Welche Folgen hat die Cannabis-Legalisierung für die Suchthilfe?
Die Ankündigung der Bundesregierung, Cannabis kontrolliert freigeben zu wollen, ist die größte drogenpolitische Veränderung seit der Einführung des Betäubungsmittelgesetzes im Jahr 1971. Der Bundesdrogenbeauftragte Burkhard Blienert spricht von einem Paradigmenwechsel der Drogenpolitik, bei dem Hilfe und Schutz für die Konsumierenden Vorrang vor Strafe und Stigmatisierung haben sollen - nicht allein in der Cannabis-Politik, sondern in der Sucht- und Drogenpolitik insgesamt.
Auswirkungen der Legalisierung kaum prognostizierbar
Gleichzeitig sind die Auswirkungen einer Liberalisierung der Drogenpolitik auf zukünftige Konsumgewohnheiten der Bevölkerung aufgrund der weltweit uneinheitlichen Studienlage kaum prognostizierbar. Sich unterscheidende Studiendesigns und Rahmenbedingungen in den untersuchten Ländern lassen Vergleiche kaum zu. Deshalb forderte die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) in ihrem Positionspapier "Cannabispolitik in Deutschland" bereits 2015, eine interdisziplinäre Enquete-Kommission einzusetzen, um diese Auswirkungen gezielt auf die deutschen Verhältnisse hin zu untersuchen, Risiken zu identifizieren und Maßnahmen zum Umgang mit diesen Risiken einzuleiten. Der jetzt angestrebte Prozess wird genau beobachtet und im Verlauf bedarfsgerecht nachgesteuert werden müssen.
Der Koalitionsvertrag hat der Cannabis-Freigabe eine Konkretisierung und öffentliche Aufmerksamkeit verliehen, die alle Suchthilfeeinrichtungen zwingt, sich mit den Auswirkungen auf das eigene Angebot auseinanderzusetzen. Die Haltungen werden dabei nicht einheitlich sein, Mitarbeitende werden dem eher zustimmend, neutral oder auch ablehnend gegenüberstehen. Weil Haltung aber das Verhalten beeinflusst, werden Teams und Träger diese Unterschiedlichkeiten und deren Auswirkungen auf die Arbeit identifizieren und den gemeinsamen Boden, auf dem man sich bewegt, konzeptionell fassen müssen.
Suchthilfe muss sich mit eigenem Angebot auseinandersetzen
Wesentlich für die Akzeptanz der kontrollierten Freigabe wird sein, wie gut es gelingt, Jugendschutz und die Interessen der Konsumierenden gleichermaßen zu berücksichtigen. Keinem Cannabis-Konsumierenden ist mit einer Kriminalisierung seines Verhaltens geholfen, weshalb eine Entkriminalisierung des Konsums wünschenswert ist. Gleichzeitig hat Cannabis aber gerade auf in Entwicklung befindliche Gehirne negative Auswirkungen. Bis etwa zum 25. Lebensjahr ist das Gehirn besonders vulnerabel, ein früher Konsum kann gravierende Folgen bis hin zur Psychose haben. Das macht präventive Bemühungen und Ansätze von Frühintervention umso dringlicher.
Eine kontrollierte Freigabe einzuführen wird daher von öffentlichkeitswirksamen Kampagnen begleitet sein müssen, die helfen, Chancen und Risiken realistisch einzuschätzen. Bisherige Diskussionen über Cannabis wurden oft ideologisch geführt und schwankten, je nach Standpunkt, zwischen Dramatisierung und Verharmlosung. Große Teile der Bevölkerung müssen eine neue, realistische Haltung zu Cannabis entwickeln und brauchen dafür gut aufbereitete Informationen.
Strategien zur Konsum- und Risikokompetenz
Weil der Konsum im öffentlichen Raum grundsätzlich zugelassen sein wird, wird die Thematik im wahrsten Sinne sicht- und riechbarer werden. Dem muss auch in Prävention und Beratung Rechnung getragen werden, zum Beispiel durch Strategien, die auf die Entwicklung von Konsum- und Risikokompetenz abzielen. Dazu gehört, analog zur Prävention bei legalen Suchtmitteln, auch die Auseinandersetzung mit Punktnüchternheit, also wann auch nicht konsumiert werden sollte beziehungsweise darf. Gerade junge Menschen und solche mit wenig bis keiner Erfahrung mit Cannabis können das oft nicht richtig einschätzen. Das legt eine verstärkte Zusammenarbeit der Suchthilfe mit Schulsozialarbeit beziehungsweise offener Kinder- und Jugendarbeit nahe, um Jugendliche in einem ihnen vertrauten Umfeld zu erreichen. Eine kontrollierte Freigabe bietet die Chance, dass ein Gespräch über Cannabis leichter werden kann, weil sich ein:e Konsument:in nicht mehr als eine Person zu erkennen gibt, die eine illegale Handlung begeht.
Neugier könnte sich auf Konsum auswirken
Möglicherweise wird durch Neugier auf die dann freigegebene Substanz der Konsum zunächst ansteigen. Die Bundesregierung benennt deshalb im Eckpunktepapier zur Einführung einer kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken, dass "cannabisbezogene Aufklärungs- und Präventionsarbeit sowie zielgruppenspezifische Beratungs- und Behandlungsangebote" weiterentwickelt werden sollen, damit aus Konsumierenden keine Abhängigen werden. Das fordert auch die Finanzierung der Suchthilfe heraus, die vielerorts prekär ist. Darauf haben unter anderem die Expertise "Tätigkeiten und Potentiale der Funktion ,Suchtberatung‘" der Bundesarbeitsgemeinschaft Caritas Suchthilfe (BAG CaSu) und des Gesamtverbandes für Suchthilfe der Diakonie (GVS) aus dem Jahr 2018 oder der "Notruf Suchtberatung4 der DHS aus dem Jahr 2019 hingewiesen.
Eine Zweckbindung von Steuern - und so auch von den zusätzlich zu erwartenden Steuereinnahmen aus dem Cannabisverkauf - ist nach dem Nonaffektationsprinzip grundsätzlich nicht möglich. Trotzdem braucht die Suchthilfe eine stabile finanzielle Ausstattung, wenn sie den steigenden Bedarfen und Ansprüchen gerecht werden soll. Als zusätzliche Finanzierungsmöglichkeit im Präventionsbereich kann der § 20 SGB V eine Rolle spielen. Bisher war diese Finanzierung aufgrund der Illegalität von Cannabis ausgeschlossen.
Ob die kontrollierte Abgabe zunächst zu einem Rückgang der Inanspruchnahme von Suchthilfe führt oder ob die Inanspruchnahme durch den Abbau von Barrieren zunimmt, bleibt abzuwarten. Die Angebotsstrukturen der Beratung werden sich aber auf die veränderte Situation hin neu ausrichten müssen. So ist eine junge Klientel mit klassischen Komm-Strukturen nur schwer zu erreichen. Stattdessen können aufsuchende Hilfen an solchen Orten gute Ergänzungen sein, an denen sich Konsumierende verstärkt aufhalten, wie zum Beispiel die verstärkte Präsenz der Suchthilfe auf Festivals und Veranstaltungen.
Eine wichtige Zielgruppe in dem Zusammenhang sind auch Angehörige. Deren Einbindung als Adressat:innen von Präventionsmaßnahmen, als Multiplikator:innen bei der Informationsvermittlung und als Betroffene, die durch den Konsum der Familienmitglieder oft hoch belastet sind, ist in manchen Kommunen aufgrund der bestehenden Finanzierungsstrukturen der Suchthilfe aber nur eingeschränkt möglich. Hier besteht Ausbaupotenzial.
Reha unterscheidet bislang zwischen legalen und illegalen Süchten
Mancherorts wird noch zwischen Beratungsstellen für Abhängige von legalen und von illegalen Substanzen unterschieden. Wenn Cannabis demnächst einen eher legalen Status hat, müssen sich manche Beratungsstellen konzeptionell fragen, welche und ob sie die richtigen Angebote für die dann neue Zielgruppe haben. Die gleiche Frage stellt sich noch drängender im Bereich der medizinischen Rehabilitation, in der aktuell noch klar zwischen legalen und illegalen Süchten unterschieden wird, für die es gesonderte Einrichtungen, Konzepte und Behandlungszeiten gibt.
Die kontrollierte Cannabis-Freigabe bietet die Chance, sich von den Polaritäten "legal - illegal" zu entfernen und eher danach zu schauen, in welcher Lebenswelt sich jemand bewegt, wo sich jemand zugehörig fühlt und zur Mitwirkung bereit ist. Faktoren sozialer und beruflicher Integriertheit, der gesundheitliche Status und die gefühlte Zugehörigkeit zur Gesellschaft und zur Peergroup sind bei Konsumierenden aller Substanzen wichtiger zur Entwicklung von Compliance als die Legalität oder Illegalität der Substanz.
Cannabiskonsum im Straßenverkehr
Bereits heute bestehen in vielen Suchtselbsthilfegruppen keine Berührungsängste mehr, Menschen mit unterschiedlichsten Konsummustern aufzunehmen. Doch viele Selbsthilfegruppen sind auf langfristige Begleitung und Unterstützung angelegt, was grundsätzlich auch sinnvoll ist. Gerade jüngere Konsumierende wollen sich aber oft nicht langfristig gebunden fühlen, sondern suchen punktuelle oder intermittierende Unterstützung. Hier braucht es Konzepte, die die verschiedenen Bedarfe der Teilnehmenden der Gruppen integrieren.
Über die Suchthilfe hinaus erzwingt eine kontrollierte Freigabe von Cannabis auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens neue Regelungen. So stellt sich zum Beispiel die Frage, welche Auswirkungen der Konsum des lange nachweisbaren Cannabis auf das Führen von Kraftfahrzeugen oder die Bedienung komplexer oder gefährlicher Maschinen im Berufsleben haben wird. Bei Alkohol ist eine Promillegrenze leicht zu fordern, weil er sich schnell und berechenbar abbaut und über Atemalkoholtests zuverlässig nachgewiesen werden kann. Bei Cannabis ist das komplizierter, hier braucht es praxistaugliche Nachweismethoden, um eine Fahr- oder Arbeitstauglichkeit zu beurteilen.
In Summe fordert die kontrollierte Freigabe von Cannabis die verschiedensten Bereiche der Suchthilfe heraus. Unabhängig davon, ob man die Freigabe begrüßt oder eher ablehnt, wird die Suchthilfe Antworten auf Fragen finden müssen, die sich teilweise erst im laufenden Prozess stellen werden. Dieser wird spannend werden und über die Cannabis-Diskussion hinaus die Chance bieten, manches noch einmal neu zu denken. Lassen wir uns darauf ein!
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