Es ist eine Frage des Wollens
Die Brandkatastrophe von Moria Anfang September dieses Jahres hat deutlich gemacht, dass es ein "Weiter-so" in der europäischen Flüchtlingspolitik nicht geben darf. Das Aufnahmelager Moria auf der griechischen Insel Lesbos war bereits seit Jahren Sinnbild des Scheiterns der bisherigen europäischen Bemühungen, Migration und Flucht an den EU-Außengrenzen zu steuern. Es handelte sich gleichsam um eine Katastrophe mit Ansage, denn die maßlose Überbelegung, die verheerenden hygienischen Bedingungen und die menschenunwürdige Unterbringung von Tausenden von Migrant(inn)en bildeten seit langem ein explosives Gemisch. Dieses war durch die zusätzlich eingrenzenden Maßnahmen, die durch die Corona-Pandemie bedingt wurden, noch entzündlicher geworden.
Ein zweites Moria darf es nicht geben, wohl wissend, dass einige weitere Hotspots an den Außengrenzen der Europäischen Union existieren, deren Situation vergleichbar ist; auch wenn Moria darunter das größte Lager war. Dennoch soll mit Hilfe der Europäischen Union nun ein neues europäisches Zentrum auf Lesbos entstehen, das in Kooperation mit den griechischen Behörden geführt werden soll. Die seit Jahren grassierende Idee der kontrollierten Zentren an den Außengrenzen der EU soll hier nun offensichtlich in einem Pilotprojekt verwirklicht werden.
Offen bleibt, wie an den EU-Außengrenzen Rechtsschutz gewährt werden soll
Wie kann das sein, wo sich doch durch Moria ein historisches Momentum eröffnet hat, das die Chance bietet, die seit langem bestehenden Praktiken an den Außengrenzen der EU einer Revision zu unterziehen? Wieso wird das rechtsverletzende und das den europäischen Wertekanon eklatant missachtende bisherige Vorgehen gegenüber Migrant(inn)en und Flüchtlingen an den Außengrenzen der EU nun nicht grundlegend verändert? Und weshalb nutzt Deutschland als amtierende EU-Ratspräsidentschaft dieses Window of Opportunity nicht, um den Ansatz der Asylund Migrationszentren an den Außengrenzen der EU innerhalb der Mitgliedstaaten von Grund auf neu zu überdenken, sondern unterstützt sogar die Errichtung eines neuen Zentrums auf Lesbos?
Der Pakt ähnelt einem mehrstöckigen Haus
Die Antwort liegt in dem von der EUKommission erarbeiteten Migrations- und Asylpakt, der die künftige Richtung der europäischen Asyl- und Migrationspolitik aufzeigen soll und der maßgeblich auch von Deutschland beeinflusst wurde (S. dazu auch den Kommentar auf S. 5). Der zuständige EU-Kommissar Schinas beschreibt den Pakt ähnlich wie ein "Haus". Der Begriff des Hauses suggeriert zunächst, dass es sich vielleicht um eine Zufluchtsstätte handeln könnte, die Schutz und Geborgenheit vermittelt, Einlass gewährt und davon geprägt ist, willkommen zu sein. Doch gemeint ist damit lediglich, dass es verschiedene Stockwerke gibt, die eine neue Architektur der Migrationssteuerung in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik manifestieren sollen. Der Schwerpunkt des Paktes liegt auf der Verhinderung illegaler Migration, auf verstärkten Rückführungen an den Außengrenzen und auf der Unterbindung der Weiterwanderung innerhalb der Europäischen Union.
Das erste Stockwerk betrifft die externe Dimension der Asyl- und Migrationspolitik, also die Zusammenarbeit mit den Herkunftsund Transitstaaten. Es soll gewissermaßen das Fundament bilden. Es ist daher zu erwarten, dass bisherige Vereinbarungen mit Drittstaaten als Blaupause dienen werden. Insbesondere die EU-Türkei-Erklärung, die Aufnahmen in die Europäische Union und Rückführungen aus Griechenland regeln sollte, könnte als Grundlage für weitere Vereinbarungen mit Drittstaaten dienen. Dies ist nicht nur deshalb besorgniserregend, weil dadurch möglicherweise weitere Abhängigkeiten zu zweifelhaften Regimen geknüpft werden könnten, sondern auch, weil gerade dieser Ansatz dazu geführt hat, dass auf den griechischen Inseln in der Vergangenheit katastrophale Zustände für Migrant(inn)en und Flüchtlinge entstanden sind.
Vorteile für Drittstaaten
Insgesamt sind auf dieser Etage sämtliche Maßnahmen zum Umgang mit irregulärer Migration zu finden. Sei es die Bekämpfung des Schlepperwesens oder Vereinbarungen zur Rücknahme von Migrant(inn)en im Gegenzug zu Visaerleichterungen. Auch Maßnahmen zur Fluchtursachenbekämpfung sowie die Verknüpfung von Leistungen in der Entwicklungshilfe mit Maßnahmen der Migrationskontrolle finden hier Eingang. Allesamt Themen, bei denen Flucht und Migration mit anderen Politikbereichen verzahnt werden sollen und Drittstaaten Vorteile erhalten, wenn sie im Sinne der EU handeln.
Das zweite Stockwerk baut auf dem ersten auf und regelt alle Maßnahmen, die das Grenzmanagement der EU-Außengrenze umfassen. Hier geht es primär um die Sicherung der Außengrenze, aber auch um den Ausbau der europäischen Grenz- und Küstenwache. Dies sowohl im Hinblick auf ihre Kompetenzen, als auch im Hinblick auf ihre operativen Möglichkeiten, insbesondere der personellen und technischen Ausstattung. Denn sie soll nach Auffassung der EU-Kommission künftig eine bedeutendere Rolle im Rahmen von Rückführungen und bei der Durchsetzung von beschleunigten Abschiebungen an den Außengrenzen spielen.
Dahinter verbirgt sich die Absicht, einer Verfestigung des Aufenthaltes von Migrant(inn)en innerhalb der EU von vornherein entgegenzuwirken
Grundlegender Dissens in der Frage der Verteilung
Offen bleibt, wie in den von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen beschleunigten Grenzverfahren an den EU-Außengrenzen effektiver Rechtsschutz gewährt und anwaltliche Vertretung tatsächlich sichergestellt werden soll. An der Grenze sollen künftig Flüchtlinge mit offensichtlichem Schutzbedürfnis von anderen Migrant(inn)en unterschieden, also aussichtsreiche von weniger aussichtsreichen Schutzanträgen getrennt werden. Konkret bedeutet dies, dass Personen aus Herkunftsstaaten, bei denen europaweit nur eine Schutzquote von unter 20 Prozent angenommen wird, automatisch in das beschleunigte Grenzverfahren geführt werden. Eigentlich wären auch bei Schutzanträgen dieser Menschen inhaltliche Prüfungen notwendig, die zeitaufwendig sind und entsprechende Rechtsschutzmöglichkeiten erfordern. Stattdessen sollen sie, genauso wie Personen aus sicheren Drittstaaten oder sicheren Herkunftsstaaten schnell abgelehnt werden können, um dann direkt von der Grenze wieder in ihr Herkunftsland oder in ein Transitland zurückgeführt zu werden.
Eine digitale Verfahrensakte wäre hilfreich
Zwar sollen besonders schutzbedürftige Personen von den beschleunigten Verfahren ausgenommen werden, eine Entlastung der Staaten an den Außengrenzen kann so aber nicht erzielt werden, denn erstens würde bei der Mehrzahl der Verfahren die Verantwortung bei den Ersteinreisestaaten verbleiben und zweitens können nach wie vor rechtliche oder tatsächliche Gründe gegen eine sofortige Rückführung abgelehnter Asylantragsteller(innen) sprechen. Damit würde das Gespenst von Moria erneut über allem schweben: Zur Verhinderung der Überfüllung der Aufnahmezentren müssten die Verfahren so beschleunigt werden, dass die Verfahren rechtsstaatlichen Voraussetzungen aller Voraussicht nach nicht mehr genügen könnten. Um eine Weiterwanderung der Migrant(inn)en zu verhindern, wären die Inhaftierung der Menschen und die Errichtung von Haftzentren absehbar.
Erstaufnahmezentren in der Europäischen Union, können jedoch, wenn überhaupt, nur mit einer äußerst kurzen, befristeten Aufenthaltsdauer und einer anschließenden Verteilung in andere Mitgliedstaaten betrieben werden. Eine digitale Verfahrensakte, die eine Fortführung und den Abschluss der Asylverfahren in allen EU-Mitgliedstaaten erlaubt, könnte dabei hilfreich sein. Eine gestärkte EU-Asylagentur müsste dann allerdings die Kompetenz erhalten, die Zuständigkeit den einzelnen Mitgliedstaaten zuzuordnen. Von dem Kriterium der Zuständigkeit des Ersteinreisestaates müsste endgültig Abstand genommen werden.
Das Herzstück der künftigen Asyl- und Migrationspolitik soll nach den Vorschlägen der EU-Kommission allerdings das dritte Stockwerk bilden, das quasi auf den ersten beiden Stockwerken aufsetzt. Auf dieser Etage ist ein System dauerhafter effektiver Solidarität angedacht, wenngleich unter den Mitgliedstaaten in dieser Frage die Auffassungen noch am weitesten divergieren. Die EU-Kommission verbindet mit dieser Konstruktion die Hoffnung, dass wenn erst einmal nicht mehr so viel Migrant(inn)en in die Europäische Union eingelassen werden, sich auch Staaten an der Verteilung und Aufnahme beteiligen könnten, die das bislang noch ablehnen.
Einen Mechanismus verbindlicher Solidarität installieren
Doch der grundlegende Dissens unter den Mitgliedstaaten liegt gerade in der Frage der Verteilung und dem damit einhergehenden Solidaritätsgedanken. Die EU-Kommission will nun einen Mechanismus verbindlicher Solidarität in einer mehrstufigen Konstruktion installieren. Grundlage bleibt zwar weiterhin die Zuständigkeit des Ersteinreisestaates für die Durchführung der Verfahren. Für den Fall, dass ein Mitgliedstaat unter besonderen Druck gerät oder Anlandungen nach Seenotrettungsmaßnahmen ausgesetzt sind, soll dieser Solidaritätsmechanismus jedoch verpflichtend sein. Dies bedeutet allerdings nicht, dass alle Mitgliedstaaten Flüchtlinge aufnehmen müssten, vielmehr soll diese Art der Solidarität flexibel sein. Es soll daher möglich sein, auch andere Beiträge zur Solidarität zu leisten. Insbesondere soll ein sogenanntes Rückkehr-Sponsorship eingerichtet werden, das es Staaten erlaubt, sich verstärkt an den Rückführungen anderer Staaten zu beteiligen, anstatt selbst Flüchtlinge aufzunehmen. In Zeiten starker Zuströme von Migrant(inn)en und Flüchtlingen soll die ausschließliche Wahl zwischen Aufnahmen im Rahmen von Umverteilungsmaßnahmen und Rückkehr-Sponsorships verpflichtend werden.
Die EU-Grundrechte-Charta gewährt allerdings ein Recht auf Asyl und die Genfer Flüchtlingskonvention, die alle EU-Staaten ratifiziert haben, gewährt Flüchtlingsschutz. Dies bedeutet, dass eigentlich alle EU-Staaten diesen rechtlichen Erfordernissen auch nachkommen müssten. Gar keine Aufnahme von Flüchtlingen, wie es einige Länder seit einigen Jahren praktizieren, kann daher nicht dauerhaft hingenommen werden. Andernfalls würde der Bruch mit internationalem Recht und den grundlegenden Werten der EU nicht nur gebilligt, sondern auch auf Dauer zementiert. Pikantes Detail in diesem Zusammenhang: Einige unwillige Mitgliedstaaten haben bereits umgehend gegenüber der EU-Kommission klargemacht, dass sie neben der Aufnahme auch Rückkehr-Sponsorships ablehnen.
In dem vorliegenden Pakt wird der Blick auch auf legale Einreisewege gelegt. Dies ist grundsätzlich zu begrüßen. Bislang wird seitens der Kommission jedoch lediglich eine Ausweitung der bisherigen Resettlement-Zusagen der Mitgliedstaaten auf das Jahr 2021 angeregt. Das, obwohl Resettlement, also die Neuansiedlung von Flüchtlingen in der Europäischen Union, dazu beitragen könnte, dass auch Mitgliedstaaten, die bislang keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, im Rahmen von steuerbaren Kontingenten möglicherweise doch eine Bereitschaft dazu entwickeln könnten. In diesem Zusammenhang könnte gegebenenfalls auch eine Verknüpfung mit dem Solidaritätsgedanken hergestellt werden. Zu denken wäre darüber hinaus auch an regelhafte europäische humanitäre Aufnahmeprogramme, im Rahmen derer mittels eines echten europäischen humanitären Visums zusätzlich Menschen kontingentiert aufgenommen werden könnten.
Die willigen Staaten sollen vorangehen
All das zeigt, dass es in den einzelnen Etagen des Hauses der durch die EU-Kommission vorgeschlagenen politischen Neuausrichtung im Bereich Asyl- und Migration viele Zimmer gibt, die noch einzurichten wären. Erst dann kann sich aus dem Vorschlag der EU-Kommission möglicherweise ein Haus der Zuflucht und des Schutzes entwickeln.
Letztlich ist es eine Frage des Wollens. Entscheidend ist der politische Wille aller EU-Mitgliedstaaten. Es liegt damit in der Hand des europäischen Gesetzgebers, ob die Abwehr der Menschen der einzige gemeinsame Nenner bleiben und damit weiterhin im Zentrum aller Bemühungen stehen soll, oder ob die Achtung der Menschenwürde und die damit verbundene humanitäre Ausrichtung wieder der Primat der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik werden soll.
Solange keine europäische Lösung in Sicht ist, sollten in jedem Falle die willigen Staaten vorangehen, die Möglichkeiten kontrollierter gemeinsamer Aufnahmen ausbauen und sich für den Erhalt menschenwürdiger europäischer Standards einsetzen.
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