Der hybride Morgenkreis: oft nur ein frommer Wunsch
Ein Donnerstag Anfang Mai im Corona-Lockdown: Um 7.30 Uhr erreicht Marie Finger ihre Kita St. Hildegard. Die App zeigt ihr: Von den 70 Kindern sind heute fünf da. Eine Kollegin sitzt im Medienraum und arbeitet am wöchentlichen Newsletter für die Eltern: Tipps gegen Langeweile, Links zu zertifizierten Angeboten, etwas zum Basteln oder Backen, für die älteren Kinder Arbeitsblätter. Zwei Stunden später: Im Gruppenraum steuern zwei Erzieherinnen mit ihren Tablets den digitalen Morgenkreis. Auf einer Leinwand wuseln in 15 kleinen Kästchen Kinder herum. Das Ankommen dauert lang, die Kinder erzählen, was sie gestern Nachmittag erlebt haben. Es wird erst ruhiger, als die Musik im Hintergrund das Zeichen für die tägliche Kurzgeschichte gibt. Zum Abschluss gehen sie mit ihren Tablets in den Garten, die Kinder bestaunen die Blumen, die sie kurz vor dem Lockdown gepflanzt haben. Am Nachmittag werden sie im Park, in Büchern oder im Internet selbst nach Blumen suchen.
In Deutschland Glückssache
Der hybride Morgenkreis, Leiterinnenrunden als Zoom-Meeting, Videotelefonate mit den Kindern in Quarantäne - bis heute vielerorts ein frommer Wunsch. Denn gute Rahmenbedingungen für die digitale technische Infrastruktur in Kindertageseinrichtungen sind in Deutschland Glückssache. Vom flächendeckenden Zugang zu einer Breitband-Internetverbindung über die Ausstattung mit digitalen Endgeräten bis hin zu geprüften Applikationen und digitalen Tools: Die Bildungsinstitutionen, angefangen beim Elementarbereich, hängen strukturell hinterher. Die Lebenswelt der Kinder ist längst hybrid, eine Trennung der analogen von einer digitalen Wirklichkeit künstlich. Und noch immer wird diskutiert, ob Kinder mit digitalen Medien in Berührung kommen sollten. Angesichts der Situation vieler Kinder in den vergangenen Monaten eine absurde Frage.
Eine verpasste Chance
Im Frühjahr 2020, als im allgemeinen Lockdown Kitas und Schulen geschlossen wurden, gab es keine Routine im Umgang mit digitaler Kommunikation und Infrastruktur, wenig Erfahrungen, Beispiele oder Handlungsempfehlungen. An den Studien der vergangenen Monate lassen sich die Versäumnisse der letzten zwei Jahrzehnte ablesen: Schon im ersten Corona-Kita-Bericht im Mai 2020 wird die Digitalisierung als "verpasste Chance" bezeichnet: "Obwohl in nahezu allen befragten Haushalten digitale Technik und zahlreiche Kommunikationskanäle zur Verfügung standen, wurden diese Kontaktmöglichkeiten nach Einschätzung der Eltern nur in geringem Umfang von den pädagogischen Fachkräften genutzt."1 Keine andere Bevölkerungsgruppe war stärker vom Kontakt zu Freundinnen und Freunden abgeschnitten. 30 Prozent der Kita-Kinder erlebte im Lockdown nach Einschätzung der Eltern "Gefühle der Einsamkeit". Das Urteil der Autorinnen der Studie "Kindsein in Zeiten von Corona"2 : Die Kindertageseinrichtungen trugen während dieser Ausnahmesituation nur wenig zu einer Milderung bei.
Doch das ist nicht den Fachkräften anzulasten. Es weist vielmehr auf die Versäumnisse bei der Verbesserung struktureller Rahmenbedingungen in Kitas hin: zu geringe Leitungsressourcen, keine überzeugenden Antworten auf den wachsenden Fachkräftebedarf und unzureichende Betreuungsschlüssel bei ständig steigenden inhaltlichen Anforderungen. Hinzu kommt nun die mangelnde digitale Ausstattung, ob bei Zugängen und Endgeräten, Fortbildungen und Plattformen, Datenschutzbestimmungen oder Gütekriterien - jedes Versäumnis der letzten Jahre hat jetzt Auswirkungen auf die Bildungschancen aller Kinder, auf eine differenzierte Förderung, auf gute Beratung der Eltern.
Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen und der mangelnden digitalen Ausstattung haben Fachkräfte, Leitungen und Träger überall in Deutschland Kreativität und Engagement dabei bewiesen, den neuen Alltag zu bewältigen und dabei den Kindern und ihren Familien nah zu sein.
Es herrscht kaum Klarheit zum Datenschutz
In Bochum startete eine Kita die "Hallo Kids"-Aktion: "Regelmäßig schicken wir den Mädchen und Jungen eine E-Mail mit Ideen, wie sie die freie Zeit gestalten können: eine Malvorlage, ein leckeres Rezept, eine Anleitung für selbst gemachte Seifenblasen oder Kreide. Das sind alles Anregungen, die für Kinder leicht umzusetzen sind", so eine Mitarbeiterin. Die Kinder schickten Fotos aus ihrem "Homeoffice" zurück. Und auch der Träger schickte Newsletter mit Tipps und Anregungen: an seine Fachkräfte.
Aus einer integrativen Kita in Hofheim am Taunus wird berichtet: "Die Krippengruppe entschied sich gegen ein Video, da dies für die Kleinen eine Überforderung darstellen würde. Sie schrieben jedem Kind einen persönlichen Brief und legten ihm ein Bild mit allen Krippenerzieherinnen bei, damit sie den Kindern während der langen Phase der Abwesenheit präsent sind. Es folgten weitere Aktionen: ein kleiner Gruß per Post, ein persönlicher Brief, ein kleines Bastelset, Fotos, ein Geburtstagslied, Arbeitsmaterial für die Vorschulkinder, Gartenzaun-Besuche bei einigen Krippenkindern sowie Anrufe bei Familien, die in dieser Zeit besonders belastet erschienen."
Klimafreundlich, intensiv und Corona-unabhängig
"Es geht auch digital - und ziemlich gut sogar!": Ein Trägervertreter aus Nordrhein-Westfalen mit 51 Einrichtungen schaut auf interne Audits per Videokonferenz und Personalplanungsgespräche mit Regionalleitungen, Personalsachbearbeiterinnen und Kita-Leitungen. Sein Resümee: klimafreundlich, intensiv und auch coronaunabhängig sinnvoll. 3
In vielen weiteren Zuschriften, Interviews und Videos wird klar: Fachkräfte, Leitungen und Träger bringen eine unglaubliche Energie auf: Sie entwickeln neue Konzepte der Beteiligung, planen die Eingewöhnung, versenden Schulungsvideos, gestalten Zeitschriften für die Kinder zu Hause und passen die Dokumentation auf die Distanz an. Die Liste ließe sich fortführen.
Doch auch im November 2020 ist der digitale Austausch mit den Eltern nicht überall eingespielt, es gibt zu wenige Tablets in den Gruppen. Es herrscht kaum Klarheit zum Datenschutz. Ob die bereitgestellten Mittel aus dem 5. Kita-Investitionsprogramm4 für den Ausbau der digitalen Infrastruktur verwendet werden, bleibt abzuwarten. Die Ausführungsbestimmungen zu den Ausstattungsinvestitionen obliegen den Ländern.
Ein Digitalpakt Kita ist nötig
Es wird höchste Zeit für einen "Digitalpakt Kita". Was in der Präambel zum Digitalpakt Schule steht, gilt auch für die Kindertagesbetreuung: "Die fortschreitende Digitalisierung aller Lebensbereiche stellt eine zentrale strukturelle Herausforderung für die Bildung junger Menschen am Bildungsstandort Deutschland dar. Es ist eine der großen Zukunftsaufgaben, die Schülerinnen und Schüler an den Schulen in Deutschland umfassend auf die Digitalisierung in allen Lebensbereichen vorzubereiten."5 Auch der Anspruch sollte deshalb der gleiche sein: "Bund und Länder wollen die notwendigen Voraussetzungen dafür schaffen, dass das Bildungssystem in Zeiten des digitalen Wandels Teilhabe und Mündigkeit für alle Heranwachsenden sowie Chancengerechtigkeit für jedes einzelne Kind ermöglicht."6 Gerade jetzt, in Krisenzeiten, muss Teilhabe auch digital ermöglicht werden. Denn bestmögliche Bildungs- und Entwicklungschancen für jedes Kind sind kein Luxus für bessere Zeiten, sie dürfen nicht dem Zufall überlassen bleiben.
Immer wieder werden Kitas trotz strenger Hygieneregeln vorübergehend geschlossen, einzelne Fachkräfte und Kinder werden in Quarantäne sein, Kinder aus Risikogruppen noch lange auf Distanz bleiben müssen. Ein erneuter Lockdown bleibt möglich. Damit Erzieherinnen und Erzieher in den nächsten Monaten und darüber hinaus ihren Auftrag erfüllen können, damit kein Kind vom Kontakt zu Bezugspersonen und Freundinnen abgeschnitten wird und damit die Versäumnisse im Bereich der digitalen Bildung aufgeholt werden können, müssen jetzt die Mittel und Strukturen bereitgestellt und langfristig gesichert werden. Sonst bleibt ein Tag wie in St. Hildegard Utopie - auch im nächsten Lockdown.
Anmerkungen
1. https://corona-kita-studie.de/results.html
2.www.dji.de/fileadmin/user_upload/dasdji/themen/Familie/DJI_Kindsein_Corona_Erste_Ergebnisse.pdf
3. Diese und viele weitere Beispiele finden Sie auf der CoronaPlattform des KTK-Bundesverbandes: www.ktk-bundesverband.de
4. www.gesetze-im-internet.de/kitafinhg/BJNR240700008.html#BJNR240700008BJNG000500125
5. www.bmbf.de/files/VV_DigitalPaktSchule_Web.pdf
6. Ebd.
Junge Menschen zeitgemäß erreichen, begleiten und fördern
Fit für die digitale Arbeitswelt
Gesund groß werden im digitalen Zeitalter
Datensicher konferieren und von zu Hause arbeiten
Mehr Engagement vom Sofa aus
Bundesminister Gerd Müller im Interview
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