Mehr Beteiligung – besserer Kinderschutz
Mit dem Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (KJSG) wird das SGB VIII reformiert. Die Reform verfolgt fünf übergeordnete Ziele:
◆ besserer Kinder- und Jugendschutz;
◆ Stärkung von Kindern und Jugendlichen, die in Pflegefamilien oder in Einrichtungen der Erziehungshilfe aufwachsen;
◆ inklusive Kinder- und Jugendhilfe;
◆ mehr Prävention vor Ort;
◆ mehr Beteiligung von jungen Menschen, Eltern und Familien.
Der Deutsche Caritasverband (DCV) hat den Reformprozess am hierzu einberufenen Runden Tisch des DCV und im Zusammenspiel mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) in allen Phasen und in vielen Gremien mitgestaltet (siehe dazu Infoblock, S. 10).1 Der DCV begrüßt die Reform als wichtigen Schritt zur Modernisierung der Kinder- und Jugendhilfe. Zahlreiche Anregungen und Forderungen der Caritas wurden aufgegriffen. Die Reform bringt einen Demokratisierungsschub und stärkt die Subjektstellung, indem sie junge Menschen und ihre Eltern mit mehr Beratungsrechten sowie mehr Beteiligungs- und Beschwerdemöglichkeiten ausstattet. Neue Strukturen zur Selbstvertretung können künftig die Interessen von Kindern, Jugendlichen und Familien in kommunalen Gremien besser voranbringen. Beteiligung ist ein Schutzfaktor: Kinder, die erfahren, dass ihre Meinung gefragt ist, dass sie ihren Willen haben dürfen und äußern sollen, können sich bei Grenzüberschreitungen eher wehren und mitteilen.
Selbstbestimmter durch mehr Beratung und Information
Die Reform ergänzt den Begriff der Selbstbestimmung explizit in § 1 (1)-E: "Jeder junge Mensch hat das Recht ... auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit".2 Jugendhilfe hat die Aufgabe, zur Verwirklichung dieses Rechts tätig zu werden. Das Recht, beteiligt und gehört zu werden, ist bereits in der bisherigen Fassung in § 8 SGBVIII angelegt. Es wird nun gestärkt und zudem inklusiv formuliert. Die Jugendhilfe soll "jungen Menschen ermöglichen oder erleichtern, entsprechend ihrem Alter und ihren individuellen Fähigkeiten in allen sie betreffenden Lebensbereichen selbstbestimmt zu interagieren und damit gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können" (§ 1 (3) 2-E).
Die Reform baut Informations- und Beratungsrechte deutlich aus. Dazu werden Jugendämtern mehr Informations-, Beratungs- und Beteiligungspflichten gegenüber Kindern und ihren Familien zugewiesen. Bei Hilfen außerhalb der Familie stehen Eltern mehr Beratungs- und Beteiligungsrechte zu. Eltern, die nicht sorgeberechtigt sind, werden - sofern dadurch der Hilfezweck nicht infrage gestellt wird - an der Aufstellung des Hilfeplans beteiligt (§ 36 (5)-E). Sie sollen bei Hilfen außerhalb der eigenen Familie - unabhängig von Personensorge - einen Rechtsanspruch auf Beratung, Unterstützung und Förderung ihrer Beziehung zum Kind erhalten (§ 37 (1)-E).
Auch Pflegeeltern sollen mehr Beratung und Unterstützung vor und während der Dauer des Pflegeverhältnisses bekommen (§38 a-E). Bei den Hilfen soll künftig auch der Geschwisterbeziehung Rechnung getragen werden (§ 36 (2)-E). Damit kommt die Lebenssituation der Kinder besser in den Blick. Beteiligung der jungen Menschen und ihrer Familien an allen sie betreffenden Ereignissen und Entscheidungen setzt voraus, dass sie Informationen beispielsweise zu Beratungs- und Hilfeangeboten erhalten, dass sie sich auf dieser Grundlage eine Meinung bilden und eine faktenbasierte Entscheidung für oder gegen eine konkrete Hilfe treffen können. Damit werden Adressat(inn)en ernst genommen und auf Augenhöhe gestellt. Die Akzeptanz von Hilfen und die Wahrscheinlichkeit, dass sie wirken können, werden verbessert.
Sehr zu befürworten ist, dass Kinder und Jugendliche einen uneingeschränkten, elternunabhängigen Anspruch auf Beratung erhalten, ohne dass die Sorgeberechtigten dies erfahren müssen (§ 8 (3)-E). Bisher musste geprüft werden, ob eine Not- und Konfliktsituation vorliegt. Diese Zugangsbarriere ist nun abgebaut.
Kinder und Jugendliche: Beratung ohne Eltern
An mehreren Stellen, unter anderem in § 8 (4) wird formuliert, dass Beteiligung und Beratung von Kindern und Jugendlichen in einer für sie "verständlichen, nachvollzieh[1]baren und wahrnehmbaren Form" erfolgen soll. Diese drei Kriterien gelten auch für die Beratung von jungen Menschen, Müttern, Vätern, Personensorge- und Erziehungsberechtigten. Außerdem soll die Kommunikation, je nachdem, ob es sich um Kleinkinder, Jugendliche, um ein Kind mit Behinderung (blind/gehörlos) oder ein fremdsprachiges Kind handelt, entsprechend angepasst werden. Das verankert die "Bringschuld" erfreulich klar beim Leistungserbringer. Damit ist die Voraussetzung für die aktive Beteiligung und für eine Begegnung auf Augenhöhe gegeben. Das Kriterium gilt auch in Bezug auf Personensorgeberechtigte und ist unter anderem in die Regelungen zum Hilfeplanverfahren nach § 36 (1)-E und bei der Inobhutnahme § 42 (2)-E eingearbeitet.
Junge Erwachsene werden nachbetreut
Chancen auf mehr Beteiligung bringt nun die Vorgabe, den Kostenanteil der jungen Menschen bei vollstationären Leistungen von 75 Prozent auf höchstens 25 Prozent ihres Einkommens, zum Beispiel aus einem Nebenverdienst oder Ferienjob, zu senken (§ 94 (6)-E). Damit haben sie mehr Ressourcen und Gestaltungsfreiheit für ihr Leben nach der Jugendhilfe. Während altersgleiche Jugendliche oft lange von ihren Familien unterstützt werden, sich den Führerschein oder Ähnliches leisten können, sind diese Jugendlichen häufig auf sich selbst gestellt. Hoffnung legt die Fachwelt auch auf die Änderungen zu Hilfen für junge Volljährige nach § 41-E. Diese werden je nach kommunaler Haushaltslage restriktiv bewilligt und sind nun verbindlicher geregelt. Neu sind die frühzeitige Übergangsplanung, bevor die Hilfe beendet wird, und die Nachbetreuung am Übergang aus der stationären Jugendhilfe (Wohngruppe/Pflegefamilie) in ein eigen[1]ständiges Leben (§ 41 a-E). In der Nachbetreuung finden die jungen Erwachsenen Unterstützung und Schutz, denn sie sind anfälliger für Wohnungslosigkeit, Bildungsabbrüche und andere Armutsrisiken.3
Unabhängige Beschwerdestellen bei Konflikten
Neue Strukturen sollen das Machtgefälle zwischen den Generationen besser austarieren und die Rechtsansprüche und Anliegen von Kindern und Jugendlichen leichter durchsetzen. Vorgesehen sind in § 9 a-E Ombudsstellen als unabhängige Beschwerdestellen. Sie sollen Kinder, Jugendliche und ihre Familien unterstützen, die ihnen zustehenden Rechte bei Konflikten mit öffentlichen oder freien Trägern zu erreichen. Damit dienen sie dem Machtausgleich und ermöglichen die Begegnung auf Augenhöhe. Der DCV hat diese Beschwerdestellen seit Jahren gefordert.4
Eine weitere neue Struktur sind die selbstorganisierten Zusammenschlüsse zur Selbstvertretung nach § 4 a-E. Sie sollen Adressat(inn)en unterstützen, begleiten und fördern. Die öffentliche Jugendhilfe wird verpflichtet, mit diesen Zusammenschlüssen zu kooperieren und auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit hinzuwirken. Die selbstorganisierten Zusammenschlüsse sollen dem Jugendhilfeausschuss als beratende Mitglieder angehören (geregelt in § 71 (2)-E) und in den Arbeitsgemeinschaften nach § 78, in denen öffentliche und freie Träger Maßnahmen aufeinander abstimmen, beteiligt werden (§ 78-E). Damit könnte in den Kommunen ein neues Miteinander entstehen.
Planungen und Entscheidungen in der Kinder- und Jugendhilfe könnten deutlich adressatengerechter werden, wenn Betroffene zu Wort kommen und ihre Erfahrungen und Forderungen einbringen.
Mehr Austausch von Berufsgeheimnisträgern
Um den Kinderschutz zu verbessern, erhalten Jugendämter neue Prüf- und Aufsichtspflichten (zum Beispiel Heimaufsicht, Auslandsmaßnahmen). Das Zusammenwirken von Jugendamt und Jugendgericht, Ärzt(inn)en sowie anderen Berufsgeheimnisträgern wird neu geregelt.
Die Erlaubnis, eine Einrichtung zu betreiben, wird künftig nur erteilt, wenn unter anderem "zur Sicherung der Rechte und des Wohls von Kindern und Jugendlichen in der Einrichtung die Entwicklung, Anwendung und Überprüfung eines Konzepts zum Schutz vor Gewalt, geeignete Verfahren der Selbstvertretung und Beteiligung sowie der Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten innerhalb und außerhalb der Einrichtung gewährleistet werden" (§ 45-E). Ein Gewaltschutzkonzept ist künftig auch für Kinder und Jugendliche in Pflegefamilien vorgesehen und vom Jugendamt sicherzustellen (§ 37b). Dies gilt auch für die Beschwerdemöglichkeiten in persönlichen Angelegenheiten während der Dauer des Pflegeverhältnisses (§ 37 b (3)).
Caritas steht für Beteiligung
Aktuell liegt das Gesetz dem Bundespräsidenten zur Unterzeichnung vor. Der DCV begrüßt die Reform als wichtigen Schritt hin zu einer beteiligungsorientierteren Kinder- und Jugendhilfe, die aus Betroffenen Beteiligte macht. Sowohl die öffentlichen als auch die freien Träger der Jugendhilfe stehen jetzt vor der Herausforderung, den Adressat(inn)en der Kinder- und Jugendhilfe ihre Rechte als weitere Akteure im Feld einzuräumen und ihren Beitrag zu leisten, damit Kinder, Jugendliche und ihre Familien mit ihren Erfahrungen, Meinungen, Wünschen und Bedarfen bei allen Angeboten, Maßnahmen und Hilfen auf Augenhöhe einbezogen werden. Dies kann nur dann gelingen, wenn sie ihre Rechte kennen und Unterstützung dabei erhalten, sie durchzusetzen. Insbesondere die neuen Selbstvertretungsorganisationen, die künftig in die Jugendhilfeplanung eingebunden werden, und die Ombudsstellen können der Machtasymmetrie entgegenwirken. Die Caritas steht vor der Aufgabe, die Beteiligungsmöglichkeiten und die Selbstermächtigung der Adressat(inn)en mit ihren Diensten und Einrichtungen anwaltschaftlich zu begleiten. Zur Verbesserung des Kinderschutzes können die Einrichtungen der Caritas insbesondere dadurch beitragen, indem sie Schutzkonzepte mit internen und externen Beschwerdeverfahren sowie die Verfahren der Selbstvertretung und Beteiligung weiterentwickeln.
Anmerkungen
1. Neben mehreren eigenen Stellungnahmen (www. caritas.de, siehe zum Beispiel Kurzlink: https://bit.ly/3tZX217) hat der DCV sich mit der BAGFW geäußert: zum Referentenentwurf: siehe Kurzlink https://bit.ly/32RZvPu; zum Regierungsentwurf: https://bit.ly/3aFQP2M ; zuletzt zur Bundesratsstellungnahme: https://bit.ly/3dTa2jv
2. Bundesrat-Drucksache, Kurzlink: https://bit.ly/3tDHKy6
3. Stellungnahme Careleaver Kollektiv Leipzig vom 2. März 2021: https://bit.ly/2PvEO91
4. Deutscher Caritasverband (Hrsg.): Position zur Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung. 2016, S. 24, Kurzlink: https://bit.ly/3vo5Gaa
5. Fachverbände Stellungnahme vom 13. Januar 2021, www.dijuf.de , Kurzlink: https://bit.ly/3xvefSr
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