Besser zusammenleben durch Quartiersarbeit
Soziale Kontakte und Einkaufsmöglichkeiten, öffentlicher Nahverkehr, Grünflächen und ärztliche Versorgung - die alltägliche Lebensqualität wird stark vom Wohnumfeld bestimmt. Ob dieses Wohnumfeld vernachlässigt und abgehängt oder ein Ort lebendigen Miteinanders ist - das hängt nicht vom Zufall ab, sondern ist ein komplexer Prozess, an dem Bürger(innen) beteiligt, städtische Politikfelder koordiniert und verwaltungsexterne Akteure mitwirken müssen. Soziale Arbeit kann einen entscheidenden Beitrag für eine gelingende Quartiersentwicklung in Stadtteilen oder Dörfern leisten, vor allem aber sind Staat und Gesellschaft gefragt, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen.1
Im Zusammenhang mit der politischen und verfassungsrechtlichen Debatte um gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland (Art. 72 Abs. 2 Grundgesetz) und der Beauftragung einer gleichnamigen Kommission durch die aktuelle Bundesregierung erhalten quartiersbezogene Arbeitsansätze neue Relevanz.2
Der Begriff Quartiersarbeit findet sich in der öffentlichen Debatte häufig, der Fachbegriff lautet Gemeinwesenarbeit. Es handelt sich dabei um ein Arbeitsfeld der sozialen Arbeit - wie auch zum Beispiel die Hilfen zur Erziehung, die stationäre Pflege oder die Kindertagesbetreuung. Im Unterschied zu diesen Arbeitsfeldern umfasst die Quartiersarbeit nicht Hilfe oder Unterstützung für einzelne Personen oder bestimmte Zielgruppen, sondern bezieht sich auf ein bestimmtes Gebiet und die Lebensverhältnisse aller dort lebenden Menschen. Ziel und Aufgabe der Quartiersarbeit ist es, materielle, infrastrukturelle und immaterielle Bedingungen im Stadtteil oder Dorf zu gestalten. Verbessert werden sollen beispielsweise die Wohnverhältnisse, die Verkehrsanbindung oder die Qualität sozialer Beziehungen - und zwar unter Beteiligung der Betroffenen. Zur Quartiersarbeit gehört es in der Regel, Räume für Begegnung zu schaffen, für Beratung und kulturelle Angebote, ebenso zählen die Koordination des freiwilligen Engagements und die Öffentlichkeitsarbeit dazu. Das konkrete Profil der Quartiersarbeit hängt von der Zusammensetzung der Bewohnerschaft ab, von ihren Anliegen, Problemen und Interessen. "Quartiersarbeiter(innen) sind immer auf der Suche nach brennenden Themen."3
Gemeinwesenarbeit ist politisch
Von ihrer Geschichte her ist die Gemeinwesenarbeit eine politische Arbeit: Es geht um Gesellschaftsveränderung, um Beteiligung und Organisation von artikulationsschwachen Personengruppen, entsprechend findet sie vor allem in benachteiligten Wohngebieten statt. Der Begriff "Quartiersarbeit" scheint diesen emanzipatorisch-parteiischen Anspruch ein Stück weit zu "neutralisieren". Tatsache aber ist, dass nicht nur in der sozialen Arbeit, sondern auch in anderen Politikfeldern heute die Notwendigkeit raumbezogener Handlungsansätze und Partizipation unbestritten sind.4 Träger der Quartiersarbeit sind vor allem Kommunen, Stadtteilvereine, Bürgervereine, die Wohlfahrtsverbände und zunehmend auch die Wohnungswirtschaft.5
Caritas im Quartier
Nach Abschluss der beiden Caritas-Bundesprojekte "Gemeinsam aktiv im Sozialraum" sowie "Kirche findet Stadt"6 lenkte die Online-Erhebung "Caritas im Quartier" den Blick auf die raumbezogene Arbeit der Caritas. Erhebungsgegenstand waren - neben der Quartiersarbeit - sozialräumliche Ansätze in anderen Handlungsfeldern der sozialen Arbeit sowie die Aktivitäten der Verbände im Kontext des Bund-Länder-Programms Soziale Stadt, das Programm Mehrgenerationenhaus, Caritaszentren und die Nutzung digitaler Tools in der Quartiersarbeit.7
327 Vorstände der Orts-Caritasverbände wurden um ihre Unterstützung gebeten. Die Rücklaufquote von knapp 36 Prozent ist gut; repräsentativ für den Gesamtverband sind die Daten nicht. Sie ermöglichen aber einige Trendaussagen und Ansatzpunkte für die weitere (fach-)politische Arbeit.
Etwas mehr als die Hälfte der Verbände, die sich an der Erhebung beteiligt haben, sind Träger der Quartiersarbeit. Drei Viertel von ihnen erhalten für diese Arbeit keine Regelförderung, und fast alle setzen Eigenmittel ein. Die Kirchengemeinden sind mit 92 Prozent die wichtigsten Kooperationspartner für die Quartiersarbeit. Darauf folgen andere Verbände, Wohnungsbaugesellschaften, Bürgervereine, Kommunen und Unternehmen.
Eine Rahmenvereinbarung mit ihrer Kommune über die Inhalte und Ziele der Quartiersarbeit haben nur knapp die Hälfte der Träger (48 Prozent). Diese Tatsache verdient genauere Betrachtung. Denn die Handlungsfelder, der Wirksamkeitsnachweis und (unangemessene) Erwartungen an die Quartiersarbeit führen in vielen Kommunen zu Konflikten und sind entscheidend für Vergabe und Finanzierung. Wichtiges Lobbythema vor Ort und auf Länderebene bleibt daher eine verstetigte Finanzierung der Arbeit.
Die Online-Erhebung erbrachte auch Erkenntnisse über die Beteiligung am Programm "Soziale Stadt" und die damit verbundenen Programme der Städtebauförderung8, die inhaltlich gut anschlussfähig sind an die Caritas-Arbeit. Antragsteller mit Steuerungsverantwortung sind in allen diesen Programmen die Kommunen - Verbände sind hier also auf ein intensives Zusammenwirken angewiesen. Die Online-Erhebung zeichnet hier ein eindeutiges Bild: In der Stichprobe sind nur zwölf Prozent der Verbände Träger des Quartiersmanagements im Rahmen der "Sozialen Stadt"; bei anderen Programmen aus diesem Förderbereich sieht es ähnlich aus, wobei "Justiq" (Unterstützung Jugendlicher am Übergang zwischen Schule und Beruf) mit 50 Prozent am häufigsten genannt wird.
Quartiersarbeit auf dem Weg zur "Smart City"
Tatsächlich spricht vieles dafür, dass die begrifflich etwas in die Jahre gekommene Gemeinwesenarbeit als Quartiersarbeit eine Renaissance erlebt. Der demografische Wandel, das Gefälle zwischen Stadt und Land, die soziale Segregation innerhalb der Städte stellen Politik und Gesellschaft vor die Herausforderung, für alle Menschen in Deutschland einen gleichwertigen Zugang zu Bildung, Einkommen und Arbeit, sozialer und gesundheitlicher Versorgung, Infrastruktur und Wohnraum zu sichern. Auch das Zukunftsbild der "Smart City" verfolgt Ziele von Nachhaltigkeit, gesellschaftlichem Zusammenhalt, Orientierung an Bewohnerinteressen und setzt auf intersektorale Kooperation und das Ineinandergreifen von Systemen.9
Die Quartiersarbeit bildet ein wichtiges Scharnier zwischen der Bewohnerschaft, ihren Interessen und Anliegen und der öffentlichen Verwaltung und Politik. Insofern ist sie ein unverzichtbarer Baustein integrierter Stadtentwicklungspolitik. Quartiersarbeit muss nah am Menschen sein - die lokalen Caritasverbände mit ihren zahlreichen sozialen und gesundheitlichen Diensten und Einrichtungen sind das. Ihr besonderes Potenzial liegt in der intermediären Solidaritätsschöpfung: indem sie zunehmend Netzwerker und Plattformer werden, Räume und Gelegenheiten bieten, ihre spezifische Stellung und ihre Beziehungen zu Staat, Markt, Kirche und Zivilgesellschaft nutzen. Das Arbeitsfeld "Quartiersarbeit" zeigt, wie aktuell die (scheinbar) in die Jahre gekommene Solidaritätsstifterfunktion der Caritas ist - und wie sie mit zukunftsweisenden Inhalten gefüllt werden kann.
Anmerkungen
1. Unter dem Titel "Caritas im Quartier" hat der Deutsche Caritasverband, Fachbereich Sozialraumorientierung/Soziale Stadtentwicklung, im Jahr 2018 online Daten zur sozialräumlichen Arbeit der Caritas erhoben.
2. Die Kommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse" hat im September 2018 mit sechs Facharbeitsgruppen zu unterschiedlichen Schwerpunkten ihre Arbeit aufgenommen - darunter auch eine zu "Teilhabe und Zusammenhalt der Gesellschaft". Der Deutsche Caritasverband ist hier vertreten.
3. Fehren, O.: "Es ist ein Balanceakt". Interview in der Badischen Zeitung vom 4. November 2016. www.badische-zeitung.de/freiburg/bz-interview-es-ist-ein-balanceakt--129411987.html
4. Vgl. dazu auch: 7. Altenbericht der Bundesregierung von 2016 sowie das Präventionsgesetz, das erstmals die Lebenswelt als Setting für Strategien der Gesundheitsförderung anerkennt.
5. Siehe dazu folgenden Veranstaltungshinweis: 8. Caritas-Fachforum Sozialraumorientierung und soziale Stadtentwicklung. Quartiers-/Gemeinwesenarbeit als Schlüsselstrategie für den sozialen Zusammenhalt. 11. bis 12. Dezember 2019 in Frankfurt, Mainhaus Stadthotel Frankfurt (www.caritas.de/fachforum-sozialraum).
6. Zu diesen Projekten siehe: www.caritas.de/fuerprofis/fachthemen/caritas/sozialraumorientierung sowie www.kirche-findet-stadt.de
7. An dieser Stelle können nur einige Blitzlichter der Erhebungsergebnisse beleuchtet werden; eine Auswertung ist bei der Autorin erhältlich.
8. Seit dem Jahr 1999 unterstützt der Bund die Stabilisierung und Aufwertung städtebaulich, wirtschaftlich und sozial benachteiligter und strukturschwacher Stadt- und Ortsteile. Inzwischen gibt es weitere Programme mit spezifischen Schwerpunkten, die in den Programmgebieten der Sozialen Stadt durchgeführt werden können; in der Online-Erhebung abgefragt wurden: das ESF-Bundesprogramm Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier "Biwaq", www.biwaq.de; Jugend stärken im Quartier "Justiq", www.jugend-staerken.de sowie www.investitionspakt-integration.de
9. Siehe zur Smart City: www.thuega.de/digitalisierung-und-vernetzung/wir-sollten-uns-jetzt-auf-den-weg-machen
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Besser zusammenleben durch Quartiersarbeit
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