„A wie achtsam“
Als das Sozialwerk vor zehn Jahren dem Thema Prävention einen organisationsweiten Rahmen gab, war es einer der ersten Träger mit einem derartigen Ansinnen. Vor dem Hintergrund seiner Größe und der Vielfalt der Angebote war dies eine enorme Herausforderung.1 Aktuell überarbeitet es sein Schutzkonzept "A wie achtsam".
Basis war zum damaligen Zeitpunkt die Präventionsordnung der Deutschen Bischofskonferenz (DBK). Diese forderte, insbesondere sexuellem Missbrauch von Mitarbeitenden an Schutzbefohlenen inhaltlich wie strukturell entgegenzuwirken. Weitere rechtliche Anforderungen gab es - zumindest für die Eingliederungshilfe - damals nicht.
Die erste Rezeption der Präventionsordnung mündete innerhalb des Sozialwerks St. Georg im Mai 2012 in der Veröffentlichung der "Leitlinien zur Prävention sexualisierter Gewalt" von Mitarbeitenden an Klientinnen und Klienten. Die Veröffentlichung sorgte für große Unruhe in der Mitarbeiterschaft. Unbeantwortet blieben Fragen nach einem möglichen Generalverdacht gegen die Mitarbeitenden, aber auch die nach der Behandlung von Gewalterleben von Mitarbeitenden durch Klient:innen. Dieses Ungleichgewicht sorgte zunächst für große Skepsis gegenüber jeder weiteren Präventionsarbeit.
Dies führte zu zwei wesentlichen Erkenntnissen: Prävention kann nur gelingen und eine breite Akzeptanz finden, wenn sie alle Menschen gleichermaßen in den Blick nimmt und wenn sie sich gegen alle Formen von Gewalt richtet. Definierte Formen von Gewalt in diesem Zusammenhang sind: tätliche Gewalt, sexuelle Gewalt, strukturelle Gewalt und psychische Gewalt.
Diese beiden Erkenntnisse mündeten 2013 in einer Grundsatzerklärung, die bis heute gilt.
Prävention wirkt auf verschiedenen Ebenen
Prävention lässt sich in drei Wirkungsebenen untergliedern: die Primär-, die Sekundär- und die Tertiärprävention. Maßnahmen der Primärprävention sind solche, die einen direkten Einfluss auf die Menschen haben, an die sie sich richten. Primärprävention hat das konkrete Handeln, die Gestaltung der Beziehungen, die Ermächtigung und Stärkung von Menschen zum Ziel. Sekundärprävention schafft hierfür ein Gerüst: Strukturen, Prozesse, Interventionsrahmen, Verantwortlichkeiten. Beide Wirkungsebenen sind gleichermaßen wichtig. Sie können nicht getrennt voneinander betrachtet werden, brauchen aber unterschiedliche Steuerungen. Die Ebene der Tertiärprävention beschreibt hingegen einen viel weiteren Rahmen: demografische und allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen, Paradigmen, Rechtsnormen, aber auch Finanzierungen.
Prävention braucht also sowohl eine gesamtgesellschaftliche, eine organisationale wie auch eine personale Verantwortung. Sie muss Querschnittsthema der Organisationsentwicklung sein. Sie wirkt in alle Entscheidungen hinein, ebenso wirken sich auch alle Entscheidungen auf ihr Gelingen aus: ohne Ressourcen, ohne Steuerung ist keine Prävention möglich. Prävention ist damit Thema für jedes Leitungshandeln, von der obersten hierarchischen Spitze bis zum untersten Management. Prävention braucht zudem kulturelle Vorbilder: Hier sind insbesondere Leitungskräfte gefragt.
Auf der personalen Ebene findet Prävention im Face-to-Face-Kontakt statt. Jede gute, jede ernstnehmende, jede respektvolle und ermächtigende Begegnung ist Prävention. Erste Zielsetzung war bei der Umsetzung daher die Schaffung einer Verantwortungs- und Haltungsgemeinschaft, die sowohl die Gesamtorganisation als auch jeden einzelnen Menschen in den Blick nimmt.
Jede Organisationseinheit hat ein Eigenleben
Bekannt ist: Missbrauch und Gewalt brauchen Systeme, die den Tätern ihr Handeln ermöglichen und die sie auch decken. Das zweite Ziel war somit die Öffnung geschlossener Systeme. Dem zugrunde liegt die Erkenntnis, dass jede Organisationseinheit (jede Einrichtung, jeder Dienst, jedes einzelne Team) ein Eigenleben führt, das zu eigenen Regeln und Mechanismen neigt und diese auch unabhängig von jeder Unternehmenskultur lebt. An sich ist dieses Phänomen unproblematisch. Schwierig ist es dann, wenn sich fragliche Eigendynamiken entwickeln: Gruppenethiken, die vom Common Sense abweichen, problematische Machtdynamiken oder wenn Fehler vertuscht werden. Um dies zu verhindern, braucht es ein weitgehend unabhängiges Monitoring, ein Interventionsschema, Meldeverpflichtungen und Kontrollmechanismen.
Das dritte Ziel war die Stärkung der Akteure vor Ort: fachkompetent, empathisch und achtsam handelnde Mitarbeitende und gestärkte, aufgeklärte Klient:innen.
Meilensteine der Präventionsarbeit waren daher die verbindlichen Präventionsschulungen für alle Mitarbeitenden - unabhängig von Funktion und Hierarchie - in den Jahren 2014-2017. Solche Schulungen werden seither kontinuierlich für alle neuen Mitarbeitenden durchgeführt. Aktuell gibt es Auffrischungskurse für Mitarbeitende mit Klient:innenkontakt. Seit 2015 arbeitet das Sozialwerk St. Georg mit dem "Low-Arousal-Ansatz" und der "Methode Studio32"2. Das Schutzkonzept "A wie achtsam" wurde partizipativ entwickelt und im Jahr 2016 veröffentlicht. Hinzu kam, dass Präventionsberater:innen in den Einrichtungen vor Ort (aktuell rund 75 Personen) qualifiziert sowie interne Monitoring- und Kontrollinstanzen eingeführt wurden.
Nun könnte man meinen, bei so viel Aufwand sei jetzt alles gut. In der Prävention gibt es jedoch ein bekanntes Phänomen, das Präventionsparadox genannt wird. Im Kern bedeutet dies: Je mehr Prävention geleistet wird, desto höher sind die Fallzahlen, desto mehr wird bekannt. Eine weitere Tatsache ist: Prävention ist in ihrer Wirksamkeit nicht wirklich messbar! Wir wissen nie, wie viele Fälle durch die Maßnahmen tatsächlich verhindert wurden. Wir sehen nur, wie viel und was es dennoch gegeben hat. Die Koppelung dieser Phänomene macht Prävention zu einem uncharmanten Managementthema, denn es bleibt immer das Gefühl, nicht genug getan zu haben. Gleichzeitig werden ständig neue Themen und neue Problemfelder offenbar, die es anzugehen gilt. "There is no glory in prevention"3 formulierte Christian Drosten im Jahr 2020. Das gilt nicht nur für Pandemien, es gilt auch für die Prävention von Gewalt und Missbrauch. Und so müssen auch wir uns ständig neuen und teilweise schmerzhaften Herausforderungen stellen.
Normen im Wohn- und Teilhabegesetz wurden verschärft
Die im Jahr 2020 bekanntgewordenen Missstände bei einem großen Träger in Nordrhein-Westfalen (NRW) veranlassten die Landesregierung dazu, sich intensiv mit Entstehungsbedingungen von Gewalt insbesondere in Einrichtungen der Eingliederungshilfe zu befassen. Der Bericht hierzu liegt seit Sommer 2022 vor.4 Die Ergebnisse haben unmittelbar Einfluss auf die Gesetzgebung genommen. Die einschlägigen Normen im Wohn- und Teilhabegesetz Nordrhein-Westfalen (WTG NRW) haben sich zum 1. Januar 2023 deutlich verschärft. Dies ist eine begrüßenswerte und gute Entwicklung.
Es gäbe über zehn Jahre noch so unendlich viel zu berichten: von Erfolgen, guten Begegnungen, weiteren Erkenntnissen und auch von Ausblicken. Hier bleibt jedoch nur noch Raum für ein kurzes Resümee: Prävention hört niemals auf! Sie braucht Menschen, die entschieden für sie eintreten und sich nicht von Rückschlägen entmutigen lassen. Sie braucht Innovationsfreude, Kompetenz und Haltung - und einen angemessenen und refinanzierten strukturellen Rahmen.
1. Über das Sozialwerk: https://t.ly/24Ud
2. www.autea.de/low-arousal
3. Drosten, C: Schulen schließen und Gemeinden unterstützen. In: Martini, A. (Hrsg).: https://t.ly/YxtO (letzter Zugriff am 13. Juni 2023).
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