Menschen mit schwerer Behinderung fallen durchs Raster
Beim Einbringen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) in den Bundestag im Jahr 2016 hat die damalige Bundesarbeitsministerin Andreas Nahles eines von drei zentralen Zielen des Gesetzes benannt: die Chancen für Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verbessern. Als Instrument dafür wurde das Budget für Arbeit eingeführt, um Schranken zwischen Werkstätten für behinderte Menschen und dem allgemeinen Arbeitsmarkt abzubauen.
UN-Behindertenrechtskonvention und Werkstätte – ein Widerspruch?
Dem Beschluss des Bundestages zumBTHG ging eine lange Diskussion zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und der Rolle der Werkstätten für behinderte Menschen voraus. Artikel 27 der UN-BRK beschreibt das Recht auf Arbeit, einen diskriminierungsfreien Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt und die Möglichkeit, den eigenen Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. Diese Anforderungen erfüllt die Werkstatt für behinderte Menschen so nicht. Daher gab – und gibt es bis heute – die Frage, ob die Werkstätten überhaupt mit der UN-BRK zu vereinbaren sind.
Der Bundesfachverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) hat schon früh auf die Legitimation der Werkstätten durch Artikel 26 der UN-BRK hingewiesen. Dieser Artikel definiert einen Anspruch auf Habilitation und Rehabilitation mit einem umfassenden Unterstützungsangebot für Menschen mit Behinderung. Der gesetzliche Auftrag der Werkstätten für behinderte Menschen lag und liegt in der individuellen beruflichen Rehabilitation. Dazu zählen berufliche Bildung, Erhalt und Weiterentwicklung der beruflichen Leistungsfähigkeit, Persönlichkeitsförderung und Förderung des Übergangs auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.
Dieser Argumentation ist auch der Gesetzgeber mit dem Bundesteilhabgesetz gefolgt. Oder, wie Andrea Nahles es in ihrer Rede ausdrückte: "Wir wollen die Werkstätten nicht grundsätzlich in Frage stellen. Für viele Menschen ist das der richtige Ort. Für sie ist die Arbeit dort wichtig und bedeutet Teilhabe."
Budget für Arbeit – viel erhofft, wenig nachgefragt
Als ein zentrales Instrument wurde mit dem BTHG das Budget für Arbeit eingeführt. Seit dem 1. Januar 2018 können Menschen mit Behinderung, die einen Rechtsanspruch auf eine Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen haben, das Budget nutzen. Dieses ermöglicht trotz einer vollen Erwerbsminderung eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Arbeitgeber erhalten dazu einen Lohnkostenzuschuss vom Träger der Eingliederungshilfe. Das Budget für Arbeit soll damit den Übergang aus der Werkstatt für behinderte Menschen in den allgemeinen Arbeitsmarkt fördern.
Vier Jahre nach der Einführung des Budgets ist Ernüchterung eingekehrt. Nach den aktuellen Daten der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS) erhielten am Stichtag 31. Dezember 2020 insgesamt 1679 Personen ein Budget für Arbeit. Selbst wenn man weitere 3081 Personen mit vergleichbaren länderspezifischen Leistungen hinzurechnet, so nutzen weniger als zwei Prozent aller Leistungsberechtigten in einer Werkstatt diese Option.
Andere Leistungsanbieter werden kaum genutzt
Neben dem Budget für Arbeit wurde mit dem BTHG eine zweite Alternative zur Werkstatt eingeführt, die sogenannten "anderen Leistungsanbieter". Diese sind keine Arbeitgeber des allgemeinen Arbeitsmarktes, sondern wie die Werkstätten ein Angebot der Eingliederungshilfe. Sie müssen vergleichbare Leistungen und Qualitätsstandards wie eine Werkstatt anbieten, sind aber von einigen Vorgaben befreit. Mit der Einführung der "anderen Leistungsanbieter" sollte ein Wettbewerb zu den bestehenden Werkstätten und damit eine Wahlfreiheit der Menschen mit Behinderung ermöglicht werden. Dies gelingt bislang nicht. Gerade einmal 304 Leistungsberechtigte nutzten am 31. Dezember 2020 dieses Angebot.
Wie die Entwicklung beim Budget für Arbeit zeigt, öffnet sich der allgemeine Arbeitsmarkt nur langsam für Menschen mit Behinderung. Dies zeigt auch die Statistik der Bundesagentur für Arbeit zur Arbeitsmarkt-Situation schwerbehinderter Menschen. Die Beschäftigungsquote liegt seit dem Jahr 2017 unverändert bei 4,6 Prozent. Der Rechtsanspruch aus Artikel 27 der UN-BRK zum diskriminierungsfreien Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt ist daher zunächst ein Auftrag an Arbeitgeber und Betriebe. Diese müssen Barrieren und Vorurteile abbauen und sich für Menschen mit Behinderung öffnen. Hier liegt auch ein Auftrag des Staates, der durch Anreize und Gebote die Beschäftigung unterstützen muss, zum Beispiel durch Lohnzuschüsse wie im Budget für Arbeit.
Teilhabe am Arbeitsleben: Fehlanzeige
Die Teilhabe am Arbeitsleben, die durch die Werkstatt organisiert wird, ist demgegenüber nachrangig. Die Leistung der Werkstatt richtet sich an diejenigen Menschen, die wegen ihrer Behinderung dauerhaft nicht im allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können. In der politischen Diskussion über die Werkstätten wird oft über Menschen berichtet, die an einem Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt scheitern, obwohl sie mit Unterstützung tätig werden könnten. Darüber geht leider der Blick auf die Menschen verloren, die ohne das System der Werkstatt überhaupt keine Chance auf eine Teilhabe am Arbeitsleben haben: Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen.
Ein aus Sicht des CBP wichtiges Reformziel konnte mit dem BTHG nicht erreicht werden: die gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Das BTHG beschränkt den Zugang zur Werkstatt weiter auf Menschen, die ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erwarten lassen. Viele Menschen mit schwerer geistiger und/oder mehrfacher Behinderung sind damit vollständig von der Teilhabe am Arbeitsleben ausgeschlossen und leben – mit Ausnahme von Nordrhein-Westfalen – in Tagesförderstätten. Nach dem Kennzahlenbericht der BAGüS wurden im Jahr 2020 insgesamt 38.303 Personen dort betreut. Die Zahl der Menschen, die von einer Teilhabe am Arbeitsleben vollständig ausgeschlossen sind, ist damit höher als die Zahl der Menschen, die im Budget für Arbeit oder auf einem Außenarbeitsplatz einer Werkstatt in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig sind.
Die Beschäftigung von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf erfordert von den Kostenträgern die Bereitschaft, das erforderliche Personal zu finanzieren. Notwendig ist aber, auch das Entgeltsystem anzupassen, da viele Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen den gesetzlich definierten Mindestlohn von aktuell 109 Euro monatlich nicht erwirtschaften können.
Entgeltsystem in Werkstätten wird reformiert
Nach dem BTHG steht mit der Reform des Entgeltsystems der Werkstätten die nächste Veränderung vor der Tür. Die Ampelkoalition hat sich in ihrem Koalitionsvertrag zur "Umsetzung eines transparenten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entgeltsystems" verpflichtet. Derzeit wird im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales eine Studie erarbeitet. Der CBP setzt sich gemeinsam mit den Werkstatträten dafür ein, dass die Einkommenssituation der Werkstattbeschäftigten verbessert wird. Dabei darf es aber nicht zu einer unbeabsichtigten Schlechterstellung von Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen kommen.
Gut fünf Jahre nach dem Beschluss des BTHG ist nur eine langsame Veränderung bei der Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben festzustellen. Die Hoffnung auf steigende Übergänge in den allgemeinen Arbeitsmarkt wurde bislang nicht erreicht, auch weil die Werkstatt für viele aufgrund von Art und Schwere der Behinderung weiterhin das richtige Angebot ist. Im BTHG gibt es viele gute Ansätze, deren Umsetzung jedoch durch die Bürokratie gebremst wird. Und nicht zuletzt müssen bei der Diskussion zur Reform des Entgeltsystems erneut die Hürden zum allgemeinen Arbeitsmarkt in den Blick genommen werden. Es bleibt weiterhin viel zu tun auf dem Weg zu einem inklusiven Arbeitsmarkt.
Generalistik: Besser, aber noch Luft nach oben
Entgeltverhandlungen wollen vorbereitet sein
Leistungserbringer sprechen von „Bürokratiemonster“
Das Leben nach der Flut
Mit Zeitwertkonten flexibel sein
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}