Nicht behindert - aber anders
"Entschuldigen sie, kann ich Ihnen helfen?" - Vielleicht kennen Sie auch solche Situationen. Eine hilfsbereite Dame wendet sich an einen circa 50 Jahre alten Mann, der eine Behinderung an Armen und Händen hat. Umständlich versucht er, sich die Jacke auszuziehen. "Nein!", antwortet er kurz und für meinen Geschmack sehr schroff. "Unfreundlich", denke ich bei mir, "komischer Typ!" Schließlich hat sie es doch nur gut gemeint.
Die Erklärung für dieses in meinen Augen merkwürdige Verhalten erhalte ich einige Zeit später, als ich mit ihm und anderen über behindertenspezifische Themen unserer Zeitschrift "Sozialcourage" philosophiere. "Was glauben Sie", erklärt er mir, "wie das bei mir ankommt, wenn ich jeden Tag mehrmals angesprochen werde, ob ich Hilfe benötige?" Er könne das einfach nicht ertragen. Jedes Mal werde ihm mit dieser Frage vor Augen geführt, dass er behindert und damit hilfsbedürftig sei.
Ich selbst kann seine Reaktion heute gut verstehen. Ja, aber wie sollte ich mich denn als sogenannter nichtbehinderter Mensch ihm gegenüber verhalten, frage ich ihn. Er antwortet: "Gehen Sie ganz normal mit mir um. Ich habe genügend Selbstbewusstsein, um Hilfe zu bitten, wenn dies nötig ist."
Nun ist der "normale" Umgang oft leichter gesagt als getan. Möglicherweise hätte ein Augenblick des Abwartens genügt, um zu sehen, dass er sehr wohl seine Jacke selbst ausziehen kann und das auch will. Vielleicht ist das Beispiel des behinderten Mannes auch nicht zu verallgemeinern. Deutlich wird aber, dass die Partizipation von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft eine Sache ist, die beide Seiten betrifft: die Menschen mit und die ohne Behinderung. Es ist wichtig, immer wieder den Dialog zu pflegen, Fragen zu stellen und Antworten zu suchen. Vielleicht trägt ja auch die Lektüre unseres Magazins dazu bei, Barrieren im Kopf abzubauen.
Maßstäbe für Behinderung
In Deutschland sind mehr als 43 Millionen Menschen auf Sehhilfen angewiesen. 7,5 Millionen Menschen leben mit Diabetes. Jeder zweite Bundesbürger hat Rückenprobleme. Anerkannt schwerbehindert sind rund 6,9 Millionen Menschen.
Die Erscheinungsformen von Behinderung sind sehr unterschiedlich. Es wäre falsch, die Unterschiede zu ignorieren. Menschen mit schwerer Behinderung begreifen sich durchaus als anders. Der Schauspieler Peter Radtke, der selbst mit der Glasknochenkrankheit lebt, bringt es auf den Punkt: "Was wäre ich ohne mein Anderssein? Ein Kiesel im Flussbett, ein Insekt unter Millionen Insekten. Im Reich der Blinden ist der Einäugige König, im Reich der Sehenden ebenso." Für Radtke ist es seine augenfällige Behinderung, die ihn aus der Masse hervorhebt. Er spricht in diesem Zusammenhang
vom "Luxus der Unterprivilegierten".
Dass Menschen mit Behinderung nach wie vor zu denen gehören, die benachteiligt sind, kritisierte Richard von Weizsäcker bereits 1993. In seiner berühmten Rede vor Selbsthilfegruppen prangert er an, dass die Forderungen der sogenannten Leistungsgesellschaft normgebend sind. "Wäre soziales Verhalten (hingegen) der beispielgebende Maßstab, dann müssten wir Menschen mit Downsyndrom nacheifern. Gemessen an der Sensibilität, mit der Taubblinde durch die Haut wahrnehmen können, sind Sehende und Hörende behindert. Vielleicht würden Rollstuhlfahrer einen
Professor, der nicht lachen und weinen kann, als in seinem Menschsein behindert einschätzen." Dabei - auch das spricht der Altbundespräsident an - ist es ein Privileg, nicht behindert zu sein, das jedem Menschen jederzeit genommen werden kann.
Tatsächlich kommen nur 4,6 Prozent der behinderten Menschen mit einem Handicap zur Welt. Die weitaus meisten Behinderungen werden als Folge von Krankheit oder Unfall im Laufe des Lebens erworben. Menschen mit Behinderung sind Menschen wie du und ich - das ist eine zentrale Botschaft der Caritas. Es ist normal, verschieden zu sein. Die Verschiedenheit der Menschen ist allerdings oft eine Tatsache, die Teilhabe erschwert oder sogar verhindert. Noch heute gibt es Sonder-Kindergärten, in denen ausschließlich behinderte Kinder gefördert werden. Kaum ein europäisches Land hat so viele Förderschulen wie Deutschland. Der noch vor wenigen Jahren bezeichnende Begriff der "Sonderschule" drückt die Konsequenz aus. Schülerinnen und Schüler mit Behinderung werden in der Regel "ausgesondert". Für junge Erwachsene gibt es darüber hinaus eigene überbetriebliche Ausbildungsstätten. Ihren Arbeitsplatz finden viele in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Ganze Stadtteile in kleinen und mittleren Städten werden geprägt von Einrichtungen der Behindertenhilfe. Eine aktuelle Sinus-Milieu-Studie belegt, dass 53 Prozent der deutschen Bevölkerung die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung für unvermeidlich halten.
Politisch hat sich viel getan
Auf der anderen Seite hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auch vieles getan. Von grundsätzlicher Bedeutung: Der Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes wurde 1994 nach zähem Ringen ergänzt: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Der Gesetzestext wendet sich ausdrücklich gegen jede Form der Diskriminierung. Im Jahre 2006 trat das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in Kraft. "Ambulant vor stationär" - das ist eine zentrale Forderung mittlerweile aller im Bundestag vertretenen Parteien. Die Pflegeversicherung gilt prinzipiell auch für Menschen mit Behinderung. Und die Sozialgesetzgebung regelt die Finanzierung der Eingliederung in den zentralen Bereichen der medizinischen Rehabilitation, der Teilhabe am Arbeitsmarkt und am Leben in der Gemeinschaft. Selbsthilfegruppen, Verbände und Rehabilitationsfachleute drängen aktuell auf die volle Teilhabe behinderter Menschen im Sinne dieser Grundlagen. In einem aufwendigen Programm der Aktion Mensch wurden große Wohn- und Komplexheime entkernt und in kleine gemeindenahe Wohneinheiten umstrukturiert. Die Aktion unterstützt auch lokale Teilhabekreise der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) (siehe Beitrag auf S. 12).
"Nichts über uns ohne uns!"
Relativ aktuell ist die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch Deutschland. Ziel ist es, Chancengleichheit und die Wertschätzung der Individualität und Vielfalt zu erreichen. Es geht um eine inklusive Gesellschaft. Das bedeutet auch, dass sich nicht der Mensch mit Behinderung anpassen muss, sondern die Gesellschaft hat sich mit ihren Strukturen auf die individuellen Bedürfnisse einzustellen. Die Konvention beschreibt klar, wie die Rechte behinderter Menschen politisch umgesetzt werden sollen. Der Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe verpflichtet dazu, eine barrierefreie und für behinderte Menschen zugängliche Umgebung zu schaffen. Außerdem sollen behinderte Menschen und ihre Verbände an allen politischen Entscheidungen beteiligt werden, von denen sie betroffen sind. "Nichts über uns ohne uns!" - die Forderung vieler Selbsthilfe-Initiativen wird damit mit Leben gefüllt. Kurz gesagt, geht es um die Abschaffung von Behinderungen, denn: "Behindert ist man nicht - behindert wird man."
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