Menschen mit Behinderung: Zwischen Schutz und Lebenslust
Sexualpädagogik und Gewaltschutz greifen ineinander: Um zu zeigen, wie das im Vinzenz-Heim in Aachen funktioniert, verzahnt dieser Beitrag konzeptionelle Aussagen mit Beispielen aus der Alltagsarbeit.
Das Vinzenz-Heim - in Trägerschaft der Josefs-Gesellschaft Köln - bietet Menschen mit körperlichen, geistigen und mehrfachen Behinderungen ein Umfeld für ihre ganz eigene und einzigartige Entwicklung.
Die dort Tätigen verstehen Sexualität als grundlegende Lebensenergie, als Streben nach angenehmen (Körper-)Erfahrungen - Genuss und Lust allein oder mit anderen.
Aus Artikel 23 der UN-Behindertenrechtskonvention ergibt sich auch das Recht auf das Erleben von Sexualität. Ein Auftrag der Mitarbeitenden des Vinzenz-Heims ist es, die von ihnen unterstützten Personen bei Fragen rund um Sexualität, Liebe und Beziehungen zu begleiten und zu beraten.
Alle Menschen haben das Recht, Sexualität zu erleben
In jeder Abteilung gibt es sexualpädagogische Multiplikator:innen. Diese treffen sich regelmäßig zu kollegialem Austausch und besuchen Schulungen und Fortbildungen.
Sexualität wird oft auf die Aspekte Bindung, feste Partnerschaft/Ehe und Fortpflanzung reduziert, so dass der Blick auf die Begleitung verengt wird. Dies arbeiteten die sexualpädagogischen Multiplikator:innen bei einem sexualpädagogischen Grundlagenworkshop mit Pro Familia, der 2022 zum dritten Mal stattfand, heraus. Genau dieser erweiterte Blick ist aber nötig, um eine angemessene Begleitung möglich zu machen.
Menschen sind geschlechtliche Wesen und lernen eine Form des Umgangs mit dem eigenen Körper und Formen des geschlechtlichen Alltagsverhaltens. Sie erlernen den Umgang mit sich selber und anderen Menschen in der Gestaltung von Alltagsbeziehungen mit Nähe und Distanz, Körperkontakt und Zärtlichkeit.
Behinderung bedeutet keine "andere" Sexualität
Menschen mit Behinderungen haben keine "andere" Sexualität. Die meisten Menschen mit Behinderung haben ähnliche Wünsche
in Bezug auf Sexualität wie Menschen ohne Behinderung. Auch sie wünschen sich Freundschaft, Liebe, Partnerschaft, Zärtlichkeit, Geborgenheit, Leidenschaft und Nähe. Grundlage professioneller Begleitung ist eine sexualitätsfreundliche Haltung: Fragen sind im Vinzenz-Heim erlaubt, und sie werden angemessen beantwortet.
Fragen haben ihre Berechtigung, aber nicht jedes Thema gehört zum Beispiel an den Essenstisch. Um eine Unterscheidung zu erleichtern, wird zum Beispiel von "Tisch-" und "Zimmerthemen" gesprochen. In Teamsitzungen tauschen sich die Mitarbeitenden zu den Fragen und Anliegen aus, um eine fachlich qualifizierte, individuelle Beantwortung sicherzustellen.
Aufklärung ist eine Voraussetzung für einen selbstbestimmten Umgang mit dem eigenen Körper und der eigenen Sexualität. Aufgrund der unterschiedlichen Biografien, intellektuellen Möglichkeiten, Alters- und Entwicklungsstufen müssen die passende Form und der jeweilige Inhalt der Aufklärung für jeden einzelnen Menschen erarbeitet und vermittelt werden.
Erlebensräume schaffen, Privat- und Intimsphäre sichern
Es leben auch Menschen im Vinzenz-Heim, deren Bedürfnisse im Bereich Sexualität aufgrund ihres niedrigen kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklungsniveaus eher basal sind. Das positive Erleben des Körpers steht dann im Vordergrund: Es geht um das Schaffen von Erlebensräumen bei gleichzeitiger Sicherung der Privat- und Intimsphäre. Es muss kleinschrittig eingeübt werden, wo es angemessen ist, sich auszuziehen oder sich zu stimulieren und wo nicht. Selbststimulation wird im Alltag eingeplant und ermöglicht. Zur Sicherheit aller Beteiligten finden hierzu Absprachen im Team statt und gesetzliche Betreuer:innen werden einbezogen.
Die Vermittlung eines "verstehbaren" und möglichst positiven Selbst- und Körperbildes ist eine Voraussetzung dafür, Genussmöglichkeiten zu entwickeln und eigene Grenzen sowie die Grenzen anderer Menschen erkennen und einhalten zu können. Das ist Grundlage für positive und stärkende Präventionsarbeit und dient damit auch dem Schutz vor sexueller Gewalt und sexueller Grenzüberschreitung.
Aufklärung heißt auch, sich selbst besser kennenzulernen
Mit Kindern und Jugendlichen wird in Gruppen zum Thema Aufklärung und Gewaltprävention gearbeitet. Grundlage ist hier unter anderem das Benennen der eigenen Gefühle, der eigenen Interessen, Vorlieben und Stärken. Im ersten Termin werden individuelle Steckbriefe erstellt. In nächsten Schritten geht es um den Körper, es wird eine gemeinsame Sprache gefunden und es werden Unterschiede zwischen Frau und Mann herausgearbeitet. Auch die geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung können zum Thema werden. Veränderungen in der Pubertät und das eigene Körperbild werden besprochen. Weitere Inhalte werden mit den Teilnehmenden geplant (zum Beispiel persönliche Zukunft, Umgang mit Behinderung, Geschlechterrollen). Hilfreich sind hier Bausteine von Präventionsprogrammen wie "Ben und Stella"1.
Menschen mit geistiger Behinderung benötigen Erklärungen, "passendes" Material und Darstellungen sowie häufige Wiederholungen, um Lerninhalte zu verstehen und zu behalten. Deshalb ist Aufklärung als umfassende, wiederkehrende Aufgabe und als lebenslanger Prozess zu begreifen.
Menschen mit Behinderung sind besonders gefährdet, Opfer von sexueller Gewalt zu werden, da sie oft körperlich unterlegen und praktisch wie emotional von anderen abhängig sind. Sie sind es häufig gewöhnt, von anderen Menschen berührt zu werden, etwa in Pflegesituationen. Ein positives Körper- und Selbstbild zu entwickeln ist ihnen erschwert. Eine weitere Ursache für ihre Gefährdung liegt darin, dass es Menschen mit geistiger Behinderung an Wissen über Sexualität, Beziehungen und Grenzverletzungen fehlt.
Alle Mitarbeitenden haben einen Schutzauftrag
Aus dem Ziel, sexuelle Gewalt zu verhindern, ergibt sich ein Schutzauftrag für alle Mitarbeitenden. Dieser ist in einem Gewaltschutzkonzept konkretisiert.
Immer wieder müssen im Zusammenleben Situationen betrachtet werden, in denen Menschen wenig respektvoll, wenig freundlich oder eben übergriffig miteinander umgegangen sind. Eine Atmosphäre, in der schwierige Erlebnisse auf den Tisch kommen und in der gemeinsam nach Lösungen gesucht wird, macht Gewaltprävention jedoch zu einer im Alltag gelebten, partizipativ gestalteten Unternehmung.
Die internen Schulungen zum Thema Gewaltschutz bieten den Mitarbeitenden des Vinzenz-Heims eine alltagsnahe Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt. Bei der Schulung der Verfahrenswege bei Verdacht auf Gewalt können die Teilnehmenden sich anhand von Fallbeispielen in konkrete Situationen hineinversetzen (Handelt es sich um Gewalt und wie gehe ich weiter vor?), sich mit den internen Vorgaben des Verhaltenskodex auseinandersetzen oder bewerten, welche Interventionen unter dem Aspekt "freiheitsentziehende Maßnahme" betrachtet werden müssen.
Partizipation schützt mit am besten vor Gewalt
In einer Fortbildung zu Deeskalationsstrategien werden neben Hintergrundwissen konkrete Schutz- und Sicherungstechniken vermittelt, um die Handlungssicherheit der Mitarbeitenden in Situationen mit körperlicher und verbaler Gewalt zu erhöhen. Eine der wichtigsten Säulen des Gewaltschutzes ist die Partizipation der Kinder und Jugendlichen und der schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen, die im Vinzenz-Heim leben. Dazu gehört ihr Mitwirken an der Risikoanalyse. Außerdem werden die Inhalte des Gewaltschutzkonzeptes regelmäßig verständlich vermittelt und ein Austausch darüber ermöglicht.
Grundlage der Partizipation im Alltag ist die Arbeit der Beiräte. In monatlichen Sitzungen greifen sie die Anliegen der Bewohner:innen auf und entwickeln Ideen. Mit den Führungskräften des Vinzenz-Heims werden diese Anliegen besprochen und Lösungen erarbeitet. Die Inhalte der Treffen übermitteln die Vertreter:innen zurück in die Wohngruppen. Um die Selbstbestimmungs- und Selbstbehauptungsfähigkeiten zu stärken, gibt es Einzel- und Gruppenangebote, unter anderem zu den Themen soziale Kompetenzen und Kommunikation, Aufklärung, Selbstbehauptung und Prävention von (sexueller) Gewalt.
Die Weiterarbeit an einer alltagsnahen sexualpädagogischen Begleitung und einer konkreten Umsetzung der Maßnahmen aus dem Gewaltschutzkonzept soll lebendig bleiben. Damit ist diese Arbeit ein fortlaufender Prozess, der die gesamte Organisation weiter beschäftigen wird.
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