Wohnpaten kämpfen für ein Menschenrecht
Zwanzig Jahre hat Tatjana Lutz in einem 28-Quadratmeter-Zimmer im Bismarckviertel gelebt. Die kleine Frau mit ukrainischen und französischen Wurzeln war viel unterwegs. Sie besuchte ihre Kinder und Freunde. Alles schien gut. Doch der Hauptmieter hatte den Überblick verloren. Jedenfalls kündigte ihm die Wohnbaugesellschaft und - mitgehangen, mitgefangen - Untermieterin Lutz gleich mit.
Wenn sie an diesem sonnigen Tag auf die erste Januarwoche zurückblickt, bricht der 73-Jährigen die Stimme, zittern die Hände. "Zwei resolute Damen kamen, nahmen mir den Schlüssel ab. Schnell, schnell, schnell, herrschten sie mich an. Ich konnte meinen Ausweis und einige Sachen packen und schon haben sie mich buchstäblich aus meiner Wohnung geschoben", erinnert sie sich. Plötzlich stand sie mit ihrem Köfferchen und wackligen Knien in der Kälte. Doch sie hatte Glück: Freunde boten ihr einen ersten Unterschlupf. Dann zog sie mit Hilfe ihres Sohnes in ein Hotel und kam über drei, vier Ecken zu den Augsburger Wohnpaten, einem Projekt des Freiwilligen-Zentrums Augsburg im Verbund der Caritas.
Die Chemie im Tandem muss stimmen
Nun sitzt sie an dem großen Tisch in deren Räumen, scherzt mit der Leiterin der Wohnpaten, Gabriele Opas, flachst mit ihrem Wohnpaten Franz Ketterle und blickt vergnügt auf den Grundriss ihrer neuen Zweizimmerwohnung: ein ehemaliges Ladengeschäft im Arbeiterviertel Hettenbach. Die Prachtstraßen liegen woanders, aber das Viertel hat Charme. Hier im Nordwesten ist die halbe Welt zu Hause. Keine 50 Meter weit weg fließt der Hettenbach, sprießen Blumen und Grün.
Franz Ketterle sitzt neben ihr - und wenn er an den gemeinsamen viermonatigen Weg mit Tatjana Lutz denkt, weiß er wieder, warum er sich freiwillig den Augsburger Wohnungsmarkt antut. Bewerbungsmappen anlegen, Dokumente organisieren, am Telefon sitzen oder eine Wohnung mit schimmeligen Wänden anschauen, für die der Eigentümer Exorbitantes aufruft. "Spaß macht das nicht. Wenn wir aber gemeinsam eine Wohnung finden, dann belohnt das alle Mühen", sagt der 66-jährige Rentner.
Für das intensive Miteinander - momentan arbeitet Franz Ketterle ein bis zwei Stunden täglich für mehrere Wohnungssuchende - muss die Chemie stimmen. Deshalb bringt Gabriele Opas die Menschen zusammen und schaut, wo es funkt. Regelmäßig lädt sie alle aktiven Patinnen und Paten ein und will wissen, wie es ihnen geht.
Mehr als nur Wohnungsvermittlung
Warum aber braucht die Stadt Augsburg neben ihren vielen funktionierenden sozialen Einrichtungen auch noch Wohnpaten? "Weil diese ihr eigenes Netzwerk mitbringen, in der Regel mehr Zeit haben und sie es sind, die mit ihrer Alltagskompetenz für ihre Klienten eine Lanze brechen können", erklärt Gabriele Opas. Im September 2021 hat die eigentliche Projektarbeit begonnen. Das Augsburger Sozialreferat finanziert das Projekt bis Ende 2022 und es laufen Gespräche über eine Verlängerung, denn alle wissen: Wohnpatinnen und -paten werden länger gebraucht.
Wer bei ihnen aufschlägt, hat im Wettbewerb um die wenigen bezahlbaren Wohnungen schlechte Karten. In der Regel haben diese Menschen wenig Glück im Leben gehabt, sie haben kaum Ressourcen und noch weniger Selbstvertrauen und wenn sie mit der Wohnung ihren Rückzugsort verlieren, droht eine Abwärtsspirale.
Da ist es für sie ein Geschenk, wenn sich ein Wohnpate wie Franz Ketterle um sie kümmert. "Es geht ja nicht nur um die notwendigen Unterlagen, vielmehr benötigen die Menschen Zuspruch, jemanden, der ihnen hilft, sich zu kümmern, und mit ihnen Zeit verbringt", formuliert Gabriele Opas die Jobbeschreibung für ihre Wohnpaten. Hilfe zur Selbsthilfe ist das Ziel. "Es ist eine tolle Aufgabe, aber man braucht Empathie, Verhandlungsgeschick und gute Argumente" - und darin seien viele Freiwillige Experten, fügt die Leiterin hinzu.
Ohne Fortbildung geht es nicht
Das notwendige Wissen erhalten die angehenden Wohnpatinnen und -paten in drei komprimierten Fortbildungen. Referenten informieren sie über den Wohnungsmarkt, sie studieren den sozialen Leistungskanon, auf den viele der Suchenden Anspruch haben. Und sie lernen, wie sie auch den Menschen hinter der negativen Schufa-Auskunft sichtbar machen.
Rund 15 Wohnungspatinnen und -paten hat das Projekt ausgebildet, von denen fünf sich aktuell stark engagieren. Andere wollen das ebenfalls tun, lernen aber noch, zum Beispiel Asiye Tanık. Die 31-Jährige ist mit ihrem Mann 2019 nach Deutschland geflüchtet. "Hier haben wir so viel Unterstützung vom Freiwilligen-Zentrum erhalten, davon wollen wir jetzt etwas zurückgeben", sagt sie. Mit Wohnpatin Ursula Mücke bildet sie ein Tandem und profitiert von ihrer Erfahrung: "Schließlich ist die deutsche Bürokratie kompliziert", sagt die 66-Jährige. Andererseits kann Asiye Tanık mit Eigentümern und Wohnungssuchenden Türkisch sprechen. Das ist manchmal ein unschätzbarer Vorteil. "In Augsburg gibt es so manchen türkischen Eigentümer", weiß Ursula Mücke.
Immer mehr Hilfsanfragen an das Caritas-Freiwilligenzentrum
Ursula Mücke hat sich lange als Sozialpatin engagiert. "Zu uns kamen so viele verzweifelte Menschen, denen - zum Beispiel wegen Eigenbedarfs - gekündigt wurde. Ich konnte für sie nichts tun, deshalb engagiere ich mich heute als Wohnpatin", sagt sie.
Arbeit für die Wohnpaten gibt es mehr als genug. "Wir bekommen immer mehr Anfragen, bis zu drei pro Woche", sagt Gabriele Opas. An ihrem Tisch sitzen dann jene, die es in Augsburg besonders schwer haben. Wie Tatjana Lutz verweisen städtische wie caritative Einrichtungen Menschen inzwischen an das Wohnpaten-Projekt. Das Positive daran: In Augsburg arbeiten die Einrichtungen eng zusammen, damit niemand durch das soziale Netz fällt.
Doch die Situation auf dem Wohnungsmarkt wird immer prekärer. "Es fehlt nicht an Wohnungen in Augsburg, aber sehr wohl an bezahlbarem Wohnraum, obwohl die Wohnbaugenossenschaften aktuell sehr viel bauen", sagt Wolfgang Krell, Leiter des Freiwilligen-Zentrums. Mehr als 3000 Suchende stehen auf den Wartelisten. Nun kommen die aus der Ukraine geflüchteten Menschen hinzu.
Ein Projekt für die Zukunft
Diese Situation können auch die Wohnpaten nicht auflösen. Aber sie helfen jenen, die ohne Unterstützung vielleicht verloren gingen. Fünf Wohnungen konnten die Wohnpaten nun in kurzer Zeit vermitteln. "Das ist ein großer Erfolg", sagt Wolfgang Krell. Dieser bemisst sich nicht nur in Quadratmetern, sondern auch in einer anderen Währung. Die Wohnpaten schenken Zeit und Aufmerksamkeit, für Menschen ohne Netzwerke vielleicht das größte Geschenk. "Franz hat nicht auf Mitleid gemacht, sondern gesagt: ,Das kriegen wir hin‘ und mich damit seelisch aufgebaut. Und dafür bin ich sehr, sehr dankbar", sagt Tatjana Lutz. Auch Franz Ketteler fühlt sich beschenkt. "Die Menschen zeigen mir viel Dankbarkeit, selbst wenn es mit der Wohnung noch nicht geklappt hat."
Der soziale Wohnraum wird noch viele Jahre knapp bleiben. Deshalb braucht es Menschen wie Franz Ketterle, Ursula Mücke und Asiye Tanık - nicht nur in Augsburg. Inzwischen klopfen andere Kommunen in der Fuggerstadt an. Für Gabriele Opas und Wolfgang Krell sind die Wohnpaten ein Projekt der Zukunft. Das ist für Wohnungssuchende eine gute Nachricht.