Ein Sturz aus sieben Metern verändert alles
Die Hitze war unerträglich. Mit jedem Schritt auf der Leiter kam er dem Inferno näher. Unter der Atemmaske rann der Schweiß. Rotierendes Blaulicht durchschnitt die Nacht. Nur noch wenige Zentimeter trennten ihn vom Fenster. Nachdem er das Glas zertrümmert hatte, griff er in den Fensterrahmen, um sich herüberzuziehen. Doch irgendetwas lief schief. Er verlor den Halt, griff ins Leere. Und stürzte. Dann war alles schwarz.
Was genau geschehen war, erfuhr der freiwillige Feuerwehrmann Andreas Braun erst viel später. Da saßen seine Kameraden an seinem Bett im Tübinger Krankenhaus. Sie zeigten ihm seinen vollkommen verbeulten Feuerwehrhelm. Sie erzählten von seinem Sturz, sieben Meter fünfzig in die Tiefe. Und vom Aufprall, bei dem seine Handgelenke und Brustwirbel brachen wie Streichhölzer.
Andreas Braun wird nie wieder als Feuerwehrmann ausrücken. Seit jener Nacht auf den 3. September 2005 sitzt er querschnittsgelähmt im Rollstuhl.
Ein ganz normales Leben – bis zu diesem Einsatz
Bis zu diesem Tag verlief Brauns Leben geordnet. Der damals 24-Jährige aus dem schwäbischen Wolfenhausen bei Tübingen studierte Mathematik und Geschichte, spielte Tuba im Musikverein des Dorfes und war Mitglied der freiwilligen Feuerwehr, genau wie sein Vater und sein Bruder Martin. Andreas machte die Atemschutz- und Funkerausbildung und war an vielen der rund 20 Einsätze im Jahr beteiligt. Bis zu jener Nacht im Spätsommer 2005.
Ein halbes Jahr lang liegt Andreas Braun im Krankenhaus, Reha im April und Mai. Braun hat Glück im Unglück: Bei seinem Unfall war er im Einsatz, daher zahlt die Berufsgenossenschaft - nicht nur die medizinische Behandlung, sondern auch die Reha und den Umbau zu Hause. Doch schon im Krankenhaus erkennt er, was schiefläuft. Bei Hilfsmitteln und Zuschüssen für Umbauten gibt es drei Klassen von Menschen: die über die Berufsgenossenschaft versicherten, die privat sowie die gesetzlich versicherten. Das liegt Andreas Braun quer im Magen. Obwohl er selbst in der Versichertenklasse eins ist.
Die Ungerechtigkeiten lassen ihn nicht los
Schneller als gedacht kommt er allein zurecht in der umgebauten Wohnung im Haus seiner Eltern, das der Urgroßvater Karl 1904 gebaut hatte. Er schließt sein Studium ab und unterrichtet Mathematik und Geschichte am Eugen-Bolz-Gymnasium in Rottenburg, im Rollstuhl. Er tritt dem Landesverband Selbsthilfe Körperbehinderter Menschen Baden-Württemberg (LSK) bei. Sein Engagement bei der freiwilligen Feuerwehr ersetzt er durch den Einsatz dort. Doch das reicht ihm schon bald nicht mehr. Denn der LSK darf zwar beraten, doch betroffenen Menschen nicht individuell helfen. Andreas Braun wälzt Ideen, spricht mit Schicksalsgenossen, erfährt von Ungerechtigkeiten. Das lässt ihm keine Ruhe. Da muss doch was zu machen sein!
Schließlich kommt er auf die Idee einer Stiftung. Gemeinsam mit dem LSK gründet er am 22. September 2022 die "Mitten im Leben - Andreas Braun Stiftung" unter dem Dach der "CaritasStiftung Lebenswerk Zukunft". "Mit der Stiftung möchte ich das Delta ausgleichen", sagt der umtriebige Tübinger. Mit "Delta" meint er den Unterschied zwischen denen, die nach einem Unfall mehr oder weniger versorgt sind, und denen, die vor dem Nichts stehen. Meist Knall auf Fall. Denn nur drei Prozent aller Behinderungen sind angeboren; alle anderen entstehen durch Krankheit oder Unfall.Doch bevor die Stiftung die ersten Anfragen bearbeitet ("Wir hatten schon 15 bis 20"), möchte der gründliche Mathematiker Braun erst einmal Kriterien entwickeln, um alle gleich und gerecht zu behandeln. Dazu hat er sich drei ausgewiesene Fachleute ins Kuratorium geholt: LSK-Geschäftsführerin Sabine Goetz, Andreas Badke, Stellvertretender Ärztlicher Direktor der Tübinger Unfallklinik, und Annette Widmann-Mauz, Bundestagsabgeordnete und frühere Staatsministerin im Gesundheitsministerium. Auch im Stiftungsbeirat herrscht Kompetenz: Das Gremium besteht ausschließlich aus Menschen mit einer Behinderung, die wissen, wovon sie sprechen.
Um das Gründungskapital der Stiftung von 50.000 Euro möglichst schnell möglichst spürbar zu erhöhen, wirbt Andreas Braun mit seinen Mitstreiter:innen um Spenden. Allein bei der riesengroßen Feier zu seinem 40. Geburtstag war das ganze Dorf auf den Beinen: die Familie, die Feuerwehr, der Musikverein, der Bürgermeister und auch sonst jeder. 10.000 Euro lagen am Abend in der Kasse. Anfang Mai gab das Akkordeonorchester im benachbarten Remmingsheim ein Benefizkonzert und Brauns freiwillige Feuerwehr plant hinter seinem Rücken für 2024 "irgendetwas Größeres" für seine Stiftung. Wer Andreas Braun im Gespräch erlebt, wie er von seinen Plänen berichtet, gestikuliert oder sich schon auf die nächste Aufgabe vorbereitet - er ist nebenbei ehrenamtlicher Abgeordneter im Gemeinderat von Neustetten und im Tübinger Kreisrat -, der sieht einen Mann, der vor Engagement nur so sprüht.
Unterstützung in schweren Zeiten
Braun blickt unverdrossen nach vorn. Und wenn er einmal zurückblickt, dann stiehlt sich unvermittelt ein sanfter Glanz in seine Augen. Wenn er über die vielen Menschen berichtet, die ihm durch die schweren Jahre geholfen haben. Da ist Sabine Goetz vom LSK. Da ist der Kumpel, der umsonst Homepage und Flyer gestaltet. Da sind die Nachbarn, die Bekannten oder die freiwillige Feuerwehr, die ihren Kameraden nie vergessen hat. Und da ist vor allem seine Familie, sein Bruder Martin und seine Schwägerin Stefanie. "Es ist unglaublich, was die geleistet haben", sagt Andreas Braun ganz leise. Und nicht zuletzt sind da seine quirligen Neffen und Nichten. Wenn Andreas Braun mit den drei Kindern um die Wette strahlt, könnte man meinen, es hätte sie nie gegeben, diese Nacht auf den 3. September 2005.