofür sich vor dem Hintergrund großer sozialpolitischer Unterschiede unter den Mitgliedstaaten auch schon im Verfassungskonvent ausgesprochen wurde.
Neu aufgenommen wurde die sogenannte "soziale Querschnittsklausel" in Artikel 9 AEUV. Nach dieser trägt die Union bei allen Maßnahmen "den Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, mit der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, mit der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie mit einem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes Rechnung". Die Querschnittsklausel wird die Europäische Kommission zukünftig zwingen, bei allen Gesetzesvorlagen auch deren soziale Folgen zu berücksichtigen - ein weiterer wichtiger Schritt weg von einer reinen Marktlogik, der der Union gut zu Gesicht steht.
Konfliktfeld: Daseinsvorsorge und Wettbewerbsrecht
Im diesem erweiterten Konfliktfeld zwischen europäischem Wettbewerb und nationaler Sozialpolitik schafft der Reformvertrag außerdem eine neue EU-Gesetzgebungskompetenz für Grundsätze und Bedingungen sogenannter "Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse" (Art. 14 AEUV). Betreffende Verordnungen können zukünftig nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren verabschiedet werden. Die Bestimmung, die ganze Systeme öffentlicher Dienstleistungen betrifft, war schon während des Verfassungskonvents stark umstritten. Während Befürworter darin eine Möglichkeit zur weiteren Absicherung gegen wettbewerbsrechtliche Eingriffe erkannten, sahen sich Gegner eben gerade durch die neue Kompetenz der Union in ihrer Gestaltungsfreiheit bedrängt. Vor diesem Hintergrund betont Artikel 14 AEUV nun die "Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, diese Dienste im Einklang mit den Verträgen zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu finanzieren", während Protokoll Nr. 26 nochmals die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich nichtwirtschaftlicher Dienste herausstellt.
Dieses Protokoll betont die besondere Rolle und den weiten Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und lokalen Behörden bei der Planung und Organisation der Leistungen zur Daseinsvorsorge sowie die unterschiedlichen Situationen in den einzelnen Mitgliedstaaten. Zu den gemeinsamen Werten der Union zählt danach die Garantie eines hohen Niveaus in Bezug auf Qualität, Sicherheit und Bezahlbarkeit dieser Dienste sowie der universelle Zugang zur Daseinsvorsorge. Die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten wird durch die Verträge nicht berührt. Die Unsicherheit bezüglich der Unterwerfung der Daseinsvorsorge unter das europäische Wettbewerbsrecht bleibt allerdings bestehen. Denn Art. 14 AEUV stellt klar, dass die Regelungen zu den Diensten im Einklang mit den Verträgen (und damit auch im Einklang mit dem Europäischen Wettbewerbsrecht) stehen müssen. Für die Dienste und Einrichtungen der Caritas bedeutet diese Betonung der grundsätzlich bestehenden nationalen Regelungskompetenz einen Schritt in die richtige Richtung. Dennoch wird sie das zwischen den Bereichen Daseinsvorsorge und Wettbewerbsrecht bestehende Konfliktfeld auch nach Inkrafttreten des Reformvertrages beschäftigen. Eine grundsätzliche Herausnahme des gesamten Bereichs der Sozialdienstleistungen aus dem Anwendungsbereich der Binnenmarktregeln, wie von einigen Seiten gefordert, regelt der Vertrag gerade nicht. Somit werden Regelungen etwa des EG-Beihilfenrechts beziehungsweise des EG-Vergaberechts auch im Bereich Einrichtungen der Caritas weiterhin eine wichtige Rolle spielen.
Des Weiteren bekommt die Sozialpolitik mit dem Vertrag von Lissabon einen eigenen Titel (X). Darin wird die Union gemäß Artikel 152 AEUV dazu verpflichtet, die Rolle der Sozialpartner anzuerkennen und zu fördern sowie deren Autonomie zu achten. Im gleichen Artikel wird der dreigliedrige Sozialgipfel - bestehend aus EU-Vertretern, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften - vertraglich verankert und somit aufgewertet (bisherige Grundlage war ein Beschluss des Rates aus dem Jahr 2003 (2003/174/EG)). Artikel 156 AEUV führt zudem die offene Methode der Koordinierung (OMK) für die Sozialpolitik ein - wenn auch nicht unter diesem Namen. Allerdings handelt es sich dabei lediglich um die Kodifizierung gängiger Praxis; die OMK "Sozialschutz und soziale Eingliederung" geht im Rahmen der Lissabon-Strategie mittlerweile in ihr neuntes Jahr. Fast ebenso alt sind die schon während des Verfassungskonvents diskutierten Kritikpunkte an der offenen Koordinierung, aber genau wie der Verfassungsvertrag greift auch der Reformvertrag keinen einzigen davon auf.
Entscheidungsverfahren werden beibehalten
Die Entscheidungsverfahren im Bereich der Sozialpolitik bleiben weitestgehend unverändert. Der auch von der Kommission unterbreitete Vorschlag der Arbeitsgruppe "Soziales Europa", die sozialpolitischen Kompetenzen zu präzisieren und somit die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit zu erleichtern, wurde bereits während des Konvents abgewiesen. Die einzige Ausnahme bildet hierbei Artikel 48 AEUV zur sozialen Sicherung der Wanderarbeitnehmer(innen). Allerdings wird in diesem Fall gleichzeitig eine "Notbremse" für die Mitgliedstaaten installiert: Sehen diese "wichtige Aspekte" ihres jeweiligen Systems der sozialen Sicherheit durch ein Gesetzgebungsvorhaben der Union gefährdet, können sie eine Befassung des Europäischen Rates (der Konferenz der Staats- und Regierungschefs und des Kommissionspräsidenten) beantragen; das Vorhaben ist daraufhin bis auf Weiteres ausgesetzt. Der Europäische Rat hat dann vier Monate Zeit für eine (Nicht-)Entscheidung: Entweder verweist er "den Entwurf an den Rat zurück, wodurch die Aussetzung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens beendet wird, oder […] er sieht von einem Tätigwerden ab, oder aber er ersucht die Kommission um Vorlage eines neuen Vorschlags; in diesem Fall gilt der ursprünglich vorgeschlagene Rechtsakt als nicht erlassen."
Weitere wichtige Änderungen
- Die Grundrechte-Charta wird durch einen verweisenden Artikel in den Mitgliedsländern rechtsverbindlich. Die Charta garantiert den EU-Bürger(inne)n Arbeits- und Sozialrechte, die sie beim EU-Gerichtshof einklagen können. Die Charta der Grundrechte ist zwar nicht Teil der Verträge, doch wird auf sie hingewiesen. Die Charta wird ausdrücklich anerkannt. Sie hat "dieselbe Rechtsverbindlichkeit wie die Verträge". Ausnahmeregelungen gelten für Großbritannien und Polen.
- Das Bürgerbegehren wird eingeführt. Wenn eine Million EU-Bürger(innen) per Unterschriftenliste zu einem bestimmten Problem ein Gesetz verlangen, muss die EU-Kommission tätig werden.
- Erstmals wird ausdrücklich das kommunale Selbstverwaltungsrecht erwähnt (Art. 4 II EU n.F.). Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt.
- Das Subsidiaritätsprinzip wird auch auf die lokale Ebene ausgeweitet (Art. 5 III EU n.F.) Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können. Bisher gilt das Subsidiaritätsprinzip für EU-Rechtsakte nur auf den Ebenen EU und Mitgliedstaaten.
- Die Bekämpfung des Klimawandels wird erstmals als ausdrückliches Ziel im Primärrecht erwähnt. Zudem werden an mehreren Stellen Vertragsklauseln zur Energiesolidarität eingefügt.
- Das Mitspracherecht der nationalen Parlamente im europäischen Gesetzgebungsverfahren wird verbessert. Damit wird das Subsidiaritätsprinzip gestärkt.
- Im Gesetzgebungsverfahren wird das Mitentscheidungsverfahren zum Regelfall. Damit ist das Europäische Parlament als Vertretung der Bürger(innen) Europas gleichberechtigt gegenüber dem Ministerrat. Das Europaparlament entscheidet künftig auch gleichberechtigt mit dem Ministerrat über den EU-Haushalt.
- Erstmals erlaubt der EU-Vertrag offiziell den freiwilligen Austritt eines Staates - inoffiziell war dies schon bisher möglich. Beitrittswillige Staaten müssen die Werte der EU respektieren und sich verpflichten, diese zu fördern.