"Ich weiß, wie sich Leere anfühlt"
Viktoria ist eine offene und reflektierte junge Frau mit wachen, sympathischen Augen. Sie ist gerade 20 geworden. Vor fünf Jahren versuchte sie, sich das Leben zu nehmen. "Es gab viele familiäre Probleme", erzählt sie. "Meine Mutter war Alkoholikerin. Das war für mich, meine zwei Jahre jüngere Schwester und meinen Vater enorm belastend." Die Mutter starb an den Folgen der Krankheit. Viktoria kam in eine neue Schule. Dort wurde sie zunächst gemobbt. Eine kompetente Klassenlehrerin habe das zwar sofort bemerkt und recht schnell eingegriffen. "Mir ging es trotzdem sehr schlecht", erinnert sich Viktoria. "Ich verletzte mich selbst und hatte Suizidgedanken."
Weder ihren Freunden noch ihrer Familie wollte sie sich anvertrauen. Aus Angst. Angst davor, nicht ernst genommen zu werden. Es habe in der Schule einige Leute gegeben, die sich selbst verletzt hätten und das offen herumgezeigt hätten. Zu denen wollte Viktoria nicht gehören. Es hieß, die wollten nur Aufmerksamkeit. "Im familiären Umfeld hatte ich Angst davor, dass nicht anerkannt wird, dass es so etwas wie psychische Erkrankungen überhaupt gibt", erzählt sie. "Dass ich Ärger oder Wut zu spüren bekomme." Sie rutschte immer tiefer in die Depression, kam nach ihrem Suizidversuch in eine Klinik, machte eine Therapie. Und war überrascht darüber, wie viel Verständnis und Unterstützung sie von ihrer Familie und ihren Freunden bekam. Die Familie habe ihre Krankheit zusammengeschweißt: Sie, ihren Vater ihre kleine Schwester.
Viktoria ging es immer besser. Sie lernte, auf sich und auf ihre Bedürfnisse zu achten. Inzwischen studiert sie Chemie, geht Tanzen und züchtet Gemüse auf dem Balkon.
Von der Ratsuchenden zur Beraterin
Sich nur um sich selbst zu kümmern, reichte ihr jedoch nicht. "Ich habe viele schlimme Dinge erlebt," sagt sie, "aber die bekommen einen Sinn, wenn ich mit meinen Erfahrungen anderen helfen kann."
Sie wurde auf das Projekt [U25] der Caritas aufmerksam und begann dort eine mehrmonatige Ausbildung. Seit 2019 berät sie unter 25-jährige Menschen mit Depressionen und Suizidgedanken. Diese können sich bei [U25] unkompliziert per E-Mail melden und sich ihre Gefühle von der Seele schreiben. Viktoria schreibt zurück. "Gerade habe ich zwei Ratsuchende", erzählt sie. "Ich brauche zwei bis drei Stunden pro Mail, mache mir wahnsinnig viele Gedanken und gebe mir viel Mühe." Die meisten Ratsuchenden melden sich nur einmal. Dass ihre E-Mails Abschiedsbriefe sind, glaubt Viktoria nicht. "Wenn sich jemand hinsetzt und alles, was ihm auf der Seele liegt, aufschreibt, dann bringt das auch schon was. Es entlastet."
Manche Korrespondenzen gehen über Monate oder Jahre hinweg. Sie hören dann oft abrupt auf. Viktoria hofft, dass die Ratsuchenden in der Zwischenzeit anderweitige Hilfe gefunden, möglicherweise auch eine Therapie begonnen haben. "Jeder Fall ist individuell, trotzdem gibt es Probleme, die häufiger auftreten", berichtet Viktoria. "Probleme mit den Eltern, Druck in der Schule und bei der Arbeit." Die Corona-Pandemie habe das verstärkt, weil man lange Zeit aufeinander hockte. "Ich kann mir vorstellen, dass da Spannungen entstehen", sagt sie.
Das Beratungsangebot von [U25] gibt es seit zehn Jahren. Es wird gut angenommen. Außer Viktoria arbeiten dort derzeit noch 52 andere ehrenamtliche Peers, also junge Menschen unter 25, die andere junge Menschen beraten. [U25] ist mit der neu gegründeten Berliner Fachstelle Suizidprävention vernetzt. Die möchte die Suizidrate in Berlin bis 2030 um ein Drittel senken. Laut Statistik nahmen sich im Jahr 2021 von 100.000 Berlinern im Durchschnitt fast zwölf das Leben. "Unsere Vision ist eine Stadt, die psychische Gesundheit ernst nimmt und diese in allen gesellschaftlichen Bereichen fördert", heißt es auf der Homepage der Fachstelle.
Psychische Gesundheit ernst zu nehmen. Das ist auch Viktoria enorm wichtig. Sie empfiehlt, genau hinzuschauen und hinzuhören bei Kindern und Jugendlichen. Und konkret nachzufragen - gerade wenn Suizidgedanken im Spiel sind.
Heute sieht sie Depressionen und Suizidgedanken nicht mehr als Teil ihrer Persönlichkeit, wie sie das noch vor ein paar Jahren tat. Trotzdem weiß sie, dass es vielen jungen Menschen ähnlich geht wie ihr damals. "Ich kann mich in ihre Lage hineinversetzen, weil ich weiß, wie sich ‚Leere‘ anfühlt, weil ich mich selbst jahrelang leer gefühlt habe."
Und sie weiß, wie wichtig es ist, dass jemand da ist, der einen versteht. Ihr Leben wäre vermutlich anders verlaufen, glaubt sie, wenn sie damals das Beratungsangebot [U25] gekannt hätte.
"Ich kann die Vergangenheit nicht mehr ändern, aber ich kann für eine bessere Zukunft kämpfen", sagt sie. "Eine Zukunft, in der man über einen Termin beim Psychotherapeuten genauso offen spricht,
wie über einen Termin zur Physiotherapie." Eine Zukunft, in der psychische Erkrankungen nicht mehr stigmatisiert und totgeschwiegen werden. Aus heutiger Sicht würde Viktoria ihrem schwer depressiven 14-jährigen Ich raten: "Halte durch! Es wird besser."
Die Berliner Fachstelle Suizidprävention wird von der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege gefördert. Träger ist der Caritasverband für das Erzbistum Berlin. Die Fachstelle hat das Ziel, die Suizide in Berlin bis 2030 um ein Drittel zu senken und brachte dazu eine neue Website mit zahlreichen Hilfsmöglichkeiten an den Start: www.suizidpraevention-berlin.de