Wie können sich Lebensräume zu Engagement-Räumen entwickeln?
Die Verwirklichung einer sozial lebendigen und solidarischen Bürgergesellschaft im Sinne eines "Miteinanderlebens" zählt zu den wichtigsten Aufgaben unserer Gesellschaft. Die Engagementstrategie Baden-Württemberg - "Lebensräume zu Engagement-Räumen entwickeln" zeigt mit ihren mehr als 140 Empfehlungen auf, wie es gelingen kann, die Engagementlandschaft ein Stück weiter voranzubringen.
Ausgangspunkt für die Überlegungen, die zur Entwicklung der Engagementstrategie geführt haben, waren die Ergebnisse des Freiwilligensurveys 2009. Danach war die Zahl der Engagierten insgesamt zwar groß. In einzelnen Bereichen, zum Beispiel im ländlichen Raum, war aber ein Rückgang des Engagements festzustellen. Außerdem wurde ein Potenzial von Personen festgestellt, die sich bislang aus unterschiedlichen Gründen (noch) nicht engagierten, sich jedoch gut vorstellen konnten, sich in Zukunft bürgerschaftlich zu engagieren.1
Der Grundgedanke zur Entwicklung der Engagementstrategie Baden-Württemberg wurde von niemandem vorgegeben. Die Idee wurde im Jahr 2012 gemeinsam mit allen Partnern und Multiplikatoren im Land auf der zweiten Landesnetzwerkkonferenz Bürgerschaftliches Engagement entwickelt, in der alle wichtigen Partner und Unterstützer des bürgerschaftlichen Engagements vertreten waren.
Da die Herausforderungen für Baden-Württemberg nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen und politischen Lebens betrafen, wurde ein langfristig orientierter Ansatz gewählt. Dabei sollte es nicht darum gehen, Helfer(innen) zu rekrutieren. Vielmehr ging es darum, die Menschen zu motivieren, aktiv ihr Umfeld und ihr soziales Miteinander zu gestalten und damit letztlich ein lebendiges und demokratisches Gemeinwesen zu fördern. Jede und jeder sollte sich engagieren können, unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft oder Beeinträchtigung. Ziel war und ist eine aktive Bürgergesellschaft, die allen offensteht.
Ein spannender Prozess mit vielen Beteiligten
Die Engagementstrategie Baden-Württemberg wurde in einem strukturierten, ergebnisoffenen Prozess mit allen Beteiligten entwickelt: mit Expert(inn)en, Engagierten, Vertreterinnen und Vertretern von Kommunen, Verbänden und Vereinen sowie Betroffenen. Spannend war dieser Prozess auch deshalb, weil damit die Selbstverpflichtung aller beteiligten Organisationen einherging, die Ergebnisse später auch umzusetzen und zu verbreiten.
Zunächst wurden Ziele definiert: die gemeinsame Entwicklung einer Strategie für alle ("von unten nach oben"), die klärt, was die Menschen vor Ort brauchen, damit sie sich bürgerschaftlich engagieren (können); damit einhergehend die Frage, was das Land dazu beitragen kann, um dieses Engagement und damit Teilhabe für alle zu ermöglichen und was Kommunen und freie Träger brauchen und tun können, damit sie wirksam und nachhaltig Engagement fördern können.
Exemplarisch wurden die Schwerpunktbereiche "Menschen mit Behinderung", "Menschen mit Migrationshintergrund", "Ältere Menschen", "Pflege", "Jugend und Freiwilligendienste" und "Unternehmerisches gesellschaftliches Engagement (CSR)" in sogenannten Forschungs- und Entwicklungsteams (FET) in den Blick genommen. Im Zentrum standen aber nicht einzelne Zielgruppen, sondern die sozialraumorientierte Betrachtung mit dem Fokus auf die Stadt, das Quartier oder die Gemeinde, ganz im Sinne von "Lebensräume zu Engagement-Räumen entwickeln".
Die Abschlussberichte der FETs lagen im Herbst 2013 vor. Im Ergebnis wurden rund 140 konkrete Handlungsempfehlungen zum Abbau von Hürden und Hemmnissen für das Engagement erarbeitet. Sie wurden sodann einer Bewertung auf ihre kurz-, mittel- und langfristige Umsetzbarkeit hin unterzogen. Im Anschluss daran wurde die Broschüre "Engagementstrategie Baden-Württemberg - Lebensräume zu Engagement-Räumen entwickeln - Ergebnisse des Beteiligungsprozesses und Bewertung" erstellt. Ein eigener Teil klärt auch das Grundverständnis, aus dem heraus sich bestimmte themenübergreifende Positionen erklären. Die Broschüre enthält ferner die Berichte der einzelnen FETs sowie die Bewertung der Empfehlungen durch die Landesregierung.
Die "Engagementstrategie Baden-Württemberg" wurde am 8. April 2014 vom Ministerrat verabschiedet. Unmittelbar danach folgte die Umsetzungsphase. Der Ministerrat befasste sich in seiner Sitzung vom 23. Februar 2016 mit einem Bericht zum Stand der Umsetzung und bewertete diesen insgesamt positiv. In diesem Bericht wurde aufgezeigt, welche der in den Jahren 2012/2013 entwickelten Empfehlungen bereits angegangen wurden. So wurde beispielsweise berichtet über:
- die gesetzliche Regelung über die Gewährleistung von Bildungszeit auch für die Qualifizierung zur Wahrnehmung ehrenamtlicher Tätigkeiten,
- die Verabschiedung von Mindestqualitätsstandards für das Freiwillige Soziale Jahr,
- die Konsolidierung der Förderung der Selbsthilfeinitiativen der Menschen mit Behinderung einschließlich psychisch kranker Menschen und ihrer Angehörigen,
- den "Kompass Seniorenpolitik", der erstellt wurde, um auf die Differenzierung von Altersbildern hinzuwirken und diese zu kommunizieren.
Aktuelle Herausforderungen
Dem Kabinett wurde in diesem Zusammenhang auch von aktuellen Herausforderungen berichtet. Hierzu gehören Probleme mit dem geltenden Gemeinnützigkeitsrecht. Kritisch gesehen wird die Tendenz zur Monetarisierung des Engagements. Im Bereich der Freiwilligendienste sei es wichtig, einen gesellschaftlichen Konsens über die Wertschätzung der Freiwilligendienste zu erzielen und die Anerkennungskultur weiterzuentwickeln.
Ein zentraler Bestandteil der Umsetzung der Engagementstrategie ist das Programm "Gemeinsam sind wir bunt - Lebensräume zu Engagement-Räumen entwickeln", mit dem Empfehlungen aus der Engagementstrategie erprobt werden. Bürgerengagement wächst von unten, also da, wo Menschen leben und arbeiten. Deshalb ist es wichtig zu wissen, was vor Ort gebraucht wird, um das Engagement in den Lebensräumen weiter voranzubringen. Das Programm "Gemeinsam sind wir bunt" nimmt nicht nur einzelne Zielgruppen wie beispielsweise Ältere, Jugendliche oder Menschen mit Behinderung in den Blick, sondern den Sozialraum insgesamt. Verschiedene Maßnahmen und Empfehlungen der Engagementstrategie werden in den Sozialräumen, also in den Gemeinden, Quartieren, im ländlichen Raum, in der Schule, modellhaft erprobt. Auch der in der Engagementstrategie initiierte Dialog- und Beteiligungsprozess sollte im Förderprogramm vor Ort fortgesetzt werden und dort ansetzen, wo sich die Menschen begegnen. 25 Anträge zur Förderung aus Mitteln der Baden-Württemberg-Stiftung wurden Anfang 2015 von einer unabhängigen Jury ausgewählt.
Gemeinsam sind wir bunt
Das mit der Evaluation dieses Programms beauftragte Institut ZZE hat im Dezember 2016 Ergebnisse der ersten Online-Befragung für "Gemeinsam sind wir bunt" vorgelegt und folgendes Zwischenfazit gezogen: "Die große Bedeutung von Vernetzungsstrukturen wurde erkannt und von einem Großteil der Förderprojekte intensiv verfolgt. Vielfältige Akteure werden in Kooperationen eingebunden und so perspektivisch Sozialräume erschlossen. Es konnten viele neue Kooperationspartner gewonnen werden. Und dies aus unterschiedlichen Bereichen. Mit "Gemeinsam sind wir bunt" wird ein Beitrag zur Stärkung lokaler/regionaler Identität geleistet. Die Vielfalt der in den Projekten verfolgten Anliegen ermöglicht noch nicht Engagierten ein breites inhaltliches Betätigungsfeld beziehungsweise auch sehr unterschiedliche Möglichkeiten, sich vor Ort einzubringen." Ziel ist es, aus dem Programm weitergehende Erkenntnisse für die Engagementstrategie gewinnen zu können.
Geschlossene Systeme sollen geöffnet werden
Eine Empfehlung der Engagementstrategie lautete, bislang weitgehend geschlossene Engagementwelten (zum Beispiel etablierte Vereine auf der einen, Migrantenselbstorganisationen auf der anderen Seite) interkulturell zu öffnen. Eine weitere Empfehlung lautete, vom Land aufgelegte Förderprogramme sollten niederschwellig und so bürokratiearm wie möglich gestaltet werden, damit selbstorganisiertes Engagement von jungen Menschen und von Menschen mit internationalen Wurzeln nicht an formalen Hürden scheitert. Diese und weitere Empfehlungen wurden im Jahr 2015 zur Richtschnur, als das Förderprogramm "Gemeinsam in Vielfalt - Lokale Bündnisse für Flüchtlingshilfe" erarbeitet wurde. Das Förderprogramm zielt auf individuelle Möglichkeiten der Unterstützung und Begleitung des bürgerschaftlichen Engagements vor Ort ab. Wichtig ist, dass sich alle Akteure eng miteinander vernetzen. Über 130 Projekte wurden bewilligt.
Die Engagementstrategie hat sich als ein tragfähiger Wegweiser für die Engagementpolitik in Baden-Württemberg erwiesen. Künftig sollen einerseits Handlungsempfehlungen aufgegriffen und umgesetzt werden, die noch nicht angegangen wurden. Andererseits ist die Engagementstrategie als ein fortlaufender, dynamischer Prozess zu sehen. Erkenntnisse, Ergebnisse und Empfehlungen, die daraus gewonnen wurden, sollen immer wieder einer fachlich fundierten Überprüfung unterzogen werden. Insofern gilt es, die Engagementstrategie gemeinsam mit allen Partnern stetig weiterzuentwickeln.
Anmerkung
1. Vgl. Landesauswertung des Freiwilligensurveys 2009: www.zze-freiburg.de/assets/pdf/11-04-19-FWSBW-Endfassung.pdf
Drehscheiben des Engagements
Damit Engagement wächst: Freiwilligen-Zentren brauchen breite Basis
Zweimal versklavt
Asylbewerber von Anfang an beteiligen
Personalpolitik für Caritas-Unternehmen
Wählt Menschlichkeit
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