Eine eigene Wohnung, das wäre toll
Wenngleich niemand auf einer Station oder in einer Sonder-Welt leben möchte, gibt es nicht wenige Menschen mit Behinderung, die in stationären Sonder-Welten leben. Wie ist es dazu gekommen? Begonnen hat dies im 19. Jahrhundert, einer Zeit der Heim- oder Anstaltsgründungen und der Institutionalisierung. Die Beweggründe dafür waren unterschiedlich: Neben christlichen Impulsen (Nächstenliebe, Barmherzigkeit) ging es um "Heilung" und Erziehung zur "Brauchbarkeit" für die Gesellschaft. Dabei zeigte sich, dass es behinderte Menschen gab, die die pädagogischen Anforderungen nicht oder kaum erfüllen konnten. Dies beförderte die Vorstellung, dass es sinnvoll sei, das Heimwesen in Anstalten oder Abteilungen für "bildbare" Personen auf der einen Seite und in Pflegeheime oder Pflegeabteilungen für "bildungs- und erziehungsunfähige" Menschen auf der anderen zu differenzieren. Es entstand eine Art "Zweiklassengesellschaft".
Es regt sich Widerstand gegen das System
In der Nachkriegszeit wurde zunächst weltweit dieses von der Psychiatrie gestützte System fortgeschrieben. Allerdings war es in einigen hoch entwickelten Industrienationen (USA, skandinavische Länder) alsbald zu scharfer Kritik an der Unterbringung behinderter Menschen in Institutionen gekommen. Diesen wurde ein "totalitärer Charakter" attestiert. Das betraf vor allem staatliche Behindertenanstalten. Die Auseinandersetzung wurde von betroffenen Menschen, von ihren Eltern und Familien sowie von engagierten Fachwissenschaftlern, Professionellen und Bürgerrechtlern geführt. Ihr gemeinsames Ziel war es, durch Normalisierung und Deinstitutionalisierung Menschen mit Behinderung ein Wohnen und ein Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen.
In der Bundesrepublik Deutschland war die Kritik an der Institutionalisierung verhaltener, da kirchliche Anstalten im Versorgungssystem behinderter Menschen die dominierende Rolle spielten. Sie versuchten sich durch eine christlich geprägte Philosophie von den staatlichen Institutionen (zum Beispiel psychiatrischen Landeskrankenhäusern) abzuheben. Dass die institutionelle Versorgung kaum infrage gestellt wurde, zeigt auch die Geschichte der Elternvereinigung "Lebenshilfe". Bis vor wenigen Jahren wurden vonseiten der Lebenshilfe-Organisationen - und das im Unterschied zu Elternbewegungen in skandinavischen Ländern und den USA - in der Regel Wohnheime für relativ selbstständige Menschen mit Behinderungen als Alternative zu den Anstalten favorisiert. Somit wurde letztlich in Deutschland das Normalisierungsprinzip nicht genug umgesetzt.
Kleine Wohneinheiten statt Leben im Heim
Dieses Problem wurde von Menschen mit Behinderung selbst aufgegriffen. Eingefordert wurde ein Autonomie-Modell, dessen Aktualität bis heute ungebrochen ist. Im Kern geht es hier im Sinne von Empowerment um einen Wechsel der Zuständigkeit und um eine Umverteilung von Macht. Behinderte Menschen als "Experten in eigener Sache" wollen selbst darüber entscheiden, was für sie gut, sinnvoll und hilfreich ist und was nicht. Die Vorstellungen vom Wohnen im Erwachsenenalter und Alter sind eindeutig: keine Unterbringung in stationären Sonder-Welten wie Wohnheimen, Pflege- oder großen Behindertenanstalten, sondern ein Leben in kleinen, gemeindeintegrierten Wohnungen, die mit einer Öffnung nach außen als Ort des gesellschaftlichen Zusammenlebens betrachtet werden.
Im Laufe der letzten Jahre sind einige der führenden westlichen Industrienationen (USA, Großbritannien, skandinavische Länder, Australien, Kanada, Österreich) dazu übergegangen, das Normalisierungsprinzip durch ein deinstitutionalisiertes, häusliches Wohnangebot für Menschen mit Behinderung umzusetzen. In der angloamerikanischen und skandinavischen Fachdiskussion wird der Begriff der Institution an zentralen Versorgungs- und fremdbestimmten Betreuungsstrukturen festgemacht. Eine gemeindeintegrierte Wohnform gilt dann nicht als Institution, wenn dem Prinzip des häuslichen Wohnens mit Selbstversorgung und einem hohen Grad an Autonomie entsprochen wird. Internationalen Studien zufolge tragen Wohnformen mit maximal sechs Plätzen diesem Prinzip am ehesten Rechnung. Werden neue Wohnformen geschaffen, orientiert man sich an dieser Größe.
Schon in den 1980er Jahren hat die schwedische Gesetzgebung darauf reagiert. Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung dürfen hier nicht mehr als fünf Plätze haben. Gleichfalls werden in den USA seit einigen Jahren drei gemeindeintegrierte Wohnformen in Abgrenzung zu Institutionen als zeitgemäß betrachtet:
- ein "Supported Living" (Wohnungen mit ein bis drei Personen);
- "Small Group Homes" (Wohngruppen mit drei Plätzen);
- "Larger Group Homes" (Wohngruppen mit vier bis sechs Plätzen).
Diese drei Formen zeigen ein flexibles, bedarfsgerechtes, auf individuelle Interessen und Bedürfnisse zugeschnittenes Wohnsystem, das eine Unterscheidung in "stationär" oder "ambulant", wie sie hierzulande geläufig ist, überflüssig werden lässt.
In Deutschland fehlen alternative Wohnangebote
Der Prozess des deinstitutionalisierten Wohnens ist in den nordeuropäischen Ländern und in den USA am weitesten fortgeschritten. In Deutschland geht hingegen die Entwicklung ausgesprochen schleppend voran. Dafür gibt es drei Gründe:
Die Unterbringung behinderter Menschen in Institutionen hängt damit zusammen, dass bis heute vielerorts gemeindeintegrierte, kleine und häusliche Wohn- angebote fehlen. Für viele Betroffene, die nicht mehr in ihrer Herkunftsfamilie leben möchten oder die nicht von ihren Familienangehörigen unterstützt werden können, gibt es kaum Wahlmöglichkeiten und nur selten eine Alternative zum Leben im Heim.
Bislang haben nur wenige Organisationen und Einrichtungsträger der Behindertenhilfe alternative häusliche Wohnangebote zum Heim priorisiert. Dies ist nicht nur auf Eigeninteressen (zum Beispiel Befürchtungen von Macht- und Einflussverlust, wirtschaftliche Erwägungen wie Auslastung, Mitarbeiterinteressen, Bindung an Immobilien) zurückzuführen, sondern ebenso spezifischen Barrieren vonseiten der Kostenträger und Behörden geschuldet.
Auch scheint die Vorstellung noch sehr weit verbreitet zu sein, dass das sogenannte betreute Wohnen oder Leben in kleinen Wohngruppen in der Gemeinde nur für behinderte Menschen mit einem hohen Grad an Selbstständigkeit geeignet sei. Menschen mit schweren (kognitiven) Beeinträchtigungen gehörten demnach ins Heim. Und bei einem hohen pflegerischen Assistenzbedarf werden von Kostenträgern Unterbringungsformen (Pflegeheime, Pflegegruppen) unter der Regie der Pflegeversicherung bevorzugt. Dass hier nahtlos an das Zweiklassensystem aus dem vergangenen Jahrhundert angeknüpft wird, ist unschwer zu erkennen. Nur wenige (traditionelle) Großeinrichtungen, Träger und Verbände haben sich von dieser Ideologie distanziert und sich den Rechten und Wünschen Betroffener nach einem zeitgemäßen Wohnen verschrieben.
Billiglösungen sind tabu
Die Güte einer Reform auf dem Gebiet des Wohnens darf aber nicht nur an der Größe einer Wohnform festgemacht werden. Bei allen Veränderungen gilt es darauf zu achten, dass dem Einzelnen persönliches Wohlbefinden ermöglicht wird. So genügt es nicht, alternative Wohnformen zu einem Heim nur als eine "Platzierungsfrage" (räumliche Integration) zu betrachten. Entscheidend ist, dass sich der Einzelne in seinem neuen Zuhause wohlfühlen und als "Part of the Community", also Teil der Gesellschaft, erleben kann.
Vor diesem Hintergrund machen es sich nicht nur einige Einrichtungsträger zu einfach, wenn sie bei neuen Wohnkonzepten nur die Schaffung alternativer Wohnangebote im Blick haben. Die Kritik richtet sich an Sozialhilfeträger, Behörden und Sozialpolitiker, wenn sie nun im Interesse behinderter Menschen eine "Ambulantisierung" fordern, ohne Inklusionsaspekte und ein notwendiges Maß an Unterstützung zu beachten. Das politische Postulat trägt ein Janusgesicht, wenn es mit dem Interesse eng verknüpft ist, durch Alternativen zum Heim Sozialausgaben einzusparen. Dies darf nicht zu Billiglösungen führen und zu Folgeerscheinungen wie einer Konzentration von behinderten Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf in stationären Sonder-Welten. Eine solche Konzentration birgt die Gefahr, dass die entsprechenden Institutionen zu Stätten einer Dehumanisierung werden.
Die genormte Lösung für alle gibt es nicht
Welche Folgen Billiglösungen im Bereich des gemeindeintegrierten Wohnens haben können, zeigen einige Maßnahmen aus dem westlichen Ausland, die unbedacht realisiert wurden und in vielerlei Hinsicht unverantwortlich waren. So plädierten nach Bekanntwerden einiger Skandale in den USA Kritiker der Deinstitutionalisierung und einige Elternverbände für einen sofortigen Stopp der Auflösung von Institutionen. Als Alternative fordern sie "reformierte Institutionen" wie Dorfgemeinschaften, Wohnangebote auf dem Lande (Bauernhof- und Farmprojekte) sowie Wohn - und Lebensgemeinschaften, wie sie insbesondere von der Arche-Bewegung aufgebaut worden sind. Dass mit diesen Wohnsystemen angesichts ihres "schützenden und haltgebenden Charakters" sowie ihrer häufig breiten Palette an sinnerfüllten Arbeitsangeboten spezifischen "Risiken der Normalität" wirksam begegnet werden kann, ist nicht in Abrede zu stellen. Allerdings tragen sie die Gefahr einer "paternalistischen" Wohn- und Lebenskultur sowie der Ghettoisierung in sich. Dieser versuchen manche Einrichtungen durch (kulturelle) Aktivitäten im öffentlichen Raum gegenzusteuern. Nichtsdestoweniger wäre es unzulässig, diese Wohnformen zu ignorieren, welche als Alternative zum Leben in einem Heim oder einer Anstalt für einige Eltern behinderter Kinder und für Betroffene eine Option darstellen. Insofern sollte es im Hinblick auf ein zeitgemäßes Wohnen für Menschen mit Lernschwierigkeiten keine einheitlichen oder genormten Lösungen geben. Sonder-Welten wie Heime oder gar Anstalten werden von der großen Mehrheit der Menschen mit Behinderung eindeutig abgelehnt. Zu Recht hat sich daher auch die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte behinderter Menschen den Leitgedanken des Empowerment, der Selbstbestimmung und der Inklusion (Nicht-Aussonderung) verschrieben.
Neue Wohnformen brauchen soziale Netze
Trotz einiger skandalöser Beispiele ist die Reform der Wohnformen nicht gescheitert. Den meisten Untersuchungen sind positive Ergebnisse zu entnehmen. Das Scheitern einiger Projekte hatte die Befürworter der Deinstitutionalisierung dazu veranlasst, genaue Problemanalysen vorzunehmen, die Reformen zu überprüfen und nachhaltig zu verbessern.
Eine wesentliche Erkenntnis war die, dass es nicht genügt, nur neue Wohnformen zu schaffen. Zugleich müssen auch soziale Netzwerke und Kontakte im Gemeinwesen aufgebaut werden. An dieser Stelle hat die Bewegung "Community Care" ihre Bedeutung, der sich hierzulande vor allem die Evangelische Stiftung Alsterdorf in Hamburg angeschlossen hat und die in England weit verbreitet ist.
"Community Care" richtet sich an alle Menschen eines Gemeinwesens, also nicht nur an behinderte Personen, sondern ebenso an ihre Angehörigen wie auch an ältere nichtbehinderte Bürger, psychisch Kranke, Alleinerziehende, Immigranten, Flüchtlinge, hilfebedürftige, arme oder sozial benachteiligte Gruppen, denen das Recht auf volle gesellschaftliche Zugehörigkeit (Inklusion) zugesprochen wird. Um ein gemeinsames (multikulturelles) Leben in Nachbarschaften, einen Verbleib und individuelles Wohlbefinden in der vertrauen Lebenswelt zu ermöglichen, soll jede Person Unterstützung im Gemeinwesen bekommen, die als hilfebedürftig eingeschätzt wird. Solche Hilfen sollen aber keineswegs nur durch spezielle professionelle Dienstleister (zum Beispiel durch Träger der Behindertenhilfe) geleistet werden, sondern vor allem durch Nutzung allgemeiner Sozial- oder Bildungssysteme sowie durch informelle soziale Unterstützer (Volunteers, Nachbarschaftshilfe, Freiwilligenagenturen, kirchliche Gemeindehelfer).
Vor diesem Hintergrund meint "Care" im Wesentlichen ein "assistierendes Kümmern", bei dem die zu unterstützende Person als kompetenter (zuständiger) Bürger mit allen Rechten und Pflichten sein Leben und die Gestaltung der Hilfen so weit wie möglich selbst bestimmt. Im Konzept des "Community Care" liegt die Chance, einen Sozialraum für alle in einem bestimmten Wohnbezirk lebenden Bürger(innen) neu zu gestalten. Allerdings ist das Interesse der nichtbehinderten Bevölkerung, Menschen mit Behinderung als Nachbarn zu akzeptieren und zu unterstützen, vielerorts noch sehr gering. Zudem wird kritisch vermerkt, dass Betroffene in die Planung gemeindebezogener Unterstützungskonzepte zu wenig miteinbezogen werden. Diese hatte zur Folge, dass sich unter dem Dach von "Community Care" in England beispielsweise nicht nur kleine, häusliche Wohnformen für Menschen mit Behinderung, sondern gleichfalls Heime oder Pflegeeinrichtungen organisiert haben. Daraufhin wurde von der britischen Regierung im Jahre 2001 allen Kommunen ein Programm zur Förderung von Wohnformen im Sinne eines "Supported Living" (unterstützten Wohnens) auferlegt.
Konzepte des "Supported Living" wurden bereits Anfang der 1990er Jahre in den USA als Angebote für Menschen mit Lernschwierigkeiten entwickelt:
- Personenzentrierung statt "Versorgungsprogramme";
- Trennung von Wohnung und Unterstützung;
- Betroffene als Wohneigentümer oder Mieter;
- gesellschaftliche Zugehörigkeit als Bürger mit Rechten und Pflichten;
- größtmögliche Wahl-, Entscheidungs- und Kontrollmöglichkeiten;
- Einführung von Unterstützerkreisen; personen- und bürgerzentrierte Planung und individualisierte, flexible Unterstützungsleistung;
- Nutzung vorhandener "Regeldienste" und Aufbau informeller Unterstützungsformen in der Gemeinde;
- Persönliches Budget für Menschen mit Behinderungen;
- Risikoeinschätzung und Unterstützungsmanagement;
- Aufbau und Förderung von Beziehungen zu Angehörigen und nichtbehinderten Bürgern;
- soziale Netzwerk- und vermittelnde Öffentlichkeitsarbeit zur Entwicklung eines "inklusiven Gemeinwesens";
- keine Zurückweisung von Menschen mit schwersten Behinderungen beziehungsweise hohem Unterstützungsbedarf und Inklusion für alle.
Zur erfolgreichen Implementierung des "Supported Living" zählen vor allem die soziale Vernetzung im Gemeinwesen, die Evaluation von Diensten sowie die Zusammenarbeit mit Selbstvertretungsgruppen - kurzum: eine aktive Gemeinwesenarbeit. Hier bietet sich ein Unterstützungsmanagement (Community Living Management) an, das sich auf die Organisation und Koordination einer "ganzheitlichen" sozialen Hilfe durch professionelle und informelle Unterstützer bezieht.
Zukunft: bürgerzentrierte Netzwerkarbeit
Eng verschaltet mit dem Unterstützungsmanagement ist eine bürgerzentrierte Netzwerkarbeit - eine der wichtigsten Aufgaben der Behindertenhilfe in den kommenden Jahren.
Ein Schwerpunkt sollte Aufbau, Gestaltung, Beratung und Begleitung sozialer Netzwerke im gesellschaftlichen Bezugsfeld sein. Da es nicht einfach ist, solche Netzwerke aufzubauen, muss die Gewinnung und professionelle Unterstützung informeller Helfer (Volunteers) verstärkt werden. Wichtig sind vertrauensbildende Maßnahmen. Ebenso wichtig sind unterstützende Angebote für bestehende Netzwerke. Zudem muss die Politik Rahmenbedingungen schaffen, dass ehrenamtliche Tätigkeiten honoriert werden.
Andererseits muss die Behindertenhilfe ihre Einstellung und ihr Verhältnis zu engagierten Bürger(inne)n neu ausrichten und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für diese Zusammenarbeit schulen. Erstrebenswert sind Freiwilligenkoordinatoren sowie professionelle Helfer als "Brückenbauer" (Bridge Builder). Sie stellen in einem Stadtteil oder in einer Gemeinde Kontakte her. Wichtig ist, dass es vonseiten der Behindertenhilfe verlässliche Ansprechpartner für ehrenamtliche Tätigkeiten und bürgerzentrierte Netzwerkarbeit gibt.
Neue Partnerschaften lösen soziale Probleme
Tatsache ist, dass unsere Gesellschaft vor einer Reihe bedeutsamer sozialer Herausforderungen steht, die nicht allein vom Staat gelöst werden können. Es können die zukünftigen sozialen Aufgaben aber auch nicht von dem gegenwärtigen System der Behindertenhilfe geleistet werden. Ebenso unzureichend wäre es, nur auf bürgerschaftliches Engagement oder nur auf den freien Markt zu setzen. Vielmehr ist es für die Zukunftsfähigkeit einer modernen Gesellschaft unabdingbar, ein Reformpaket zu schnüren, in dem Staat, Wirtschaft, Wohlfahrtsverbände oder Organisationen und Bürger gemeinsam neue soziale Partnerschaften eingehen. Dafür steht letztlich der Begriff der Bürgergesellschaft, die nur dann funktionieren kann, wenn sich die beteiligten Partner auf Leitprinzipien und Grundsätze einer demokratischen und humanen Gesellschaft für Menschen mit und ohne Behinderung einlassen. Ferner erfordert es den "ermöglichenden" Staat, der Rahmenbedingungen schafft, so dass sich eine inklusive Gemeinde entfalten kann. Mit Blick auf die "Kommunalisierung" der Behindertenhilfe ist eine Versorgungsverpflichtung rechtlich zu kodifizieren, die es den Gemeinden oder Kreisen (einschließlich den zuständigen Trägern der Behindertenhilfe) nicht gestattet, Menschen mit Behinderung in Heime oder Anstalten (Komplexeinrichtungen) außerhalb ihrer Regionen abzuschieben. Politische Entscheidungsträger und Verwaltungen sollten sich den Grundzügen einer modernern Behindertenarbeit im Sinne von Integration, Inklusion und Empowerment verschreiben. Überholte Begriffe und Zuordnungen wie "stationär" oder "ambulant" müssen zugunsten eines flexiblen, häuslichen Wohnangebots abgeschafft werden. Die Stimme Betroffener (und nicht etwa nur die der Wohlfahrtsverbände) muss beachtet und respektiert werden. Betroffene sollten an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Die nichtbehinderte Bevölkerung muss für eine Akzeptanz und Wertschätzung behinderter Menschen als Mitbürger einer Gesellschaft sensibilisiert werden. Bundesländer dürfen sich nicht aus der Behindertenpolitik verabschieden. Sie müssen finanziell schwache Kommunen und Kreise darin unterstützen, zeitgemäße Konzepte zu realisieren.
Wohnformen im Lichte von "Community Care" oder "Supported Living" sind nicht zum Nulltarif zu haben. Kosten-Nutzen-Analysen zeigen auf, dass das "Supported Living" und Wohnen in kleinen Gruppen gegenüber dem Leben in Heimen oder großen Institutionen nicht billiger ist. Durch die Abschaffung von Heimen zugunsten zeitgemäßer Wohnformen und unterstützter Beschäftigungsangebote kann allenfalls eine "Kostenneutralität" erreicht werden, wenn ein Mix aus informellen und professionellen Unterstützungsformen zur Verfügung steht sowie Regel- und mobile Assistenzdienste genutzt werden. Dagegen gibt es vor allem aus dem Lager der Organisationen und Verbände der Behindertenhilfe starke Vorbehalte. Befürchten sie doch durch den Verzicht auf Fachkräfte in Wohneinrichtungen einen erheblichen Qualitätsverlust. Langjährige Erfahrungen aus Schweden oder anderen fortschrittlichen Ländern auf dem Gebiet der Behindertenarbeit widerlegen jedoch dieses Argument. Sie zeigen, dass ein anderer Einsatz von Fachkräften in sogenannten Koordinations- und Beratungsstellen gleichfalls eine fachlich fundierte Arbeit erbringt, die der Institutionalisierung überlegen ist.
Literatur
Dalferth, Mathias: Enthospitalisierung in westlichen Industrienationen am Beispiel der USA/Kalifornien, Norwegen und Schweden. In: Theunissen, Georg; Lingg, Albert (Hrsg.): Wohnen und Leben nach der Enthospitalisierung. Bad Heilbrunn : Klinkhardt-Verlag, 1998, S. 88-113.
Theunissen, Georg: Wege aus der Hospitalisierung : Empowerment schwerstbehinderter Menschen. Bonn : Psychiatrie-Verlag, 2000.
Theunissen, Georg: Empowerment behinderter Menschen : Inklusion - Bildung - Heilpädagogik - Soziale Arbeit. Freiburg : Lambertus, 2007.
Theunissen, Georg; Schirbort, Kerstin (Hrsg.): Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung. Stuttgart : Kohlhammer, 2006.
Wagner-Stolp, Wilfried: Beruf: "Schaltstelle zur Gemeinde" : Das neue Tätigkeitsfeld der Freiwilligenkoordination. In: Theunissen, Georg; Wüllenweber, Ernst (Hrsg.): Zwischen Tradition und Innovation : Handlungskonzepte und Methoden in der Heilpädagogik. Marburg : Lebenshilfe-Verlag, Buch i. E. 2008.