Angehörige und Pflegekräfte brauchen verlässliche Strukturen
Die Pflegeversicherung wurde 1995 eingeführt, um die Pflegebedürftigkeit -vor allem im Alter - abzusichern. Die Grundstruktur ist seitdem nicht mehr verändert worden. Eine Weiterentwicklung und eine gesellschaftliche Debatte sind dringend erforderlich, um sich darüber zu verständigen, wie die Pflegeversicherung das im Zuge des demografischen Wandels zunehmende Risiko der Pflegebedürftigkeit auffangen kann.
Einen wichtigen Beitrag liefert in diesem Kontext die von der Vollversammlung des Zentralkomitees der Katholiken (ZdK) am 23. November 2018 beschlossene Erklärung "Gerechte Pflege in einer sorgenden Gesellschaft"1. Im Folgenden werden die Aussagen der Erklärung zusammengefasst.
Sie nimmt konsequent die Perspektive der Pflegenden, Angehörigen und anderer in der Pflege tätigen Personen in den Blick und argumentiert aus deren Perspektive. Im ersten Schritt werden die aktuellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie die damit verbundenen Belastungen für die Pflegenden analysiert. Allen Pflegenden ist gemein, dass sie unter hohem Druck und mit großer Verantwortung die Pflege- und Sorgearbeit übernehmen, ohne dass die Gesellschaft dies adäquat unterstützt, anerkennt und wertschätzt.
Viele Pflegebedürftige verzichten auf professionelle Hilfe
Die Pflegeversicherung wurde eingeführt, um die Sorgeverantwortung gesellschaftlich aufzufangen und vor allem Töchter und Schwiegertöchter zu entlasten, die die Hauptlast der informellen Pflegeverantwortung getragen haben und immer noch tragen. Es sollten praktikable Alternativen zur familiären Pflege entwickelt und die zu Pflegenden sowie deren Angehörige vor Armut und Überforderung geschützt werden. Familien werden finanziell und auch infrastrukturell bei der Pflege von Angehörigen unterstützt. Die damals eingeführten Grundsätze sind bis heute handlungsleitend und bestimmen auch die Ausgestaltung des Leistungsrechts. So gilt nach wie vor die Prämisse "ambulant vor stationär". Viele Familien übernehmen die Pflegeverantwortung ohne zusätzliche Unterstützung und werden davon überfordert oder zerbrechen gar an dieser Aufgabe. Fast die Hälfte aller Pflegebedürftigen, die Ende 2015 Leistungen der Pflegeversicherung erhielten, hat überhaupt keine professionelle Unterstützung in Anspruch genommen.
Durch den in der Regel zunehmenden Pflegebedarf geraten viele pflegende Angehörige in soziale Isolation, da kaum noch Zeit und Kraft bleibt, eigene Interessen zu verfolgen. Viele reduzieren ihre Arbeitszeit oder geben die Arbeit ganz auf. Damit erhöht sich das eigene Armutsrisiko und die Ansprüche in der Rentenversicherung verringern sich. Das Pflegegeld kann diese Einbußen nicht auffangen.
Teilstationäre Unterstützungsangebote sowie alternative Wohn- und Pflegesettings stehen nicht flächendeckend in ausreichendem Maße zur Verfügung. Häufig ist der Wechsel in eine stationäre Pflege die einzige Möglichkeit, wenn die informell Pflegenden auf Unterstützung angewiesen sind.
Die stationäre Pflege bietet den Betroffenen in der Regel eine gute Versorgung. Allerdings entspricht sie nicht dem Wunsch der meisten Menschen. Durch den zu leistenden Eigenbeitrag der Pflegebedürftigen in der stationären Altenhilfe stehen die Träger der stationären Altenhilfe unter hohem Druck, die Kosten zu senken. Vor diesem Hintergrund befinden sich die stationären Pflegeeinrichtungen auf einem mehr oder weniger freien Markt, dessen Mechanismen sie auch unterworfen sind. Auf der einen Seite wünschen sich die zu Pflegenden eine gute und verlässliche Pflege; gleichzeitig sind die Eigenanteile, die für die Pflege, die Unterkunft, die Verpflegung und die Investitionskosten zu tragen sind, nicht unerheblich und stellen viele Familien vor große Herausforderungen.
Für die Pflegekräfte, analysiert die Erklärung richtig, führt dies in stationären Einrichtungen zu einer enormen Verdichtung der Aufgaben, so dass kaum Zeit für ein Gespräch bleibt, sondern die Aufgaben im Laufschritt erledigt werden müssen.
Wer es sich leisten kann, entscheidet sich für eine Haushaltshilfe
Deshalb entscheiden sich zahlreiche Pflegebedürftige und ihre Angehörigen aus den mittleren und oberen Einkommensschichten für "Live-in Care". Haushaltshilfen aus Mittel- und Osteuropa werden eingestellt, die im Haushalt des Pflegebedürftigen wohnen und häufig auch Pflegeaufgaben übernehmen. Die Zahl wird auf 100.000 bis 600.000 Haushalte geschätzt. Die meisten Haushaltshilfen haben kein legales Anstellungsverhältnis und treffen in aller Regel auch nicht auf angemessene arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen. Häufig wird von den Haushaltshilfen eine 24-Stunden-Präsenz erwartet, die an sieben Tage in der Woche vorgehalten werden soll.
Die Erklärung des ZdK kommt vor diesem Hintergrund zu dem Schluss, dass wir eine sorgende Gesellschaft brauchen, die die Familien und die Pflegekräfte nicht alleinlässt. Nötig ist, verlässliche Strukturen zu schaffen, die qualitativ hochwertige soziale Dienstleistungen vorhalten, die allen zur Verfügung stehen, die Vereinbarkeit unterstützen und eine flächendeckende, gute, wohnortnahe Versorgung sicherstellen. Eine sorgende Gesellschaft bindet zu Pflegende und Pflegende in lokale Netzwerke ein, die entsprechende Unterstützungsangebote bereithalten. Die Erklärung fordert vor diesem Hintergrund, dass:
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die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte durch einen einheitlichen Tarifvertrag verbunden mit einer höheren Personalausstattung durch eine passende Personalbemessung verbessert werden;
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pflegende Angehörige finanziell besser entlastet werden, indem sie bei Reduktion oder Unterbrechung der Erwerbsarbeit einen entsprechenden Einkommensersatz erhalten;
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Pflegearbeit wie Kindererziehungszeiten auch auf die Rente angerechnet wird und bei Bezug von Rente diese durch Pflegearbeit erhöht werden kann;
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Entlastungsangebote für pflegende Angehörige
wie Tages- oder Kurzzeitpflege, Beratung, Kur
oder Ähnliches flächendeckend zur Verfügung
stehen; -
lokale Netzwerke gestärkt und durch ehrenamtlich engagierte Pflegende in ihrer Sorgeverantwortung unterstützt werden;
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Pflegegeld nicht mehr gekürzt wird, wenn Pflegesachleistungen in Anspruch genommen werden;
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haushaltsbezogene Dienstleistungen steuerlich besser gestellt werden, um die Schwarzarbeit zu überwinden und stattdessen qualifizierte und fair bezahlte Arbeitsbedingungen zu schaffen;
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für Pflegebedürftige, die Live-in-Care-Arrangements haben, vergleichbar wie in Österreich ein höheres Pflegegeld bezahlt wird, wenn entsprechende Qualitätsstandards eingehalten werden;
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ehrenamtliches Engagement durch gute Begleitung, Qualifizierung sowie die Erstattung der Auslagen weiter gefördert wird.
Die aktuelle Situation der Pflegenden, der Pflegebedürftigen und der zu erwartende steigende Bedarf an Pflege erfordern eine gesellschaftliche Diskussion darüber, wie wir pflegebedürftige Menschen unterstützen möchten, unter welchen Rahmenbedingungen Pflege erbracht wird und welchen Stellenwert Pflege - auch in der abhängigen Beschäftigung - in unserer Gesellschaft hat. Damit muss auch beantwortet werden, wie viel wir bereit sind, für die Pflege zu investieren und auszugeben. Parteien, Verbände und andere zivilgesellschaftliche Akteure sollten den gesellschaftlichen Diskurs zur Pflege führen, um die Pflegeversicherung zukunftsfest weiterzuentwickeln.
Anmerkung
1. Die gesamte Erklärung ist abrufbar unter: https://bit.ly/2yL08Lw
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