„Meine Innenwelt kennt keine Grenzen“
"Wenn ich gefragt werde, wie ich "Teilhabe" erlebe, spüre ich als Erstes den Impuls, mich nach jemandem umzuschauen, dem diese Frage gelten könnte. Teilhabe ist in meinen Ohren immer ein Thema derer, die aus irgendeinem Grund nicht ganz zur Gesellschaft gehören und die man bestenfalls einen Teil haben lässt. Mein eigenes Selbstverständnis ist jedoch ein völlig anderes: Ich war immer mittendrin im prallen Leben und habe von Geburt an das erlebt, was man heute Inklusion nennt. Aber "Teilhabe" - nein, mit so wenig wollte und will ich nicht zufrieden sein müssen.
Ich bin 1968 mit einer schweren, fortschreitenden Körperbehinderung auf die Welt gekommen, und die Mediziner prognostizierten früh mein baldiges Ableben. Ich war jedoch nicht bereit, mich an diese Prophezeiung zu halten. Und so war nach der Vorschulzeit - die ich übrigens umstandslos in einem Regelkindergarten verbrachte - die nächste amtsschimmelige Bescheinigung fällig: die Sonderschulpflicht. Aber davon ließen sich meine Eltern nicht beeindrucken, widersetzten sich jeder behördlichen Besserwisserei und ermöglichten mir - einem rundum pflegebedürftigen Rollstuhlfahrer - eine wunderbar normale Schulzeit an normalen Schulen. Dass eine Körperbehinderung kein Grund für einen Sonderstatus ist - das lernte nicht nur ich, sondern auch meine Lehrer, Klassenkameraden und Freunde.
Nicht dass meine Behinderung ignoriert wurde - nein, das wäre ja gar nicht möglich gewesen. Natürlich hatte ich immer auch besondere Bedürfnisse, und die gehörten und gehören bis heute einfach dazu. Das ändert aber nichts daran, dass ich ein Mensch wie jeder andere bin. Meine Höhen und Tiefen, Stärken und Schwächen unterscheiden sich nicht von denen meiner Mitmenschen. Mag mein Äußeres auch noch so eingeschränkt sein, meine Innenwelt kennt keine Grenzen. So habe ich natürlich auch vor der Liebe nie haltgemacht, und ich erfuhr vermutlich genauso viele Nackenschläge und Glücksmomente wie die meisten anderen auch. Jedenfalls lag es mir immer fern, mich als Opfer meiner Behinderung zu sehen. Ich habe sehr viele schöne und traurige Erfahrungen sammeln dürfen, bis ich die Frau meines Lebens gefunden und geheiratet habe. Für mich ist das zugleich das größte Wunder und die schlichteste Normalität.
"Als Betroffener kann ich mit meinen Cartoons provozieren"
Zwar habe ich ausgiebig studiert, aber für einen ordentlichen Abschluss und eine geregelte Arbeit fehlte mir leider doch die körperliche Ausdauer. Stattdessen habe ich mich nach dem Studium auf mein künstlerisches Schaffen konzentriert, das Schreiben, Liedermachen und Zeichnen. Alles das hatte nie mit dem Thema Behinderung zu tun gehabt, bis mich eines Tages der Chefredakteur einer Zeitung aufforderte, einen Cartoon zur Pflegeversicherung zu kreieren. Diesem ersten Auftrag folgten weitere, und wenn ich mich auch anfangs nur widerwillig als professioneller "Behinderten- Cartoonist" betätigte, entdeckte ich mit der Zeit die Vorteile dieser Spezialisierung: Ich kannte mich aus, konnte mir als Betroffener viel Provokatives erlauben - und hatte eine Marktlücke zu füllen.
Mittlerweile habe ich mich vom künstlerischen Arbeiten auf das kommunalpolitische Engagement verlegt und setze mich im Freiburger Beirat für Menschen mit Behinderung dafür ein, dass die Barrieren im öffentlichen Raum und in den Köpfen abgebaut werden. Dabei spüren wir alle den Rückenwind durch die UN-Behindertenrechtskonvention: Unsere Forderung nach Inklusion ist nicht nur eine fixe Idee, sondern geltendes Recht. Diese Gesetzeslage ist wirklich ein Fortschritt gegenüber der Zeit, als meine Eltern für meine Inklusion kämpften. Seither hat sich aber noch viel zu wenig verändert: Noch immer spielen Förderschulen, spezielle Wohneinrichtungen und Sonderlösungen eine dominante Rolle. Noch immer folgen Architekten und Ingenieure eher ihrem Drang zu extraordinärem Design als der Notwendigkeit der Barrierefreiheit. Noch immer halten viel zu viele Entscheidungsträger in der Politik uns für eine Randgruppe, die man gerne mit "Teilhabe" vertröstet.
Aber die Zeit spielt für uns: Alle diese wichtigen Leute werden irgendwann alt. Eines Tages werden sie dieselben Forderungen äußern wie wir. Und spätestens dann ziehen wir an einem Strang.
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