Zweimal versklavt
Es wirkt fast so, als wäre es nicht das erste Mal, dass Memey Rochtriyati in einer Talkshow sitzt. Ihre Wimpernschläge haben einen harmonischen Takt, nur selten sorgt die Aufregung für ein kurzes Klimpern. Vor ihrem ersten TV-Auftritt hat sie sich für ein dunkles Kleid mit dezentem Blumenmuster entschieden, die Ohrringe haben die Form einer Träne. Die äußere Erscheinung unterstreicht ihre ernste, aber lebensfrohe Ausstrahlung. Ihre Augen verraten jedoch mehr. Memey, wie sie von jedem genannt werden möchte, ist diese Art Mensch, den man anschaut und schlagartig weiß, dass er viel erlebt haben muss. Ihr Blick offenbart bei näherem Hinsehen, dass diese Erfahrungen wohl nicht immer allzu positiv waren.
Zur besten Sendezeit erzählt sie im indonesischen Fernsehen ihre Geschichte - die eines Martyriums, das noch immer einen Schatten auf ihr Leben wirft. Eine Geschichte aber, so viel hat sie sich geschworen, die nicht das größte und auch nicht das letzte Kapitel in ihrem Leben sein soll.
Am Anfang war die Verzweiflung. Sie wollte den Worten des Unbekannten glauben, der ihr versprach, sich als Hausmädchen und Kellnerin ein ordentliches Einkommen erarbeiten zu können. "Ich war 16, meine Eltern waren sehr arm, und ich wollte etwas dazu beitragen, dass wir es besser haben", sagt Memey heute, inzwischen doppelt so alt wie ihr damaliges Ich. Doch als sie, das Mädchen aus Temanggung, einer ländlichen Gegend in Zentraljava, schließlich im Osten Indonesiens ankam, zerplatzte ihr Traum jäh. "Ich arbeitete nur kurz als Kellnerin. Schnell wurde mir deutlich gemacht, dass es nun meine Aufgabe sei, fremden Männern zu Diensten zu sein", sagt Memey. "Ich habe nur noch funktioniert." Nach einigen Wochen gelang ihr die Flucht. Gebrochen kam sie zurück in ihr Heimatdorf. Was sie wirklich erlebt hatte, behielt sie lange für sich.
In den Fängen der "Mafia"
Stattdessen versuchte sie, die schreckliche Zeit zu vergessen, ein normales Leben zu führen. Sie verliebte sich, heiratete und wurde mit 20 Jahren schwanger. Doch das Glück hielt nicht lange an. Ihr Mann verließ sie, und ihre Eltern konnten sie und ihren Sohn Vigo nicht beide ernähren. Wieder gewann die Verzweiflung die Kontrolle über sie, und sie wagte einen neuen Anlauf. Es hatten doch auch andere geschafft, in der Ferne zu Geld zu kommen, ohne dieses, ihr Schicksal zu erleiden. Doch während ihre Eltern sich um ihren Sohn kümmerten, wurde sie von ihren Vermittlern, der "Mafia", wie das Geflecht windiger halblegaler Arbeitsagenturen hier der Einfachheit halber genannt wird, wieder zur Prostitution gezwungen. Nun in Malaysia.
Möglicherweise hätte sie weiter diese Zwangslage erdulden müssen, hätte einer ihrer Freier ihr nicht aus Mitleid sein Handy überlassen, mit dem sie nach mehreren Wochen der Ungewissheit ihre Familie erreichte. Mit Hilfe internationaler Organisationen schaffte sie es, sich aus ihrer Geiselhaft zu befreien und in ihre Heimat zurückzukehren. Es sind nicht nur die schrecklichen Eindrücke aus dieser Zeit, die sie hartnäckig verfolgen. In den drei Monaten in Malaysia hat sich Memey mit dem HI-Virus infiziert.
Seit ihrem Fernsehauftritt und unzähligen weiteren Medienberichten ist man plötzlich stolz auf sie in ihrem Dorf. Es scheint, als wäre sie nie eine Aussätzige gewesen, verstoßen von der Gemeinschaft, verleumdet von den Nachbarn. "Es gab sogar Menschen, die vor meinem Haus protestiert haben und mich beschimpften", berichtet sie. "Sie denken, dass ich Schande über meine Familie bringe, dass ich einen Fluch über das ganze Dorf lege. Ich verurteile sie dafür nicht. Nur wenige von ihnen konnten über einen längeren Zeitraum eine Schule besuchen. Sie wissen ganz einfach nichts über diese Krankheit."
Inzwischen habe sich die Situation beruhigt. Was auch an vielen Gesprächen mit den Gemeindemitgliedern liegt, die sie und Mitarbeitende der Organisation Mitra Alam geführt haben. Memey ist nun Teil dieser Initiative, die von Caritas international unterstützt wird. Als Sozialarbeiterin und Betroffene zugleich leitet sie unter anderem einen Gesprächskreis, bei dem sich HIV-Infizierte regelmäßig über ihre Probleme austauschen. Zum Programm gehören auch Kurse zur beruflichen Weiterbildung, damit sich die Betroffenen mit einfachen Tätigkeiten ein eigenes Einkommen erwirtschaften können. Denn kaum jemand in Indonesien stellt einen HIV-Infizierten ein. Die junge Frau sieht es inzwischen auch als ihre Pflicht an, diesen Menschen öffentlich eine Stimme zu geben. Sie akzeptiert es dabei auch, von den Medien als eine Art Vorzeige-Kranke herumgereicht zu werden. "Auch wenn es mich manchmal wirklich auszehrt", sagt sie.
"Das Stigma ist viel tödlicher als das Virus"
Nur wenige haben den Mut, sich so zu offenbaren wie Memey. Oder wie Yushar Ismail, Mitarbeiter der Caritas in Java, es zusammenfasst: "Das Stigma ist viel tödlicher als das Virus. So wie Memey aufzutreten, erfordert unglaublich viel Mut."
Die offiziellen Analysen sprechen eine deutliche Sprache. Seit Ende der 80er-Jahre ist es im Inselstaat zu einem rasanten Anstieg von HIV-Infektionen gekommen; außer in Indien und Pakistan wächst die Verbreitungsquote des Virus im gesamten asiatischen Raum in Indonesien am schnellsten. Nur ein Bruchteil der tatsächlich Infizierten ist in dieser Statistik erfasst. Im Jahr 2015 lag die Zahl bei rund 700.000, so UNAIDS, die Initiative der Vereinten Nationen gegen HIV. Doch die realen Zahlen werden auf das Zehnfache geschätzt.
Die Regierung hat reagiert und einige Maßnahmen angestoßen, um das Problem einzudämmen. "Doch es gibt einfach immer noch zu wenig Geld für diese Programme", sagt Ligik Triyogo, der Direktor der Organisation Mitra Alam, die schon seit mehr als zehn Jahren in Java gegen die Ausbreitung des Virus kämpft und Betroffenen zur Seite steht. Ein ähnliches Resümee könne auch mit Blick auf die Aktivitäten der Regierung gezogen werden, wenn es um die Bekämpfung des Menschenhandels gehe, so Triyogo. Was es hier bräuchte, wäre eine offizielle Liste von zertifizierten Arbeitsagenturen. Und eine konsequente Ächtung und Verfolgung der schwarzen Schafe. Damit Fälle wie der von Memey irgendwann der Vergangenheit angehören.
Doch wie kam es dazu, dass Memey den Mut fand, sich nach all dem, was sie durchgemacht hat, zu offenbaren und im Sommer 2015 erstmals in einer Fernsehsendung zu einem Millionenpublikum über ihr Schicksal zu sprechen? "Ich wollte einfach keine Sklavin mehr sein", sagt Memey. "Ich habe mir geschworen, nie wieder so verwundbar zu sein, und dazu gehört auch, dass ich zu meiner Infektion stehe. Außerdem möchte ich andere Menschen vor meinem Schicksal bewahren, vor der Mafia - und vor dieser Krankheit."
Drehscheiben des Engagements
Damit Engagement wächst: Freiwilligen-Zentren brauchen breite Basis
Asylbewerber von Anfang an beteiligen
Personalpolitik für Caritas-Unternehmen
Wählt Menschlichkeit
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