Suizidprävention: Es ist noch viel zu tun!
Suizidalität entsteht im Zusammenspiel von individuell-biografischen, somatischen und gesellschaftlich-kulturellen Einflüssen und ist ein komplexes Phänomen. Daher ist Suizidprävention eine vielschichtige, komplexe Aufgabe, die über das Gesundheitswesen und die Gesundheitspolitik hinausgeht. Im Jahr 2022 verstarben in Deutschland 10.119 durch Suizid, und man kann von mindestens 100.000 klinisch relevanten Suizidversuchen ausgehen, wie auf den Seiten 9 bis 12 in diesem Heft beschrieben. Zu berücksichtigen ist, dass mehr als die Hälfte aller Versuche schwere Verletzungen mit zum Teil schweren langfristigen Folgen verursacht.
Bereits 2022 hat in Deutschland ein breites Bündnis von Fachorganisationen - unter Verantwortlichkeit des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland (NaSPro), der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) und anderen - fundierte fachliche Empfehlungen für gesetzliche Regelungen der Suizidprävention abgegeben.1 Diese Empfehlungen beruhen auf einer vom Bundesgesundheitsministerium geförderten Studie zum aktuellen Stand und zu den Perspektiven der Suizidprävention in Deutschland.2 Zur Bearbeitung der Fragestellungen dieses Projekts wurde auf das Netzwerk des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland zurückgegriffen. Das Nationale Suizidpräventionsprogramm ist seit 2001 das bundesweit agierende, wissenschaftlich fundierte Expert:innen-Netzwerk für Austausch und Wissensvermittlung zu Suizidalität und zur Suizidprävention in Deutschland.3 Vernetzt sind Fachleute der Suizidprävention und Fachleute aus vielen gesellschaftlichen Bereichen, die von mehr als 90 Institutionen, Organisationen und Verbänden unterstützt werden.
Das Projekt "Suizidprävention Deutschland: Aktueller Stand und Perspektiven" zeigte, dass in Deutschland Suizidprävention vielfältig stattfindet, zum Beispiel im klinisch-stationären und ambulanten Bereich einschließlich der ärztlichen und/oder psychotherapeutischen Praxen, in Beratungsstellen, in der Telefon- und Chatberatung. Es gibt noch viel zu tun. Dazu gehören beispielsweise:
◆ die Förderung der Kompetenz von Institutionen und Personen, die in Kontakt mit suizidalen Personen stehen;
◆ die Förderung des allgemeinen Wissens in der Gesellschaft zum Suizid, zur Hilfe in Lebenskrisen, zu Ansprüchen und Möglichkeiten bezüglich medizinischer Behandlungen, psychosozialer Unterstützung und den Möglichkeiten der Palliativmedizin;
◆ die Einschränkung des Zugangs zu Suizidmitteln;
◆ der Erhalt und die Wiederherstellung der seelischen Gesundheit von Menschen, die von Suizidalität, suizidalen Handlungen und Suiziden betroffen sind;
◆ die unkomplizierte Erreichbarkeit suizidpräventiver Angebote ohne Einschränkungen (barrierefrei);
◆ die Verbesserung von Gatekeeperprogrammen.
Grundsätzliche Aspekte der Suizidprävention
Suizidalität ist das Ergebnis vielfältiger Einflüsse. Auf individueller Ebene spielen psychische Störungen und psychosoziale Krisen eine wesentliche Rolle. Dies gilt auch, wenn Suizidalität in Verbindung mit einer schweren körperlichen Erkrankung auftritt. Hoffnungslosigkeit, das Gefühl fehlender Zugehörigkeit sowie das Gefühl, anderen zur Last zu fallen, sind bekannte mit Suizidalität assoziierte Faktoren.
Suizidprävention beinhaltet eine Vielzahl von Interventionen auf unterschiedlichen Handlungsebenen. Der Ausgangspunkt zu suizidpräventiven Strategien sind Forschungsergebnisse zu den Einflussfaktoren auf suizidales Verhalten aus den Bereichen Gesundheitssystem, Gesellschaft, Kommune, Beziehungen und Individuum. Suizidprävention wird deswegen als eine ressortübergreifende, gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden. In der Suizidprävention setzte sich zunehmend ein multifaktorielles System durch, das die Komplexität der Suizidalität und der individuellen Situation suizidaler Personen würdigt. Die Einteilung erfolgt in universelle Interventionen, selektive und indizierte Interventionen.4
Suizidalität ist in der Regel ein ambivalenter Zustand. Doch auch unabhängig von der Frage einer psychischen Störung liegt hinter scheinbar "plausiblen" Suizidmotiven, zum Beispiel bei Hochaltrigen oder schwer kranken Menschen, eine große Ambivalenz. Der Wunsch, sich das Leben zu nehmen, entwickelt und verändert sich mit den Erfahrungen in zwischenmenschlichen Beziehungen.
Besondere suizidpräventive Kompetenzen sind erforderlich
Suizidprävention ist von einer annehmenden, nicht wertenden, die Selbstbestimmung des Individuums achtenden, wissenschaftlich fundierten, menschlichen Grundhaltung geprägt. Im Vordergrund steht das Verständnis der individuellen Umstände der Betroffenen und das Angebot - nicht der Zwang - zur Hilfe. Menschen, die einen (assistierten) Suizid in Erwägung ziehen, benötigen eine vertrauensvolle, längerfristige psychosoziale, unter Umständen sogar eine therapeutische Begleitung. Gerade die Reflexion der zur Suizidalität führenden Erfahrungen, Einstellungen und psychischen Bedingungen und auch die Veränderung von Lebensumständen bedarf eines längeren Zeitraumes. Nur so können Menschen letztlich eine selbstbestimmte Entscheidung treffen.
Häufig werden Mitarbeitende im Hospizdienst und in der Palliativmedizin mit Todeswünschen konfrontiert. Der Todeswunsch reicht von der Akzeptanz des Todes im Sinne von Lebenssattheit, dem Hoffen auf baldigen Beginn des Sterbeprozesses mit oder ohne Wunsch nach Beschleunigung bis hin zur akuten (bewusst geplanten) Suizidalität mit einem zunehmenden Handlungsdruck, je drängender und akuter der Wunsch nach selbst herbeigeführtem Sterben ist. Der Umgang mit schwer kranken oder sterbenskranken Menschen erfordert besondere suizidpräventive Kompetenzen.
In einem der beiden am 6. Juli 2023 dem Bundestag zur Abstimmung vorgelegten Gesetzesentwürfen zum assistierten Suizid sollte eine Beratungsstruktur geschaffen und finanziert werden, mit der die Unterstützung zum assistierten Suizid deutlich schneller und niedrigschwelliger zur Verfügung gestellt werden würde als Angebote der Suizidprävention.
Empfehlungen für die Suizidprävention in Deutschland
Vor diesem Hintergrund sind dringend gesetzliche Regelungen der Suizidprävention notwendig, durch die die suizidpräventiven Strukturen in Deutschland gestärkt und auskömmlich finanziert werden. Der Deutsche Bundestag hat am 6. Juli 2023 bereits einen Entschließungsantrag zur Suizidprävention verabschiedet. Mehr als 99 Prozent der Bundestagsabgeordneten sprachen sich dafür aus, dass die Suizidprävention in Deutschland maßgeblich gefördert werden muss. Inzwischen hat das Bundesministerium für Gesundheit die Entwicklung einer "nationalen Suizidpräventionsstrategie" in Auftrag gegeben.
Zur Förderung der Suizidprävention sind insbesondere folgende Maßnahmen zeitnah notwendig:5
◆ Gründung und auskömmliche Ausstattung einer zentralen Informations- und Koordinationsstelle zur Suizidprävention mit einer rund um die Uhr erreichbaren Telefonnummer, bei der Betroffene, Angehörige, Helfende und Interessierte schnell und kompetent beraten werden.
◆ Damit sind untrennbar der Erhalt, Ausbau, die Vernetzung und die auskömmliche Finanzierung qualifizierter regionaler, niedrigschwelliger suizidpräventiver Angebote (inklusive Telefon- und Onlineangeboten) zu verbinden, auch für Hinterbliebene nach Suizid und Angehörige suizidaler Menschen.
◆ Der Erhalt und der weitere Ausbau bestehender palliativer und hospizlicher Hilfen am Lebensende sowie von Trauerbegleitungsangeboten als ein wichtiger Teil der Suizidprävention.
◆ Die Förderung des Nationalen Suizidpräventionsprogramms als Netzwerk der Fachpersonen und Institutionen der Suizidprävention.
1. Kurzlink: t.ly/k6ZQ8
2. www.naspro.de/dl/Suizidpraevention-Deutschland-2021.pdf
3. www.suizidpraevention.de
4. Siehe unter Kurzlink: t.ly/nwJlK
5. Siehe Kasseler Aufruf von 6. Juli 2023. Institutionen der Suizidprävention haben zahlreiche Maßnahmen zur Suizidprävention gefordert sowie 20 Millionen Euro zu deren Finanzierung.