„Begleiten, als wäre es ein Sterbender – das könnte ich nicht!“
Wenn ein:e Bewohner:in einen Sterbe- und Todeswunsch äußert oder latent, akut oder sogar dauerhaft Suizidwünsche formuliert, dann sind Mitarbeitende, die sie:ihn betreuen, stark herausgefordert: als Fachkraft, also professionell, und zugleich als Person. "Wenn wir in der Caritas etwas können, dann ist das doch eine an den Bedürfnissen und Wünschen des sterbenden Menschen ausgerichtete Begleitung - und für eine gute Sterbestunde zu sorgen!", sagte vor kurzem eine selbstbewusste Altenpflegerin, die seit über 25 Jahren in einem Caritas-Seniorenzentrum tätig ist und aus tiefer Überzeugung ihren Beruf liebt. Einen echten Selbsttötungswillen - über das Stadium des Wunsches hinaus - habe sie noch nicht erlebt. Sie wüsste auch gar nicht, ob sie sich am Umsetzen dieses Willens beteiligen würde und was es bräuchte, dies eventuell zu tun. Pflegen sei ja das eine, aber zu assistieren, wenn jemand irreversibel Hand an sich lege, um aktiv und vorzeitig das eigene Leben zu beenden: "Da müsste ich lange drüber nachdenken!"
Vor dem Hintergrund dieser Haltung, die ähnlich auch für die vieler anderer Pflegekräfte steht, wird eine christlich geprägte und gelebte Sterbe-, Abschieds- und Trauerkultur in Caritas-Einrichtungen durch suizidale Absichten stark herausgefordert, weil sie Sterben als unverzichtbaren Teil menschenwürdigen Lebens wertschätzt und sich daran messen lassen will.
Haltungswissen und Herzensbildung ermöglichen
Die Beschäftigung mit dem seit Februar 2020 verbrieften Grundrecht auf Selbsttötung, das dem Bundesverfassungsgericht zufolge substanziell im Selbstbestimmungsrecht des:der Einzelnen grundgelegt ist, stellt (nicht nur) für Caritas-Einrichtungen, ihre Mitarbeitenden und Leitungskräfte ein krasses Novum dar, weil es sich um die Aufkündigung des bis dahin in Deutschland geltenden allgemeinen Lebensschutzes handelt, der die Selbsttötung ebenso wie die Fremdtötung ausgeschlossen hatte.
Es braucht nun eine offensiv gestaltete Sensibilisierung und Auseinandersetzung mit den je persönlichen, moralisch verinnerlichten und sozialisierten Überzeugungen. Zugleich ist eine neuerliche Beschäftigung mit institutionellen, christlich geprägten Haltungen, Werten und Normen notwendig. Dies erfordert aufseiten der Einrichtung, dass sie eine ethische Haltung zum Umgang mit ärztlich assistiertem Suizid entwickelt und fortlaufend reflektiert, um sie ihren Mitarbeitenden in geeigneter Weise vermitteln zu können.
Gut begründete Haltungen geben Orientierung, prägen das Verhalten und ermuntern dazu, die Verhältnisse zu gestalten - gerade auch dann, wenn sie herausfordernd sind. Mitarbeitende suchen nach solch guter, glaubwürdiger, in der Belastung standhaltender Begründung. Auf das rechtliche Novum des ärztlich assistierten Suizids muss ein Bekenntnis der Einrichtung antworten, das vor allem einladend wirkt und nicht ausgrenzend-bewertend.
Mitarbeitende suchen nach gut begründeter Orientierung. Caritas-Einrichtungen haben etwas zu erzählen: nicht zuletzt von ihrer Grunderfahrung, dass der freiverantwortliche, dauerhafte und feste Wille zur Selbsttötung, wie ihn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Voraussetzung eines assistierten Suizids macht, in einer menschen- und lebensfreundlichen Unternehmenskultur so gut wie nicht vorkommt. Es geht darum, das unbedingte Gewolltsein jeder Bewohnerin und jedes Bewohners individuell und institutionell auszustrahlen. Und ebenso, angesichts allen individuellen Leidens, eine Kultur und einen Umgang zu etablieren, der Vulnerabilität bis hin zum Sterben als Teil des Lebens versteht und mitträgt. Es geht um kreative Konzepte christlich geprägter, ermutigender Sterbe- und Abschiedskultur.
Außerordentliche Grenzsituationen des Einzelfalles kommen aber auch in einem zutiefst lebensbejahenden Umfeld vor. Sie bedürfen Ultima-Ratio-Antworten, die ebenfalls den Einzelfall würdigen. Hier haben die Einrichtungen unter Aspekten der Verfahrensgerechtigkeit ihre Verantwortung auszuloten. Dafür brauchen sie eine umfassende mitarbeiter:innenindividuelle wie auch institutionelle Kompetenz:
◆ das unterscheidungsfähige Erkennen der Ambivalenz, der Anlässe und der tiefer liegenden Funktion von Sterbe-, Todes- und Selbsttötungswünschen;
◆ ein grundlegendes, nichts tabuisierendes Wissen um die Wirklichkeit "Suizid", das "Suizidmythen" zu erkennen und zu vermeiden vermag;
◆ eine Sicherheit im Sprechen über das Sterben und den Tod sowie über christliche oder religiöse Jenseitshoffnung;
◆ aber auch ein Umgehenkönnen mit eigener Sprachlosigkeit;
◆ das sensible Wissen um No-Gos in der begleitenden, sokratisch-dialogischen Gesprächsführung;
◆ das Wissen um die Bedeutung von Ritualen.
Zugleich bedürfen die Einrichtung oder Organisation und ihre Mitarbeitenden des ethischen Wissens und ethischer Kompetenz sowie der Schulung von Fertigkeiten vor dem Hintergrund des christlich geprägten Menschenbildes und der normativen Identität von Einrichtungen der Caritas. Dazu zählen:
◆ allgemeines Tötungsverbot und Lebensschutz;
◆ Gewissensfreiheit und -schutz des:der Einzelnen;
◆ Haltung der Liebe, Toleranz und Barmherzigkeit;
◆ normative Narrative als Chiffren des Christlichen, zum Beispiel: Du bist gewollt - Gleichnis vom verlorenen Schaf (Luk 15,4-7), oder: Urteilt nicht! - das Gleichnis mit der Ehebrecherin (Joh 8,3-11);
◆ Solidarität, Subsidiarität, Gemeinwohlorientierung;
◆ Wohl der Einrichtung und ihrer Bewohnerschaft;
◆ Fürsorge und Selbstfürsorge samt ihren Grenzen;
◆ Selbstbestimmungskonzepte: Von welcher Selbstbestimmung sprechen wir? Wo liegen Grenzen der Selbstverfügung?
◆ Recht auf freie und informierte Selbstbestimmung;
◆ Wahrhaftigkeit, Diskretion, Schweigepflicht und Datenschutz;
◆ Fertigkeiten begleiteter und wertorientierter Willensbildung;
◆ ein sicherer Umgang mit der Unterscheidung zwischen der Hilfe beim Sterben und der Hilfe zum Sterben, mit der palliativen Sedierung und dem freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit;
◆ anwendbare, der jeweiligen Situation gerecht werdende Prozesse der Güterabwägung.
Eine Gemeinschaft, die trägt
Es braucht zusätzlich institutionsethisch verankerte Formen der Ethikberatung: die ethische Fallbesprechung und Orientierungshilfen im Sinne operationalisierter Unternehmensmoral, die Mitarbeitende mitgestalten, indem sie organisatorisch einbezogen sind.2
Gemäß der afrikanischen Weisheit "Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen" braucht es am anderen Ende des Lebens eine (Dienst-)Gemeinschaft, die situationsadäquat mit Sterbe-, Todes- und Tötungswünschen umgehen kann. Hierzu bedarf es offen kommunizierter institutionell verankerter Verfahren (Teambesprechungen, Information und Beteiligung der Leitung, Zusammenarbeit mit der Seelsorge und ACP-Zuständigen3, Begleitung der Angehörigen). Dann bleiben weder der sterbende Mensch noch die ihn Pflegenden mit der Herausforderung allein.
Anspruch eines Ethikrats an die Befähigung Mitarbeitender
Ein moralisch überzeugender Umgang mit den Sterbewünschen der Bewohner:innen und Patient:innen kirchlicher Einrichtungen setzt voraus, dass die Mitarbeitenden erstens die für diesen Bereich relevanten Güter und Werte kennen und zweitens die zum Schutz dieser Güter und Werte notwendigen Regeln und Normen situationsadäquat anwenden können und damit ihrer jeweiligen konkreten Verantwortung gerecht werden.1
1. Ethikrat Paderborn: Der Umgang mit Sterbewünschen in katholischen Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen - Empfehlung. Paderborn, 2022, S. 13. Download per Kurzlink:
https://tinyurl.com/3nn84fsf
2. Der Autor dieses Beitrags hat mehrere Prozesse mit Einrichtungen der Altenhilfe begleitet und durchgeführt, so in St. Pius, Cloppenburg, und St. Antoniusstift, Emstek. Vgl. per Kurzlink: https://tinyurl.com/5n684n6r
Die Franziskus-Gesellschaft Münster hat einen Orientierungsrahmen für Mitarbeitende entwickelt (Download per Kurzlink: https://tinyurl.com/jcfby8wc); weitere beispielhafte Orientierungsrahmen finden sich unter: https://tinyurl.com/yc79rxrr sowie unter: https://tinyurl.com/rdum3v3a
3. Advance Care Planning (ACP) erlaubt die Vorausplanung der Sorge für palliativ betreute Patient:innen gemäß ihren Wünschen.