Globale Mobilität und neue Formen der Migration fordern Arbeitgeber heraus
Um den Fachkräftemangel in Deutschland zu kompensieren, rekrutiert eine steigende Zahl an Organisationen Arbeitnehmende aus dem Ausland. Eine andere Möglichkeit ist, Geschäftstätigkeiten in Länder zu verlegen, in denen ein adäquates Arbeitskräfteangebot vorliegt. Fragen in diesem Zusammenhang sind: Welche Länder sind für die Anwerbung beziehungsweise Verlagerung geeignet? Wie hoch ist die Mobilitätsbereitschaft auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite? Ist es für Arbeitgeber weiterhin sinnvoll und vertretbar, Mitarbeitende ins Ausland zu versetzen oder aus dem Ausland zu rekrutieren angesichts der Risiken für die Gesundheit und Sicherheit? Sind die mit der Mobilität verbundenen klimaschädlichen Auswirkungen noch vertretbar? Wie wichtig wird eine internationale Geschäftstätigkeit im Falle einer Deglobalisierung zukünftig noch sein? Die Fragen zur globalen Mobilität von Arbeitskräften und Arbeit haben insbesondere in den Jahren seit 2020 an Aktualität gewonnen.
Migrationsbewegungen haben sich verändert
Entgegen weit verbreiteter Annahmen leben wir nicht in einer Zeit beispielloser, steigender Massenmigration. Zwar stieg die absolute Zahl globaler Migrant:innen von 225 Millionen zum Ende des 19. Jahrhunderts auf 281 Millionen im Jahr 2020, doch ist der relative Anteil von Migrant:innen angesichts einer steigenden Weltbevölkerung von 1,6 Milliarden auf acht Milliarden von 14 Prozent auf etwa 3,6 Prozent gesunken.1 Migration stellt einen normalen Prozess der gesellschaftlichen und sozialen Entwicklung dar. Auch wenn die globale Arbeitskräftemigration prozentual nicht zunimmt und in den letzten Jahrzehnten konstant ist, stellen sich Unternehmen aufgrund der veränderten Richtung und geografischen Verteilung der Migrant:innen neue Aufgaben.
Hinsichtlich der Richtung der Migration finden wir neue Muster bezogen auf die Herkunfts- als auch die Zielländer. So ließen sich Europäer jahrhundertelang aufgrund von Kolonisierung, Flucht vor Kriegen und religiöser Verfolgung in anderen Teilen der Welt nieder, zum größten Teil in den heutigen USA2 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kehrte sich dieses Muster um, und Europa wurde zu einem globalen Magneten für heutige Migrant:innen.3 2019 ließen sich beispielsweise rund 30 Prozent der weltweiten Migrant:innen (87 Millionen) in Europa nieder.
Auch die geografische Verteilung der Migrant:innen verändert sich. Individuen aus einer steigenden Zahl an Herkunftsländern ziehen in eine sinkende Zahl an Zielländern, wodurch die internationale Durchmischung der Bevölkerung in diesen Zielländern zunimmt, wie beispielsweise in Deutschland.4 In Unternehmen in Deutschland steigt folglich nicht nur der Anteil internationaler Arbeitskräfte und Kund:innen, sondern auch deren Diversität infolge der Bandbreite an Herkunftsländern. Unter ESG-Gesichtspunkten (Environmental/Umwelt, Social/Soziales, Governance/Unternehmensführung) gewinnen in der Konsequenz das Management von Diversität und der globalen Mobilität an Relevanz, um Herausforderungen im Zusammenhang mit Kulturen, Sprachen, kultureller Intelligenz etc. zu bewältigen. Ein Kampf um Talente findet trotz Migration statt, da internationale Arbeitskräfte mit den richtigen Fähigkeiten auswählen, wohin sie gehen - unter anderem auf Grundlage der niedrigsten Steuersätze, der besten öffentlichen Dienstleistungen, erschwinglichen Wohnraums, eines guten Bildungs- und Gesundheitswesens, einer berechenbaren Politik. Talent besteht unabhängig von Nationalität, so dass das Talent Management in Unternehmen an Bedeutung gewinnt.
Wie verläuft die Mobilität von Arbeitskräften?
Mit Blick auf die Zukunft stellt sich angesichts der Veränderungen als Folge von Pandemie, Klimawandel, Krieg und möglicher Deglobalisierung die Frage, ob Talente zukünftig in ihren Heimatländern bleiben, in die Länder zurückkehren, in denen sie vor Ausbruch der Pandemie waren, oder ein neues Zielland finden werden. Einerseits könnten Faktoren wie Klimawandel oder Krieg einen Anstieg globaler Mobilität auslösen, andererseits könnten Post-Pandemie und Deglobalisierungstendenzen die globale Mobilität reduzieren. Je nach Szenario verändert sich das internationale Arbeitskräfteangebot für Unternehmen in Deutschland.
Klimawandel und Krieg leiten Arbeitskräfte in neue Zielländer
Die Zahl der Klimaflüchtlinge überholt bereits heute mit 50 Millionen die Anzahl politischer Flüchtlinge. Es wird zudem prognostiziert, dass ein Anstieg der globalen Erdtemperatur von einem Grad Celsius die Zahl der Klimaflüchtlinge auf 200 Millionen Menschen und ein Anstieg von zwei Grad gar auf eine Milliarde oder mehr ansteigen lässt.5 Skandinavien könnte angesichts eher moderater Klimaveränderungen attraktives Migrationsziel werden mit einer möglichen Verfünffachung der derzeitigen Einwohnerzahl. Kriege führen dazu, dass Unternehmen die Mitarbeitenden abziehen, die in Krisengebieten tätig sind, und Geschäftsbeziehungen mit kriegshandelnden Ländern abbrechen oder Auslandsniederlassungen schließen. Gleichzeitig verlassen in Kriegsländern tätige Arbeitskräfte ihr Heimatland aus eigenem Antrieb, um eine Arbeitstätigkeit in sicheren Ländern aufzunehmen.
Aus diesen durch Klimawandel und Krieg ausgelösten Veränderungen ergeben sich komplexe Schlussfolgerungen für das Personalmanagement. Eine mögliche Überlegung für deutsche Unternehmen ist, Arbeitsaufgaben zu verlagern in Länder, in denen Arbeitskräfte zukünftig verfügbar sein werden (zum Beispiel Skandinavien, Kanada), oder dortige Arbeitskräfte als mobile Mitarbeitende einzubinden. Jede Krise in einem Land stellt eine Gelegenheit für stabilere Länder dar, Talente abzuwerben. Um Klima- und Kriegsflüchtlinge für sich zu gewinnen, müssen sich Unternehmen und Länder als attraktive Arbeitsorte positionieren.
Doch auch Einstellungen und Verhaltensweisen der infolge von Klimawandel oder Krieg einwandernden Arbeitskräfte sind in den Blick zu nehmen. Etwa ein Drittel bis die Hälfte aller Menschen, die ein schwieriges Ereignis erleben, entwickeln sich weiter und werden psychisch stärker. Im Zuge dieses posttraumatischen Wachstums hinterfragen sich Menschen und orientieren sich neu. Häufig verändern sie sich auch beruflich. Unternehmen können internationale Arbeitnehmende mit traumatischen Erfahrungen mittels Resilienztrainings oder Coaching darin unterstützen, eine Wachstumsmentalität zu entwickeln und voll beschäftigungsfähig zu werden. Sie können lernen, Krisensituationen als Herausforderung zu sehen, aus denen neue Fähigkeiten erworben werden. Schließlich können Unternehmen von internationalen Arbeitskräften mit kosmopolitischer Identität profitieren. Identität sollte nicht länger mit einer Nationalität gleichgesetzt werden. Junge Kosmopoliten legen mehr Wert darauf, neue Verbindungen zu knüpfen, als ihrem Herkunftsland treu zu bleiben. Sprachtrainings und interkulturelles Coaching tragen in Unternehmen dazu bei, Missverständnisse in der Belegschaft zu vermeiden.
Virtuelle Mobilität wird steigen
Die Pandemie, der Ukraine-Krieg mit der damit verbundenen Energiekrise in Europa oder auch die ungewisse Zukunft Taiwans als eines der wichtigsten Chipherstellerländer haben gezeigt, wie zerbrechlich internationale Lieferketten sein können. Ganze Branchen mussten ihre Produktion zurückfahren. Um unabhängiger zu werden, entstand bei Unternehmen und Ländern eine Tendenz zur Deglobalisierung. Der Strom der permanenten Migration in die OECD-Länder sank 2020 um mehr als 30 Prozent auf rund 3,7 Millionen Menschen, den niedrigsten Stand seit 2003. Als Teil dessen verringerte sich auch die internationale Mobilität von Arbeitskräften in Unternehmen massiv (minus 53 Prozent).6 Die Europäische Handelskammer schätzt beispielsweise, dass die Hälfte aller nach China entsandten Auslandstätigen zwischen 2019 und 2022 das Land verließen und weitere folgen werden. Darüber hinaus gingen vermehrt Arbeitskräfte, die von sich aus eine Tätigkeit im Ausland aufgenommen hatten, in ihre Heimatländer zurück. Internationales Arbeiten erfolgt seitdem verstärkt virtuell. Wenngleich viele Arbeiten online erledigt werden können, erkennen Arbeitgeber und Beschäftigte nach einer dreijährigen Erfahrungszeit während der Pandemie, dass Mitarbeitende vor Ort benötigt werden und geschäftliche Reisen erforderlich sind, um den persönlichen Austausch zu pflegen. Ein Großteil der Weltwirtschaft und der globalen Lieferketten funktioniert nur, wenn Menschen mobil sein können.
Mit mobilem Arbeiten Visabestimmungen umgehen
Unternehmen müssen daher heute neue Formen der Arbeit implementieren, um wirtschaftlichen Bedingungen, eigenen Anforderungen und den Wünschen der Arbeitskräfte gerecht zu werden. Die steigende Entscheidungsfreiheit der einzelnen Beschäftigten, wo sie leben und arbeiten möchten, könnte zu mehr selbstinitiierten Auslandstätigkeiten führen. So wünscht eine größere Zahl an Arbeitskräften, als sogenannte "International Remote Worker" virtuell arbeiten zu können, entweder von einem von ihnen bevorzugten Standort im Ausland aus (vgl. die ansteigende Zahl an Ländern mit sogenanntem Nomadenvisa) oder von ihrem ständigen Wohnsitz aus für einen von ihnen bevorzugten Arbeitgeber im Ausland unabhängig von dessen Firmensitz. Auch Unternehmen streben über die virtuelle Entsendung von Erwerbstätigen nach einer Einsparung von Mobilitätskosten. Nach Angaben des Marktforschungsunternehmens International Data Corporation könnten rund 1,5 Milliarden Berufstätige ihre Arbeit von zu Hause aus erledigen, was fast 40 Prozent der weltweiten Erwerbsbevölkerung entspricht.7 Die Kombination aus globaler Bildung und Identität, Remote-Arbeit (Fernarbeit) und sich verändernden Wachstumsmärkten wird voraussichtlich auch die Zahl der Personen deutlich erhöhen, die wiederholt das Land und gegebenenfalls den Arbeitgeber wechseln. Arbeitgeber könnten sich zukünftig das Prinzip der "Staatsbürgerschaftsarbitrage" oder der "Staatsbürgerschaft durch Investition" als Managementinstrument zunutze machen, um langwierige und komplizierte Visabestimmungen bei der Einstellung interessanter selbstinitiiert Auslandstätiger zu umgehen.
Globales Mobilitätsmanagement in Unternehmen muss mehr sein als die Ausarbeitung von Entsendungsrichtlinien und die Festlegung von Vergütungspaketen. Wenn Arbeitgeber (qualifizierte) Migrant:innen finden und an sich binden wollen, müssen sie zusätzlich geeignete Orte schaffen. Wo selbstinitiiert Auslandstätige sind, ist für sie ebenso wichtig wie die Frage, wer sie sind - und je mehr Menschen die Möglichkeit der Auswanderung nutzen, um ihr eigenes Leben zu gestalten, desto wichtiger wird das Erstere (wo) für die Gestaltung des Letzteren (wer). Zur Gestaltung dieser Orte müssen Organisationen, Nationen und Gesellschaften Hand in Hand arbeiten.8
1. De Haas, H.; Czaika, M.; Flahaux, M. L.; Mahendra, E.; Natter, K.; Vezzoli, S.; Villares‐Varela, M.: International migration: Trends, determinants, and policy effects. Population and Development Review, 45 (4) 2019, S. 885-922.
Vgl. Kurzlink: https://t.ly/eJub
2. Hatton, T. J.; Williamson, J. G.: What drove the mass migrations from Europe in the late nineteenth century? Population and Development Review, 20 (3) 1994, S. 1-27.
3. Khanna, P.: Move: How mass migration will reshape the world - and what it means for you. Hachette: New York u. a.: Scribner, 2021.
4. Khanna, P., a. a. O., 2021.
5. Xu, C.; Kohler, T. A.; Lenton, T. M.; Svenning, J. C.; Scheffer, M.: Future of the human climate niche. Proceedings of the National Academy of Sciences, 117 (21) 2020, S. 11.350-11.355.
6 . OECD: International Migration Outlook 2021. Retrieved from https://t.ly/_YFG
7. IDC: Finding the next "steady state" of hybrid work. IDC Survey, 2021, Doc # US47359721. Retrieved.
8. Vgl. www.glomo.eu
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