Bleibt das Bundesteilhabegesetz ein ewiges Versprechen?
Fünfeinhalb Jahre ist es her, dass mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) die größte sozialpolitische Reform der vorletzten Legislaturperiode vom Bundestag verabschiedet wurde. "Mehr Teilhabe möglich machen" lautete das Versprechen, mit dem das komplexe Gesetz stufenweise an den Start ging. Durch passgenauere, individuellere Teilhabeleistungen sollte damit auch die "Kostendynamik in der Eingliederungshilfe" gebremst werden.1
Einerseits wurde das für alle Rehabilitationsträger geltende Verfahren zur Gewährung von Rehabilitations- und Teilhabeleistungen im ersten Teil des BTHG gestrafft und geschärft, um leistungsberechtigten Personen aus den Säulen der deutschen Sozialversicherung "Leistungen wie aus einer Hand" anbieten zu können. Das Augenmerk des folgenden Artikels ist jedoch auf die zweite Aufgabe des Gesetzes gerichtet: der Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe von einem Fürsorgesystem hin zu einem modernen Teilhaberecht – eine Zwischenbilanz.
Situation bei Verabschiedung des Gesetzes
Leistungen der Eingliederungshilfe sind steuerfinanzierte Leistungen, für die Länder und Kommunen zuständig sind. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes beschränkt sich damit darauf, einen Rahmen vorzugeben, innerhalb dessen den Ländern große Spielräume bei der Umsetzung verbleiben. Die Meinungen darüber, ob der Bund hier hätte mehr regeln können oder sollen, gehen auseinander. Jedenfalls hat der Bundesgesetzgeber bereits bei Erlass dieses Gesetzes in Kauf genommen, dass Föderalismus und kommunale Selbstverwaltung zu Ungleichzeitigkeiten und auch zu teils erheblichen Unterschieden bei Art und Umfang der Leistungen führen können. Die stufenweise Inkraftsetzung einzelner Teile des Gesetzes sollte ursprünglich dazu führen, zunächst die in jedem Bundesland zuständigen Behörden zu bestimmen. Danach oder im besten Fall gleichzeitig sollten Instrumente zur Bedarfsermittlung erarbeitet und danach oder gleichzeitig Landesrahmenverträge abgeschlossen werden. Ziel war, spätestens Ende 2020 mit neuen Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen mit dem reformierten Leistungsgeschehen beginnen zu können.
Weitgehend unterschätzt wurden dabei zunächst die Schwierigkeiten, die mit der Ausgliederung der Fachleistungen der Eingliederungshilfe aus dem System der Sozialhilfe (SGB XII) in einen zweiten Teil des SGB IX verbunden waren und weiterhin sind.
Die Kunst, die Bestandteile einer Komplexleistung zu definieren
Die größte Veränderung brachte das BTHG für diejenigen Menschen, deren Teilhabeeinschränkungen so groß sind, dass sie in sogenannten "besonderen Wohnformen" leben, also Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe. Bis zum 31. Dezember 2019 erhielten sie eine Komplexleistung aus einer Hand, die aus Unterkunft und Verpflegung einerseits sowie den notwendigen Fachleistungen andererseits bestand.
Seit dem 1. Januar 2020 erhalten sie Grundsicherung einschließlich individuell zu beantragender Mehrbedarfe, und lediglich die Fachleistungen der Eingliederungshilfe werden aus diesem System finanziert.
Um diese Veränderung möglich zu machen, standen diese Wohneinrichtungen zunächst vor der Aufgabe, die Leistungen zu trennen. Das heißt, genau zu unterscheiden, welche Flächen für Wohnzwecke und welche für Fachleistungen verwendet wurden, welcher Anteil der Betriebskosten Wohnzwecken dient und ob beispielsweise Putzmittel oder Hygienebedarf zur Existenzsicherung oder zur Fachleistung zu zählen sind. Eine Übersicht der dazu erarbeiteten Papiere verschiedener bundesweiter Gremien findet sich auf der Webseite des Projekts "Umsetzungsbegleitung BTHG" (Kurzlink: https://bit.ly/3xeastg). Die Landesrahmenverträge enthalten dazu ebenfalls viele - höchst unterschiedliche - Regeln.
Der Prozess darf als noch nicht vollständig abgeschlossen betrachtet werden, da bis heute Unklarheit darüber herrscht, wie zum Beispiel mit einer Dynamik von durch den Grundsicherungsträger anerkannten Kosten der Unterkunft oder steigenden Energiekosten unter der Geltung des § 42 a Abs. 6 SGB XII umzugehen ist. Für Leistungsberechtigte ist nur schwer durchschaubar, welcher Anspruch welcher Behörde zugeordnet ist und wie man mit möglicherweise fehlerhaften Bescheiden umgeht.
Bedarfsermittlung - auch eine Frage der Zeit
In bislang 15 Bundesländern wurden in unterschiedlicher Geschwindigkeit unterschiedliche Instrumente der Bedarfsermittlung (§ 118 SGB IX) entwickelt. Dort, wo diese Instrumente bislang angewendet werden, kann man bereits jetzt erkennen, dass es weniger auf "das perfekte Instrument" ankommen wird, sondern darauf, wie viel Zeit eine Behörde zu investieren bereit ist, um kleinteilig genug herauszufinden, welche Bedarfe bei einer konkreten Person zu decken sind. Inwieweit es Menschen mit Behinderung zuzumuten ist, Teilhabebedarfe bis in den intimsten privaten Lebensbereich hinein prognostisch zu quantifizieren, dürfte auch eine ethische Fragestellung sein. Die Hypothese, dass die so erhobenen Bedarfe mit den bislang gedeckten Bedarfen deckungsgleich sind, ist gewagt. In den Ländern wird derzeit noch fieberhaft darüber verhandelt, auf welche Weise die Ergebnisse der Bedarfsermittlung mit der Refinanzierung personenzentrierter Leistungen verknüpft werden können.
Alternativen zur Werkstatt
Das BTHG und das Teilhabestärkungsgesetz haben mit dem Budget für Arbeit (§ 61 SGB IX), dem Budget für Ausbildung (§ 61 a SGB IX) und den "Anderen Leistungsanbietern" (§ 60 SGB IX) Alternativen zur Tätigkeit in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM) geschaffen. Die Inanspruchnahme ist überschaubar. Eine Ursache dafür ist sicherlich, dass noch immer zu wenige Unternehmen am allgemeinen Arbeitsmarkt bereit sind, auch Menschen mit Behinderung zu beschäftigen. Aber auch die damit verbundenen immensen bürokratischen Hürden dürften Barrieren für eine "freie Wahl des Arbeitsplatzes" für Menschen mit Behinderung sein.
Landesrahmenverträge - bleibt der Weg das Ziel?
Mittlerweile gibt es in allen Bundesländern mit Ausnahme von Bayern einen Landesrahmenvertrag gemäß § 131 SGB IX. Allerdings sind diese Verträge noch nicht vollständig. Mit Verweisen auf Anlagen und die noch offenen Passagen sind sie nach wie vor heiß umkämpftes Terrain. Vielfach legen Leistungserbringer detaillierte Fachkonzepte zu den von ihnen erbrachten Leistungen vor. Die Verhandlungen darüber verlaufen schleppend und kommen oft nicht voran, sobald sich erweist, dass die Refinanzierung dieser Konzepte zu höheren Vergütungen führen würde als bisher. »
Besonders schwierig sind die Verhandlungen dort, wo Menschen mit hohem Unterstützungs- und Pflegebedarf versorgt werden. Die Schnittstelle zu Leistungen der Pflegeversicherung führt immer wieder zu Grundsatzdebatten darüber, ob und wie viel Pflege überhaupt durch Leistungserbringer der Eingliederungshilfe geleistet werden darf. Leistungen in diesem Bereich, die bislang unproblematisch über die Eingliederungshilfe finanziert wurden, werden plötzlich infrage gestellt und Leistungsberechtigte sehen sich der Gefahr ausgesetzt, in Pflegeeinrichtungen "verschoben" zu werden.
Leistungsberechtigter Personenkreis steht noch nicht fest
Ein weiterer Punkt war bereits bei Verabschiedung des Gesetzes offengeblieben: Der Personenkreis der Menschen, die "wesentlich in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind (wesentliche Behinderung) oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind" und deshalb Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe haben, soll zum 1. Januar 2023 näher bestimmt werden. Die bislang geltende Eingliederungshilfe-Verordnung enthält dazu Begriffe, die angepasst werden müssen.
Die neue Definition sollte das deutsche Recht an die UN-Behindertenrechtskonvention anpassen, den Personenkreis gegenüber dem bisherigen Zustand weder einengen noch erweitern und möglichst gut handhabbar für die Verwaltungspraxis sein. Weil also gar nicht so genau bekannt war, welche Menschen bislang aus welchen Gründen Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten und ob es hilft, lediglich eine Anzahl Lebensbereiche zu definieren, in denen die Menschen in ihrer Teilhabe eingeschränkt sind, hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in den Jahren 2017 und 2018 eine Arbeitsgemeinschaft mit einem Forschungsvorhaben beauftragt. Im September 2018 wurde deren Abschlussbericht veröffentlicht.2 Die Arbeitsgemeinschaft stellte fest, dass bei keiner denkbaren quantitativen Bestimmung (in wie vielen Lebensbereichen muss ein Mensch eingeschränkt sein?) der dann leistungsberechtigte Personenkreis mit dem Personenkreis übereinstimmen würde, der derzeit Leistungen der Eingliederungshilfe erhält. In den Jahren 2019 bis 2021 wurde dann ein partizipatives Arbeitsgremium eingerichtet, das sich auf eine qualitative Neubestimmung des Leistungszugangs weitgehend geeinigt hat. Das Gremium hat sich aber auch darauf verständigt, die Neufassung der Verordnung vor ihrem Inkrafttreten zunächst auf ihre Auswirkungen hin evaluieren zu lassen. Die Vergabe dieses Evaluationsauftrages steht noch aus. Bis zu einer endgültigen Neudefinition des leistungsberechtigten Personenkreises in der Eingliederungshilfe durch eine neue Verordnung bleibt es bei den bisherigen Zuordnungen.
Eine beachtliche Verwaltungsreform, die nicht allen nutzt
Das BTHG hat die ohnehin sehr komplexe Rechtsmaterie der Eingliederungshilfe völlig neu geregelt. Mehr als fünf Jahre, nachdem das Gesetz verabschiedet wurde, ist in erster Linie eines gelungen: eine beachtliche Verwaltungsreform. Menschen mit komplexen Behinderungen, die nicht ohne Grund in besonderen Wohnformen der Behindertenhilfe leben, haben nunmehr Leistungsansprüche sowohl gegenüber den Grundsicherungsbehörden als auch gegenüber den Trägern der Eingliederungshilfe und müssen in beiden Systemen Anträge (zum Beispiel auf Mehrbedarfe in der Grundsicherung) stellen und ihre Rechte verfolgen. Ob ausgerechnet dieser Personengruppe mit dieser rechtlichen Gleichstellung wirklich geholfen ist, kann man mit guten Gründen bestreiten.
An ihrer Teilhabesituation hat sich indessen nichts verbessert. Der größte Teil der Leistungsberechtigten dürfte bis heute nicht an einer Bedarfsermittlung nach neuem Recht teilgenommen haben. Selbst wenn das der Fall ist und die Bedarfe festgestellt sind, solange sich die Parteien der Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen nicht auf die Finanzierung der Bedarfsdeckung verständigt haben, bleibt ihnen nur, ihren Anspruch auf personenzentrierte Leistungen erforderlichenfalls gerichtlich geltend zu machen. Oder sie müssen weiterhin darauf warten, ob beziehungsweise wann ihnen personenzentrierte Leistungen zur Verfügung stehen werden. Es ist zu befürchten, dass insbesondere Menschen mit besonders hohem Unterstützungsbedarf oder Menschen, die aufgrund psychischer Erkrankungen nicht imstande sind, an all diesen Prozessen hinreichend konstant mitzuwirken, bei der Umsetzung des BTHG auf der Strecke bleiben.
Anmerkungen
1. Begründung zum BTHG, Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 2.
2. Bundestags-Drucksache 19/4500.
Generalistik: Besser, aber noch Luft nach oben
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