Auf der Flucht vor den Taliban
Rahmatullah H., den alle Rahmat nennen, und seine Frau Aziza stehen auf der Wendeltreppe einer Flüchtlingsunterkunft in Freiburg. In den Nachbarhäusern gegenüber spielen Kinder in liebevoll eingerichteten Wohnzimmern. In den Vogesen, die sich an diesem Tag Anfang Mai am Horizont abzeichnen, liegt Schnee. Eigentlich ein Freiburger Idyll, doch dem Ehepaar fällt das Ankommen schwer. Wehmütig blicken sie auf die Berge. "Dort, wo wir herkommen, ist der Winter hart", erzählt Rahmat. "Ich musste oft stundenlang durch meterhohen Schnee wandern, um zur Arbeit zu kommen."
Rahmat und Aziza H. kommen aus Bamiyan, einer Provinz im zentralafghanischen Gebirge. Dort begann auch Rahmats Karriere als humanitärer Helfer. Zuerst arbeitete er als sogenannte Ortskraft für die Franzosen, dann für die Amerikaner und schließlich - bis zu seiner Flucht - 15 Jahre lang für Caritas international, das Hilfswerk der deutschen Caritas. In den Bergen beaufsichtigte Rahmat Gesundheitsprojekte, half Brunnen zu bauen und die Winterhilfen der Caritas zu koordinieren. 2011 wird er befördert. Zusammen mit seiner Frau Aziza geht er nach Kabul. Im Caritas-Hauptstadtbüro ist er bis zum Tag seiner Flucht unter anderem für die Sicherheit der Mitarbeitenden zuständig.
Schicksalstag 15. August 2021
Zurück in der Flüchtlingsunterkunft: Rahmat sitzt auf einem braunen Teppich mit Blumenmuster, den ihm ein Freund aus Berlin organisiert hat, und schlägt ein Notizbuch auf: "Hier habe ich Ort und Zeit jedes Selbstmordattentats in Kabul in den letzten Jahren notiert", sagt er und blättert weiter. "Ich wusste alles, was in der Stadt vor sich geht." Akribisch plante Rahmat die Arbeitswege seiner Kollegen und die Reisen ausländischer Geldgeber, damit sie möglichst keinem Risiko durch Anschläge ausgesetzt waren. Doch die Invasion Kabuls durch die Taliban hat auch er nicht kommen sehen.
Als es um jenen Schicksalstag im Spätsommer vergangenen Jahres geht, fängt die Stimme des Afghanen an zu beben. Als Rahmat am 15. August 2021 nach Arbeitsschluss auf die Straße tritt, versinkt Kabul bereits im Chaos. "Die Leute haben ihre Autos offen am Straßenrand stehen gelassen, alle rannten zu Fuß zum Flughafen", erzählt er. "Aziza hat versucht, mich anzurufen, aber das Handynetz war zusammengebrochen. Ich hatte schreckliche Angst." Für die Taliban ist Rahmat ein Verräter, weil er für ausländische Organisationen gearbeitet hat. Außerdem gehören er und seine Familie zu der Bevölkerungsgruppe der Hazara, die die Taliban schon in den Neunzigerjahren systematisch verfolgte und unterdrückte. Sie schweben in Lebensgefahr.
Für die Taliban ist Rahmat ein Verräter
Zuerst möchte Rahmat in Afghanistan bleiben, seine Mission - die Arbeit für die Caritas - nicht aufgeben, doch seine Familie bekniet ihn zur Flucht. Schnell wird auch ihm klar: Die Gefahr ist zu groß. "Taliban-Kämpfer haben mich im Büro aufgesucht und beschimpft. Sie haben mich einen Ungläubigen genannt", erzählt er. "Da wusste ich: Wir müssen hier raus."
Während Rahmat noch mit sich ringt, stellen die Projektverantwortlichen bei Caritas international in Freiburg bereits seit Wochen Listen mit afghanischen Ortskräften und ihren Angehörigen zusammen, die evakuiert werden müssen, und übermitteln sie dem Auswärtigen Amt. Rahmat und Aziza sind darunter. Die beiden haben bereits Reisepässe - ihr großes Glück. Im Oktober reisen sie über Katar aus, seit November sind sie in Deutschland. Vor einigen Wochen ist auch ihr Adoptivsohn Faizullah eingetroffen. Endlich. Ihn mussten die beiden in Kabul bei den Großeltern zurücklassen, weil dem Jungen die Papiere fehlten. Die Erleichterung ist groß, doch die Zukunft der Familie ungewiss.
Rahmat betont, wie dankbar er über die Unterstützung der Caritas-Kolleginnen und -kollegen und das sichere Deutschland sei, doch die Trauer über das verlorene Leben ist ihm trotzdem anzumerken. "In Kabul hatten wir ein Haus mit großen Fenstern und langen Fluren, Freunde und Arbeit", erzählt er. In Freiburg lebt die Familie seit Monaten in einem einzigen Zimmer. Rahmat wünscht sich nichts sehnlicher als ein bisschen Privatsphäre, eine kleine Wohnung mit einem Wohnzimmer wie in den Häusern gegenüber der Flüchtlingsunterkunft. Er muss nach vorne blicken, ein neues Leben aufbauen. "Ich glaube nicht, dass wir je wieder in unsere Heimat zurückzukehren können", sagt er.
Gleich nach ihrer Ankunft hat sich das Ehepaar für einen Deutschkurs angemeldet. Von 13 bis 16.45 Uhr geht der Unterricht, fünf Tage die Woche. Rahmat zeigt eine Sprachnachricht, die ihm die Sozialarbeiterin der Flüchtlingsunterkunft gerade geschickt hat. Darin schlägt sie den Kontakt zu einem Ehepaar aus Freiburg vor. "Sie wollen mit uns Grammatik üben", sagt Rahmat und lächelt höflich. Er wird das Angebot annehmen. Aziza und er möchten schnell besser werden, die Deutschen verstehen lernen.
Die halbe Bevölkerung auf der Flucht
So oft es geht, telefoniert die Familie nach Afghanistan. Sie hören, wie sich das Leid in ihrem Land verschlimmert. Für die Menschen vor Ort bedeuten die internationalen Sanktionen gegen die Taliban vor allem eines: Hunger. Seit ihrer Flucht hat sich der Brotpreis um mehr als 30 Prozent erhöht. Hinzu kommen die Folgen der verheerenden Dürre im letzten Jahr und jetzt die steigenden Weizenpreise durch den Krieg in der Ukraine. Laut Angaben der Vereinten Nationen sind derzeit 24 Millionen Afghaninnen und Afghanen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Das ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Die humanitären Hilfsprojekte der Caritas laufen indes, so gut es geht, weiter.