Jugendberufshilfe lohnt sich für alle
"Und was machen Sie beruflich?" Selten wird diese Frage bei privaten oder offiziellen Vorstellungen ausgelassen. Jemand ohne berufliche Qualifikation oder Ausbildung wird bei ehrlicher Beantwortung wenig Anerkennung finden, vielleicht etwas mitleidiges Verständnis, falls offenbar wird, dass er psychosozial benachteiligt ist. Wer heute ohne berufliche Qualifikation oder (richtige) Ausbildung dasteht, ist schnell ausgegrenzt, wenn nicht abgeschrieben.
Unsere Gesellschaft funktioniert weitgehend durch ein Geben und Nehmen ihrer Mitglieder nach deren individuellen Möglichkeiten und Grenzen. Auch junge Menschen mit Bedarf und Recht auf besondere Unterstützung wollen nicht nur konsumieren, sondern auch selbstwirksam etwas leisten. Ihr Bedarf an Jugendhilfe liegt zu über 50 Prozent in unzureichender Versorgung und Förderung1, und dies hat auch gesellschaftliche Ursachen. Um sie in die Lage zu versetzen, der Gesellschaft ihren Teil (zurück-)geben zu können, muss diese ihnen vorher notwendige und wirkungsvolle Hilfen zur Selbsthilfe gewähren. Der Gesetzgeber sieht im Rahmen des SGB III (Arbeitsförderung) eine Reihe von Maßnahmen vor, die junge Menschen bei der Suche und Verwirklichung einer beruflichen Qualifizierung sehr wirkungsvoll unterstützen können. Daneben haben SGB-II-Leistungen (Grundsicherung für Arbeitsuchende) die Eingliederung in Arbeit zum Ziel. Hier gilt der Grundsatz "Fördern und Fordern". Gleichwohl können diese Hilfen nicht alle erreichen, die besondere Unterstützung benötigen. Insbesondere psychosozial deutlich belastete Jugendliche und junge Volljährige mit Anspruch auf Hilfe zur Erziehung oder Hilfe für junge Volljährige sind bei einer beruflichen Qualifizierung auf "geeignete sozialpädagogisch begleitete Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen"2 angewiesen. Laut Statistischem Bundesamt befanden sich 2016 etwa 135.000 junge Menschen im Ausbildungsalter in stationärer Erziehungshilfe. Viele von ihnen bedürfen einer besonderen Unterstützung bei der Ausbildung, die sie durch Hilfen der Bundesagentur für Arbeit nicht hinreichend bekommen.
Die Schnittstellen zwischen den Rechtskreisen SGBII, III,VIII. und besonders Vorrang- und Nachrangprobleme zum Nachteil von Leistungsberechtigten und Leistungserbringern sind von vielen Praktikern und Fachleuten beklagt und beschrieben worden. Weitgehend einig ist man sich in der Auslegung, dass Jugendliche und junge Volljährige einen subjektiv begründeten Rechtsanspruch nachSGB VIII auch auf Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen haben, sofern gleichzeitig ein subjektiver Anspruch auf Hilfe zur Erziehung oder Hilfe für junge Volljährige besteht. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey sagt dazu, es können dafür (in der Jugendhilfe) auch außerbetriebliche Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt werden.
Jugendberufshilfe als Jugendhilfeleistung - ein Auslaufmodell?
Vor der Umgestaltung der Arbeitsämter in Agenturen für Arbeit und der Einführung von Harz IV konnten viele junge Menschen Ausbildungsmaßnahmen im Rahmen der Jugendhilfe in Anspruch nehmen. Die weitreichenden Sozial- und Arbeitsmarktreformen (Agenda 2010) sollten auch benachteiligte Jugendliche in der Ausbildung unterstützen, dabei zielführend, kostengünstig und formal überprüfbar sein, also marktwirtschaftlichen Wettbewerbsmaßstäben genügen. Damit einher ging die explizite Regelung der Vorrang-/Nachrangfrage, die zwar in vielen Fallkonstellationen SGB II und SGB III Vorrang einräumt, allerdings mitnichten die Zuständigkeit des öffentlichen Jugendhilfeträgers eliminiert. Leider haben viele Jugendämter die vermeintliche Zuständigkeit, insbesondere der Arbeitsverwaltung, in eine kategorische Ablehnung von Kosten für Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen umgesetzt.
Ebenso bedauerlich ist aber, dass sich viele freie Jugendhilfeträger dem Druck der Jugendämter gebeugt haben, und sozialpädagogisch begleitete Ausbildungs- und Beschäftigungsleistungen anstatt als SGB-VIII-Leistung zum Teil unter Wert als SGB III-Leistung anbieten. Dafür nötige Ausschreibungen sind oft nur über den Preis zu gewinnen. Marktwirtschaftliche Prinzipien können auch in der Sozialwirtschaft funktionieren, allerdings darf es nicht zu Dumpingpreisen kommen.
Es ist zu wünschen, dass die verbliebenen Einrichtungen für jugendhilfefinanzierte Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen weiterhin für ihre Klientel eintreten und fachlich gebotene Leistungen in der erforderlichen Qualität erbringen. Verbandspolitisch und als Lobby für die Klient(inn)en muss massiv dafür eingetreten werden, sozialpädagogisch begleitete Ausbildung wieder verstärkt als Jugendhilfeleistung zu gewähren.
Wem nutzt sozialpädagogisch begleitete berufliche Bildung?
Laut Shell-Jugendstudie 2019 nennen 89 Prozent der Jugendlichen "Eigenverantwortlichkeit" und 83 Prozent "Unabhängigkeit" als ihre wichtigsten Wertorientierungen. Um aber unabhängig werden zu können, müssen benachteiligte junge Menschen Einkommen weitgehend eigenverantwortlich erzielen, wenn sie nicht dauerhaft alimentiert werden wollen. Anamnestische Daten stationärer Jugendhilfeklientel zeigen deutlich, dass sie in den sogenannten Schlüsselqualifikationen für eine Ausbildung über signifikant geringere Ressourcen als die altersgleiche Bevölkerung verfügt, dagegen aber gravierende Defizite zu bewältigen hat.3
Es sind selten isolierte Verhaltensweisen in einem begrenzten Persönlichkeitsbereich, die besonderer Förderung bedürfen, vielmehr benötigen diese jungen Menschen Hilfen zur Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit. Nadine, 14 Jahre, emotional und physisch vernachlässigt, von zu Hause weggelaufen, viele Schulversäumnisse, Klassenwiederholungen trotz durchschnittlicher Intelligenz, depressive Verstimmungen, sozial unsicher, Episoden mit Selbstverletzungen, Heimunterbringung. Im heimeigenen Förderzentrum entdeckt sie, dass sie mehr kann, als ihre Schulkarriere zeigt. Nach verschiedenen Schnupperpraktika möchte Nadine Malerin und Lackiererin werden und beginnt in der heimeigenen Malerei eine sozialpädagogisch begleitete Berufsausbildung. Daneben besucht sie die heimeigene Förderberufsschule.
Nadine hat Glück, dass ihr Jugendamt die gesetzliche Leistungspflicht anerkennt. Seit 1. Januar 2020 bekommt sie sogar eine Mindestausbildungsvergütung von 515 Euro pro Monat. Freilich wird das Jugendamt spätestens in einem Jahr einen Eigenanteil von maximal 75 Prozent der Vergütung für die Heim- und Ausbildungskosten verlangen. So erfreulich das Einkommen für Nadine ist, so problematisch kann es für die ausbildende Jugendhilfeeinrichtung sein. Nämlich dann, wenn diese zusätzlichen Kosten, die nicht im vereinbarten Entgelt enthalten sind, vom Jugendamt nicht übernommen werden. Hier muss es dringend zu einer bundesweit einheitlichen Regelung kommen, um ausbildende Jugendhilfeeinrichtungen zu entlasten und eine Wettbewerbsverzerrung zwischen SGB-III- und SGB-VIII-finanzierten Maßnahmen zu vermeiden.
Das Besondere der beruflichen Förderung in der Jugendhilfe
Sozialpädagogisch begleitete Ausbildungen in Einrichtungen der Erziehungshilfe fördern junge Menschen, ausgehend von ihren individuellen Entwicklungsmöglichkeiten. Im Rahmen der Jugendhilfe ist das Besondere die inklusive Einheit von sozialpädagogischer und therapeutischer Betreuung, von Wohngruppen, Ausbildungswerkstätten und Berufsschule an einem Ort. Über rein ausbildnerische Kompetenzen hinaus stabilisieren professionell gestaltete Beziehungen vor allem in Krisen den Ausbildungsfortgang. So können im Zusammenwirken aller Beteiligten sukzessiv Fortschritte erzielt, Abbrüche vermieden und letztlich positive Ergebnisse erreicht werden. Für die Gesellschaft lohnt sich die Investition aufgrund der guten Quote an Ausbildungsabschlüssen, und Nadine wird sagen können: "Ich bringe Farbe ins Leben. Ich bin Malerin und Lackiererin."
Anmerkungen
1. Vgl. Deutsches Jugendinstitut: Kinder- und Jugendhilfereport. Eine kennzahlenbasierte Analyse. Leverkusen-Opladen, 2018.
2. Vgl. §§ 13 Abs. 2 und 27 Abs. 3 SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe.
3. Vgl. Institut für Kinder- und Jugendhilfe: EVAS-Datenbericht 2019, Mainz, 2020.
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