Unterschiedliche Mentalitäten prägen die Caritas in Ost und West
Für einen mit der Caritas befassten ostdeutschen Politologen, der ungefähr ein halbes Leben in der DDR und ein halbes Leben im geeinten Deutschland gelebt hat, stellt sich die Frage, warum sich die ostdeutschen Caritas-Mentalitäten bis heute und möglicherweise auch weiterhin von den westdeutschen unterscheiden.
Diese Mentalitätsunterschiede sind kaum direkt aus der sozialen Situation und den konkreten Einstellungen der handelnden Personen heraus zu erklären - dies sind etwa Vermögens- und Einkommensunterschiede, die Alterung von Engagierten und Probleme der Nachwuchsgewinnung, Engagementzurückhaltung und Scheu vor der Übernahme von Leitungsverantwortung, Zukunftsängste und leicht geringere allgemeine Zufriedenheit im Osten. Auch Diagnosen aus institutioneller Perspektive zu Fachkräftemangel, Migration, Interreligiosität und Säkularisierung in der Caritas (wie bei der Deutschen Bischofskonferenz 2014) erklären hierzu wenig.1
Die Mentalitätsunterschiede lassen sich jedoch anhand der historisch gewachsenen Beziehungen herleiten, in denen die Organisation Caritas zur Kirche, zu anderen Wohlfahrtsverbänden und Sozialunternehmen, zum Sozialstaat und zur Wirtschaft der Gesellschaft stand und steht. So können Mentalitäten politikwissenschaftlich als Folgen von profilierendem Organisationshandeln unter spezifischen strukturellen Rahmenbedingungen verstanden werden.
Dafür lohnt es, die historisch gewachsenen Organisationsformen der Caritas und deren Handeln seit Ende des Zweiten Weltkriegs und insbesondere seit der Wiedervereinigung Revue passieren zu lassen - und die dabei vorgenommenen Profilierungspraktiken zu skizzieren und auf ihre Mentalitätsfolgen hin abzuklopfen.
Ein Forschungsprojekt der Hochschule Magdeburg-Stendal zur Genese und Transformation der Sozialen Arbeit in Ostdeutschland (anhand der DDR-Organisation Volkssolidarität sowie der Caritas Ost) erlaubte einen solchen - auf die Verbandsgeschichte und -entwicklung gerichteten - Forschungsblick.2
Zentralverband im Westen, Diaspora im Osten
Nach dem Ende des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs kam es zur Reaktivierung der zentralen Einheiten des Deutschen Caritasverbandes und der Diözesan-, Orts- sowie Fachverbände im amerikanischen, britischen und französischen Sektor sowie zur Neugründung von Diözesan- und Ortsverbänden in der sowjetischen Besatzungszone. Während Zentralverband sowie Diözesan-, Orts- und Fachverbände in Westdeutschland von den Katholik:innen vor Ort wiederbelebt wurden, wurden die sich neu gründenden Diözesan- und Ortsverbände in den protestantischen Gebieten Ostdeutschlands vor allem von Geflüchteten (und mit Hilfe von kirchlicher und caritativer Unterstützung aus Westdeutschland) aufgebaut.
Drei Profilierungsphasen lassen sich unterscheiden: Während es zunächst darum ging, die kriegsbedingte Not aller zu lindern (Winterhilfen in den ausgebombten Städten) und Kriegsgeschädigten beziehungsweise Geflüchteten Obdach zu geben, kam es in den Jahren ab 1946 zur Institutionalisierung der bis dahin mit konkreten Hilfsaktivitäten befassten Akteure. Die Staatsgründungen führten wenig später zu spezifischen sozialpolitischen Arrangements: In der Bundesrepublik kam es zur sozialpolitischen Beauftragung, ja sogar Privilegierung korporativer freigemeinnütziger Wohlfahrtsverbände mit ihrem immer größer werdenden Angebot, in der DDR zur Zurückdrängung und Marginalisierung kirchlicher Sozialarbeit, unter anderem im Erziehungswesen.
Auch für die Zeit während und nach der politischen Wende in der DDR lassen sich drei - im Westen sich so nicht vollziehende beziehungsweise erlebte - Phasen der Caritasprofilierung aufzeigen:
Die politische Revolution und Reform der DDR im Herbst und Winter 1989/1990 wurde stark von Bürger:innen mitbefördert und mitgeprägt, die unter anderem als Caritas-Fürsorger:innen bei den ostdeutschen bischöflichen Kommissariaten arbeiteten.
Umstrukturierungen prägten das Jahr 1990
Frühjahr und Sommer 1990 waren von der Umstrukturierung der Caritasorganisationen, die als Bistumseinrichtungen verfasst waren, zu Verbänden und Vereinen geprägt. Zudem bemühte man sich in den Pfarrgemeinden, Dekanaten und bischöflichen Jurisdiktionsbezirken der nun demokratisch verfassten DDR, Fachverbände wie etwa den Malteser Hilfsdienst zu gründen. Die Freiburger Zentrale und die westdeutschen Diözesanverbände und ihre Engagierten unterstützten die Transformation der bisherigen bischöflichen beziehungsweise gemeindlichen kirchlichen Strukturen zu freigemeinnützigen, nichtstaatlichen und nichtkommerziellen Vereinen und Verbänden. Die zivilgesellschaftlichen Ausgründungen in Ostdeutschland wurden von den sozialstaatlichen und kommunalen Geldgebern vor Ort zunächst begrüßt und gern in Auftrag genommen. Spätestens Mitte der 1990er-Jahre holte jedoch mit der Reform der Sozialversicherung und Einführung der Pflegeversicherung sowie dem Wegfall des Selbstkostendeckungsprinzips auch das Verbandswesen im Osten die Ökonomisierung der gesamtdeutschen Sozialpolitik ein.
Die seit langem etablierten und wirtschaftlich potenten westdeutschen Caritasverbände und -vereine waren darauf allerdings deutlich besser vorbereitet als ihre Schwesterorganisationen im Osten.3
Mentalitäten von CaritasEngagierten teilten sich
Das traditionelle wie auch das neuere Selbstbild, Profil und Gesicht der verbandlichen Caritas entwickelte sich im 19. Jahrhundert, während der Weimarer Republik und im geteilten Deutschland und schreibt sich auch heute fort. Im geteilten Deutschland erfolgte dies gesellschaftlich bedingt in verschiedenen und zwischen Ost und West unterscheidbaren, wenn auch zeitlich nicht genau zu umreißenden Phasen:
In Ostdeutschland gab es nach dem Krieg eine protestantisch geprägte, aber durch liberale und sozialdemokratische Strömungen der Weimarer Republik wie auch durch den Nationalsozialismus stark säkularisierte Gesellschaft, die in ein sozialistisches System nach dem Vorbild der Sowjetunion überführt wurde. Zunächst kam es zur Gründung kleiner Caritasdienste (ohne Mitgliederbasis), die durch den Rückhalt von katholischen Priestern politisch akzeptiert wurden und caritativ handeln durften. Diese Caritasdienste (Bekleidungs-, Heizmaterial- und Lebensmittelausgaben, Beratungsstellen, ordensgetragene Kinderheime) ließen sich nicht in das zunehmend sozialistische sozialstaatliche System einbinden und verblieben so - unterstützt von ihren Bistümern und westdeutschen Förderern - autonom und nur geduldet, aber in einer Diaspora-Situation.
Fürsorger:innen prägten Caritasdienste im Osten
In den 1970er- und 1980er-Jahren gestalteten immer weniger Priester, dafür stark von ihrem Glauben geprägte Fürsorger:innen die Caritasdienste. Diese Einzelpersonen, die den gesellschaftlichen Aufbruch 1989/1990 sehr begrüßten und mitprägten, fühlten sich von der sozialstaatlichen Vermarktlichung des Sozialen mit der Einführung der Pflegeversicherung und dem Wegfall des Selbstkostendeckungsprinzips in der Wohlfahrtspflege "zwangsökonomisiert" und arrangierten sich damit nur widerwillig. Es zeigen sich heute unter diesen Aktiven insofern - wie in der ostdeutschen Gesellschaft insgesamt - kirchlich-bewahrende wie auch "aktualisierende" (aggiornamentale), staatsablehnende und antikapitalistische Mentalitäten, die zurückhaltend einen eigenen, sich gegenüber der Gesellschaft möglichst neutral verhaltenden, zivilgesellschaftlich-dritten, weiterhin gemeinschaftlich-kommunitären Pfad für ihr Verbandsprofil bevorzugen.4
In Westdeutschland rekonstituierte sich hingegen nach dem Krieg das katholische Milieu, das sich gleichfalls mit Säkularisierungsprozessen zu arrangieren hatte. In der Gesellschaft, die sich im Zuge der Westbindung eine freiheitlich-demokratische Grundordnung gab, belebten sich die milieugeprägten Vereine und Verbände der Weimarer Zeit wieder.
Wohlfahrtsverbände wurden im Westen staatlich eingebunden
Sie bekamen recht bald - wie auch die Diakonie, das Deutsche Rote Kreuz, die Arbeiterwohlfahrt, die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland und später der Paritätische - vom subsidiären und korporatistischen (das heißt gesellschaftliche Gruppen aktiv einbindenden) Staat umfängliche soziale Aufgaben übertragen.
Die milieuuntersetzte Größe der Caritas machte es ihr möglich, sehr viele und sehr unterschiedliche Caritasdienste zu etablieren, in denen die neu gewonnene Freiheit und mit ihr auch die soziale Marktwirtschaft befürwortet wurde. Das war leicht, da sie durch ihre gesellschaftliche Bedeutung und den Korporatismus eine höchst akzeptierte und gesicherte Mehrheitsposition innehatte (und nebenbei noch ihre Brüder und Schwestern in Ostdeutschland unterstützen konnte).
Die in den 1970er- und 1980er-Jahren im westdeutschen Caritasverband handelnden Lai:innen konnten nicht nur in einer liberalen Gesellschaft agieren, sondern sie erlebten (und befürworten beziehungsweise verinnerlichten zum Teil auch) die Hinwendung von Protagonist:innen der Kritischen Theorie, der 68er-Bewegung und der Befreiungstheologie zum Sozialismus. Diese Einzelpersonen, für die sich aus der deutschen Wiedervereinigung spezifische verbandliche Arbeitsaufgaben ergaben (Beratung, Unterstützung des Aufbaus freier Träger in Ostdeutschland, neue Kooperationen, Ausweitung der deutschlandweiten Abstimmungsgremien), fanden sich in den 1990er-Jahren ebenfalls in einem ökonomisierten Sozialstaat wieder. Trotzdem zeigen sich bei diesen Aktiven heute - wie bei allen Westdeutschen - stärker staatsbefürwortende und wirtschaftsliberale Mentalitäten, aus denen heraus selbstbewusst weiterhin für den eigenen, kirchlich konnotierten, weiterhin staats-korporatistischen, gut wirtschaftenden, groß-organisatorischen Pfad der Caritas geworben wird.
Anmerkungen
1. Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.): Das katholische Profil caritativer Dienste und Einrichtungen in der pluralen Gesellschaft. Bonn: Sekretariat der DBK, 2014, Kurzlink: https://bit.ly/40DSlcV
2. Schulze, M.; Hille, J.; Albrecht, P.-G. (Hrsg.): Genese Ost: Transformationen der Sozialen Arbeit in Deutschland. Opladen: Budrich Verlag, 2023.
3. Albrecht, P.-G.: Bewahren und/oder erweitern? Profil- und Gemeinwesenbezüge in den Caritasdiensten Ostdeutschlands. In: ZPTh Zeitschrift für Pastoraltheologie. Nr. 02-2022, S. 163-180. Albrecht, P.-G.: Distanzierte Nähe: Caritas-Sozialarbeit, Kirchgemeinden und Gemeinwesen in Ostdeutschland. Wiesbaden: VS Verlag, 2006.
4. Giddens, A.: Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2000.
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