Trias Pflegebedürftigkeit, Personalumfang und Qualität: Schein und Sein Fehlverhalten am Arbeitsplatz aufdecken
Unter dem Titel "PiBaWü" förderte das Sozialministerium Baden-Württemberg von 2015 bis 2018 die Untersuchung des Zusammenhangs von Pflegebedürftigkeit (§ 14 SGB XI), Pflegequalitäts-Indikatoren und Personalausstattung.1 Diese drei drängendsten Themen der stationären Altenpflege werden in Deutschland in unterschiedlichen Projekten unabhängig voneinander entwickelt. Bisherige Studien zeigen sehr disparate Ergebnisse2 und machen deutlich, dass diese Themen nicht losgelöst voneinander entwickelt werden sollten. Daher fokussierte PiBaWü folgende Fragestellungen: (1) Auf welche Merkmale Pflegebedürftiger und der Organisation sind individuelle Pflegezeiten von Bewohner(inne)n zurückzuführen? Erhalten Bewohner mit hohen Pflegegraden (PG) mehr Pflege- und Betreuungszeit als Bewohner(innen) mit niedrigeren PG? (2) Sind die auf Pflegebedürftige bezogenen Qualitätsindikatoren geeignet, die Pflegequalität von Pflegeheimen zu unterscheiden? Und (3) von welchen institutionellen Faktoren ist Pflegequalität abhängig?3
Die Querschnittstudie PiBaWü nutzte die Daten einer Gelegenheitsstichprobe von 2420 Bewohner(inne)n in 58 Pflegeheimen beziehungsweise 85 Wohnbereichen in Baden-Württemberg aus dem Jahr 2017. Rund 600 Pflegeschüler(innen) erfassten die Pflege- und Betreuungszeiten über 48 Stunden. Daneben wurden Bewohnervariablen (zum Beispiel alle NBA-Kriterien4, Alter, Geschlecht, Diagnosen, freiheitsentziehende Maßnahmen, ungewollter Gewichtsverlust, Dekubitus, Stürze) und Organisationsvariablen (zum Beispiel Platzzahl, Größe, Lage, Träger, Konzept) durch Mitarbeitende der Einrichtungen erhoben. Ein umfassendes Schulungsprogramm und ein Informations- und Datenschutzkonzept stellten sicher, dass die Interessen der beteiligten Pflegebedürftigen gewahrt wurden. Zur Analyse der Abhängigkeit der Pflegezeit von unabhängigen Variablen wurden unterschiedliche Regressionsmodelle eingesetzt.
Ergebnisse der Studie
Die Zeitunterschiede lassen sich kaum durch die PG erklären: Nur 21 Prozent der Unterschiede der Pflegezeiten lassen sich auf die PG zurückführen. 79 Prozent dieser Unterschiede lassen sich also nicht mit den knapp 70 NBA-Kriterien erklären. So können zum Beispiel die Pflegezeiten innerhalb des PG 2 von etwas über null Minuten bis annähernd 400 Minuten reichen. Die anderen Pflegegrade zeigen ähnlich inhomogene Pflegezeitwerte.
Hingegen erklären die drei Variablen "Toilettengang selbstständig", "Essen selbstständig" und "Positionswechsel im Bett selbstständig" 32 Prozent der Unterschiede in der Pflegezeit. Offensichtlich führen viele Kriterien des NBA (zum Beispiel kognitive und kommunikative Fähigkeiten) zu keiner stabilen Unterscheidbarkeit der Pflegebedürftigen in der Praxis über verschiedene Einrichtungen hinweg.
Mehr-Ebenen-Modelle zeigen, dass 24 Prozent der Unterschiede der Pflegezeiten davon abhängen, in welcher Einrichtung sich ein Pflegebedürftiger befindet. Außer der unterschiedlichen Personalausstattung, die sich aus einer tendenziell höher oder niedriger eingestuften Bewohnerstruktur ergibt und deshalb höhere oder niedrigere Pflegezeiten ermöglicht (s. Abb.), lassen sich statistisch keine anderen Organisationsmerkmale (zum Beispiel Gesamtfläche, Anzahl der Pflegeplätze) identifizieren, die eine Auswirkung auf die Pflegezeiten haben. Aufgrund der gesetzlichen Abhängigkeit der Personalausstattung von den Pflegegraden für die Personalberechnung ist dieser Umstand für das Management höchst relevant. Interesse des Managements muss es in diesem Falle sein, dass Bewohner(innen) den höchsten möglichen PG erhalten, um das einrichtungsinterne Gesamtleistungszeitbudget zu erhöhen. Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass von diesem Gesamtleistungszeitbudget die Bewohner mit hohen PG nicht stärker profitieren als Bewohner mit niedrigen PG. Oder anders ausgedrückt: Nur ein Fünftel (21 Prozent) des Gesamtleistungszeitbudgets, das sich aus der Personalberechnung nach den PG ergibt, wird von den Pflegenden auch entsprechend der PG "verteilt".
Weil sehr wenige Bewohner(innen) zum Beispiel freiheitsentziehende Maßnahmen bekamen oder einen Dekubitus entwickelten, ließ sich nicht belegen, dass der personelle Ausstattungsunterschied Einfluss auf diese Qualitätsindikatoren nimmt.
Um einen "fairen" Qualitätsvergleich zwischen den Einrichtungen zu gewährleisten, muss sichergestellt werden, dass sowohl die Bewohnerstruktur als auch die institutionellen Rahmenbedingungen vergleichbar sind, wenn am Ende die Ausprägung der Qualitätsindikatoren betrachtet werden soll. Unklar ist bislang jedoch, welche Bewohnermerkmale und welche Einrichtungskriterien für die sogenannte Risikoadjustierung eines solchen Vergleichs zu berücksichtigen sind. Mit einer Mehr-Ebenen-Analyse, die die Wohnbereichs- und die Einrichtungsebene berücksichtigt, wurde nach den Organisationsmerkmalen gesucht, die bei einer korrekten Risikoadjustierung zu berücksichtigen wären. Da aber nur wenige Bewohner(innen) unerwünschte Ereignisse erlitten haben (beispielsweise Dekubitus), lässt sich mit den Analysen nur zeigen, dass es auf der ersten Ebene relevant ist, in welcher Einrichtung ein Pflegebedürftiger gepflegt wird. Allerdings können aufgrund des starken Effektes der unterschiedlichen Personalausstattung keine weiteren Organisationsmerkmale identifiziert werden. Die Unterschiede der Personalausstattung sind auf die mangelnde wissenschaftliche Güte der Definition von PG zurückzuführen.
Diskussion der Ergebnisse
Offensichtlich differenzieren die fünf PG Pflegebedürftigkeit weniger stark, als dies die Pflegenden in der Praxis tun. Das Verständnis der Pflegenden von Pflegebedürftigkeit entspricht also nicht dem Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff. Ein Personalbemessungssystem, das auf den PG basiert, bewirkt damit unterschiedliche Personalausstattungen, deren jeweiliges Niveau davon abhängt, wie gut es der Einrichtung gelingt, hohe PG für die Bewohner(innen) zu erzielen - unabhängig davon, welche Pflegezeit der jeweilige Bewohner in der Praxis bekommt.
Daher sollten einem Personalbemessungssystem nicht die PG zugrunde liegen. Eine einfache und praktikable Alternative zum aktuellen leistungsbasierten System der Personalbemessung könnte in einem präsenz- beziehungsweise anwesenheitsbasierten Personalbemessungssystem liegen, das unabhängig von PG (Leistungsbezug) funktioniert.5
Die für die Qualitätsprüfungen vorgesehenen Kriterien zur Unterscheidung von Risikogruppen (Stratifizierung) tragen nicht dazu bei, vergleichbare Bewohnergruppen zu bilden. Das seltene Auftreten unerwünschter Ereignisse laut den Qualitätsindikatoren ist zunächst einmal positiv. Allerdings können diese sehr seltenen Ereignisse in ihrer Entstehung nicht erklärt werden. Deshalb ist es fraglich, ob zum Beispiel ein erworbener Dekubitus tatsächlich etwas über die Qualität der Pflege aussagt. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob Einrichtungen mit höherer Mortalität nicht "bessere" Qualitätsbeurteilungen erzielen werden, weil verstorbene Bewohner(innen) mit hohen Risiken nicht in die Analyse einfließen, da sie den zweiten Messzeitpunkt nicht erleben.
Bürokratie- und Gerechtigkeitsprobleme des jetzigen Systems
Festzuhalten bleibt: Die PG sind nicht für die Entwicklung von Personalbemessungsverfahren geeignet, und die Qualitätsindikatoren scheitern an einer fairen Risikoadjustierung. Die gesetzliche Bindung an invalide standardisierende Instrumente ohne weitere Entwicklungsperspektive führt neben einem enormen ressourcenzehrenden bürokratischen Aufwand zu grundlegenden und nachhaltigen Gerechtigkeitsproblemen. Zentrale Probleme der Pflegepraxis wurden bislang durch die invaliden PG und das Kontrollbestreben der Politik mit Hilfe von kritikwürdiger Wissenschaft eher verschärft als gelöst. So ist es dringend geboten, dass künftig Pflegeeinrichtungen aktiv an wichtigen Entwicklungen in der Pflegepolitik mittels finanzieller Förderung für Sach- und Personalaufwände sowohl für die Entwicklung von Forschungskompetenz als auch für die Beteiligung an Pflegeforschungsprojekten beteiligt werden können.
Pflegende erkennen die Probleme dieser Instrumente in der Praxis, und es steht zu befürchten, dass die Einführung der PG wie auch die Implementierung der Qualitätsprüfungen bewirken, was es eigentlich zu verhindern gilt: dass der Frust der Pflegenden weiter steigt und Abwanderungsgedanken aus der Pflege gefördert werden.
Anmerkungen
1. Der vollständige Abschlussbericht ist erhältlich: Brühl, A.; Planer, K.: PiBaWü - Zur Interaktion von Pflegebedürftigkeit, Pflegequalität und Personalbedarf. Freiburg: Lambertus, 2019. Bestellmöglichkeit: www.lambertus.de, Suchwort: PiBaWü.
2. Vgl. Griffiths, P.; Ball, J.; Drennan, J.et al.: Nurse staffing and patient outcomes: strengths and limitations of the evidence to inform policy and practice. A review and discussion paper based on evidence [...]. In: International journal of nursing studies (63) 2016, S. 213-225. Sowie: Spilsbury, K.; Hewitt, C.; Stirk, L. et al.: The relationship between nurse staffing and quality of care in nursing homes: A systematic review. In: International Journal Of Nursing Studies, 48 (6) 2011, S. 732-750.
3. Falls Organisationen sich in zentralen Merkmalen wie zum Beispiel der Personalausstattung trotz gleicher gesetzlicher Grundlagen unterscheiden, so kann man nicht davon ausgehen, dass Vergleiche von Qualitätsindikatoren sinnvoll sind, bevor man nicht eine vergleichbare Personalausstattung sicherstellt. Untersucht wird die Frage, ob die unterschiedliche Ausprägung von Qualitätsindikatoren nicht auf eine zufällig unterschiedliche Personalausstattung zurückzuführen ist. Die unterschiedliche Ausprägung von Qualitätsindikatoren würde eher etwas über die Qualität des Systems staatlich reglementierter Personalbemessung und seine Nutzung durch die Betreiber von Einrichtungen aussagen als über die Qualität von Pflege, wenn sie maßgeblich durch eine zufällig unterschiedliche Personalausstattung beeinflusst wird.
4. NBA: Neues Begutachtungsassessment (seit 2017).
5. Brühl, A., Planer, K.: A. a. O., S. 110.
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