Benachteiligung verfestigt sich
Im Jahr 2020 haben neun Menschen mit Behinderung, die zur Risikogruppe einer Covid-19-Erkrankung mit schweren Krankheitsverläufen gehören, vor dem Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde eingereicht. Mit der Beschwerde rügten sie die Untätigkeit des Gesetzgebers, der keine gesetzlichen Regelungen bei der Zuteilung von Intensivplätzen (Triage) erlassen hat - trotz der Knappheit der Intensivbetten während der Coronapandemie. Menschen mit Behinderung befürchten, bei knappen Behandlungsressourcen aufgrund ihrer Behinderung von einer lebensrettenden medizinischen Behandlung ausgeschlossen zu werden. Der Hintergrund: Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hatte im März 2020 klinisch-ethische Empfehlungen für "Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und Intensivmedizin" im Corona-Kontext veröffentlicht.1 Durch diese Empfehlungen, die keine rechtliche Kraft, aber praktische Auswirkungen haben, werden Menschen mit Behinderung vor und während der Krankenhausbehandlung benachteiligt. Dies wurde auch im Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 28. Dezember 2021 indirekt bestätigt. Der Erste Senat erklärte, dass der Gesetzgeber Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes verletzt hat. Er habe bislang keine Vorkehrungen getroffen, dass niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt wird, wenn diese Ressourcen nicht allen zur Verfügung stehen. Der Gesetzgeber wurde auch mit Blick auf die UN-Behindertenrechtskonvention aufgefordert, "unverzüglich" dafür Sorge zu tragen, "dass jede Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Verteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen hinreichend wirksam verhindert wird".2
Gesetzentwurf sorgt für Entsetzen
Das Bundesverfassungsgerichtsurteil hatte aufgrund der andauernden Pandemielage eine sehr hohe Brisanz festgestellt, diese drohende Ungleichbehandlung rechtlich zu klären. Doch das in der Sache federführende Bundesgesundheitsministerium unter Leitung von Karl Lauterbach benötigte Zeit bis Juni 2022, um einen Gesetzentwurf zu präsentieren. Dieser liegt jetzt in Fachkreisen vor und soll im Herbst im Bundestag beraten werden. Bis zum 22. Juli konnten Sachverständige und Verbände der Zivilgesellschaft Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf abgeben. Die Regelung soll im derzeit geltenden Infektionsschutzgesetz mit aufgenommen werden. Menschen mit Behinderung und deren Interessenvertretungen - zuallererst erneut die neun Beschwerdeführer:innen vor dem Bundesverfassungsgericht - sind entsetzt über den Gesetzesvorschlag. Sie fürchten, dass die Ungleichbehandlung und Diskriminierung von Menschen mit Behinderung in intensiv- und notfallmedizinischen Handlungskontexten nun rechtlich verbindlich verfestigt wird.
Der entscheidende Satz im Gesetzentwurf lautet wie folgt: "Eine Zuteilungsentscheidung darf nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patientinnen und Patienten getroffen werden."
Aus Sicht der Menschen mit Behinderung ist das Kriterium der "Überlebenswahrscheinlichkeit" eine Verfestigung der Benachteiligung. Es könnte dazu führen, dass viele Gruppen von Menschen mit Behinderung keine notfallmedizinische Behandlung erhalten werden. Menschen mit Down-Syndrom (Trisomie 21) haben beispielsweise eine mutmaßlich angenommene geringere Lebenserwartung als Menschen ohne Chromosomenstörung. Sie könnten im Wettbewerb um einen knappen Intensivkrankenhausplatz leer ausgehen. Auch andere Gruppen von Menschen mit Behinderung, die Krankheiten oder genetische Störungen haben, die deren Lebenserwartung mutmaßlich verkürzen, könnten bei einer Triage-Entscheidung diskriminiert werden. Letztlich dürfte das Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit auch auf nahezu alle alten und pflegebedürftigen Menschen zutreffen. Dieses Kriterium widerspricht damit der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, ein Triage-Gesetz zu schaffen, das niemand wegen einer Behinderung, einer Gebrechlichkeit oder des Alters benachteiligt. Hier hilft auch nicht, dass der Gesetzgeber die "kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit" betont. Der Parameter der "Kurzfristigkeit" ist in einer Akutsituation kaum von grundsätzlichen Vorerkrankungen oder anderen Formen der Beeinträchtigung (gerade von Alter und Gebrechlichkeit) zu lösen und würde die zuständigen Ärzt:innen in eine ethisch schwierige Entscheidungssituation bringen. Darüber hinaus führt der Gesetzentwurf an, Komorbiditäten (Begleiterkrankungen) ins Kalkül zu ziehen: "Insbesondere Komorbiditäten oder die Gebrechlichkeit dürften nur berücksichtigt werden, soweit sie aufgrund ihrer Schwere oder Kombination die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern." Aber auch hier droht ein Zirkelschluss, wenn die Komorbidität gerade die Beeinträchtigung ist, die zur Behinderung geführt hat.
Patient:innen, die Behandlung ablehnen, sind auszuschließen
Im Gesetzentwurf wird vorgeschlagen, dass die Zuteilungsentscheidung von zwei erfahrenen Fachärzt:innen unabhängig und einvernehmlich getroffen wird. Insofern sich beide nicht verständigen können, soll ein:e dritte:r Arzt:in hinzugezogen werden, um dann eine Mehrheitsentscheidung herbeizuführen.
Nancy Poser, die zu den neun Beschwerdeführer:innen beim Bundesverfassungsgericht gehört und selbst Juristin ist, erläutert, dass im Falle einer konkurrierenden Situation um eine notfallmedizinische Behandlung zunächst die Patient:innen aus der Auswahlentscheidung herauszunehmen sind, die eine Behandlung gemäß nachgewiesener freier Willensentscheidung ablehnen. Zudem seien jene Menschen bei der Zuteilungsentscheidung nicht mehr zu berücksichtigen, bei denen der Sterbeprozess bereits begonnen hat, bei denen also eine medizinische Indikation für eine intensivmedizinische Behandlung nicht mehr besteht. Sofern es dann noch mehr Patient:innen gibt als freie Behandlungsplätze, plädiert Poser dringend dafür, nach dem formalen Kriterium des zeitlichen Eintreffens zu entscheiden, und bei zeitgleichem Eintreffen ein Randomisierungsverfahren (verächtlich oft als "Losverfahren" bezeichnet) über die Zuteilung entscheiden zu lassen. Randomisierung ist ein in der Statistik und Psychologie anerkanntes Verfahren, um im Falle einer gleichen Ausgangslage faire Beurteilungs- und Wettbewerbsbedingungen herzustellen. Im Falle des Randomisierungsverfahrens zur Triage bedeutet es, dass alle Patient:innen mit einer medizinischen Indikation zur intensivmedizinischen Behandlung - ohne weitergehende Kriterieneinschränkung - aufgenommen werden. Das Randomisierungsverfahren ist unabhängig des behandelnden Personals - auch zum Schutze aller Beteiligten - seitens unabhängiger Dritter auszuführen. In Anbetracht der Extremsituation, die eine Triage-Entscheidung immer darstellt, ist das Randomisierungsverfahren für alle Beteiligten eine faire Option, in der niemand aufgrund von einer Behinderung, Gebrechlichkeit oder anderen Merkmalen benachteiligt werden kann.
Kriterium der Erfolgsaussicht steht im Vordergrund
Der vorliegende Gesetzesentwurf ist bereits der zweite Versuch des Ministeriums von Karl Lauterbach. Der erste Versuch musste zurückgenommen werden, da dieser noch eine sogenannte "Ex-Post-Triage" erlaubt hatte, also quasi den Entzug einer bereits stattfindenden notfallmedizinsuchen Behandlung. Dagegen gab es bereits einen Sturm der Entrüstung. Der nun vorliegende Triage-Gesetzentwurf konzentriert sich vollständig auf das Kriterium der "Erfolgsaussicht" beziehungsweise der "kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit" der Patient:innen, und unterliegt damit einem massiven ethischen Dilemma. Für Ärzt:innen wird es damit noch schwieriger, eine ohnehin existenzielle Notfalllage so aufzulösen, dass die Grundrechte nicht infrage gestellt werden. Umso wichtiger ist es deshalb, die Argumente der Beschwerdeführer:innen und Menschen mit Behinderung zu prüfen, die für sich eine extreme Bedrohungslage vor Augen haben und um den Schutz der sie betreffenden Menschen- und Grundrechte fürchten müssen.
Bereits im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht hatte der Bundesverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) zudem auf die grundsätzliche strukturelle Benachteiligung von Menschen mit Behinderung im Gesundheitssystem hingewiesen, die sich in der Pandemie weiter verstärkt hat. Beispielsweise wurden Menschen mit Behinderung aus Einrichtungen der Caritas trotz schwerer Covid-19-Infektion in einigen Fällen nicht ins Krankenhaus aufgenommen, obwohl sie in der Einrichtung nicht optimal versorgt werden konnten. Dies kann als eine sogenannte "Triage vor der Triage" bezeichnet werden. All das unterstreicht die Notwendigkeit, dass sowohl das hier vorgestellte Gesetzesverfahren als auch Reformierungsofferten des Gesundheitswesens dringlich partizipativ - also unter Beteiligung von Menschen mit Behinderung - gestaltet werden müssen. Es gilt auch hier das Motto der internationalen Interessenvertretung von Menschen mit Behinderung: Nicht über uns ohne uns!
Anmerkung
1. Siehe dazu www.divi.de; direkter Link: https://bit.ly/3P3tbiA
2. Siehe dazu Bundesverfassungsgericht, Kurzlink: https://bit.ly/3Oeag3Y
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