Im demografischen Wandel_So bilden EU-Nachbarn für die Pflege aus
Deutschland altert, schrumpft und wird durch Einwanderung heterogener. Insbesondere in Pflegeberufen ändert sich die Arbeitsgrundlage derzeit durch den demografischen Wandel: Einerseits gibt es immer mehr ältere und pflegebedürftige Menschen, gleichzeitig hat der Pflegebereich mit einem Fachkräftemangel zu kämpfen. Auch viele Menschen mit Migrationshintergrund werden pflegebedürftig, was neue Herausforderungen mit sich bringt. Diese Situation wird durch politische Entwicklungen, wie die Einführung der Telemedizin und der generalistischen Pflegeausbildung, noch weiter verstärkt.
Die Caritas will den demografischen Wandel gestalten und sucht in ihrer Demografie-Initiative (2015-2017) nach innovativen Ansätzen für die Gesellschaft und die eigene Arbeit. Dabei spielen die Pflegeberufe und die Gestaltung der Pflegeausbildung eine wichtige Rolle: Mittelfristig müssen Ausbildungsgänge so angepasst werden, dass unsere zukünftigen Fachkräfte in der Pflege auf entsprechende Änderungen gut qualifiziert vorbereitet werden.
Vom EU-Ausland lernen
Während wir uns in Deutschland Gedanken über die Weiterentwicklung der Pflegeberufe machen, haben andere EU-Länder bereits spezifische Lösungen entwickelt oder durchlaufen ähnliche Prozesse. Die Caritas in Deutschland kann daher vom Ausland lernen. Um zu erfahren, wie Pflege und Pflegeausbildung im Ausland in der Praxis funktionieren und welche Schwierigkeiten auftreten, reichen theoretische Informationen allein jedoch nicht aus.
Das Projektbüro der Demografie-Initiative und die Hauptvertretung Brüssel des Deutschen Caritasverbandes (DCV) haben deshalb 2016/2017 ein einjähriges Projekt durchgeführt1, in dem 20 hauptamtliche Mitarbeiter(innen) der bundesweiten Caritas je fünf Tage das Pflegesystem und die Pflegeausbildung im EU-Ausland vor Ort kennenlernen konnten. Bei ihren Studienreisen nach Schweden und Österreich führten die Teilnehmenden Gespräche mit politisch und fachlich Verantwortlichen, hospitierten in Pflegestationen, besuchten verschiedene Bildungseinrichtungen oder stationäre wie ambulante Pflegedienste. Finanziert wurde das Projekt durch das EU-Programm Erasmus?+, das europäische Austauschprojekte in den Bereichen allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und Sport finanziell unterstützt.
Partner in Österreich und Schweden
Als Partnerorganisationen beteiligten sich die Caritasverbände der Diözesen Linz und Innsbruck sowie das Södersjukhus (Südkrankenhaus) Stockholm und die Gemeinde Leksand in der stark ländlich geprägten schwedischen Provinz Dalarnas län. Da Österreich ein Deutschland sehr ähnliches System der Pflegeerbringung hat und Schweden oft als Vorbild für demografieangepasste Pflege herangezogen wird, konnten durch die Studienreisen viele verschiedene Eindrücke gesammelt werden. Während ihres Aufenthalts im Ausland beschäftigten sich die Teilnehmenden damit, welche innovativen Projekte und Ansätze es gibt, welche Angebote und Rahmenbedingungen vergleichbar sind und wie sich neue Ansätze nach Deutschland übertragen lassen.
Die Projektergebnisse wurden auf einem öffentlichen Fachtag im April 2017 in Frankfurt am Main diskutiert und werden von den DCV-Büros in Berlin und Brüssel in den politischen Prozess eingespielt.
Erfahrungen aus den Reisen nach Österreich
In Österreich ist das Gesundheitssystem öffentlich organisiert - die Zuständigkeiten sind überwiegend zwischen Bund, Ländern und Gemeinden aufgeteilt. Die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung wird über die soziale Kranken- und Unfallversicherung abgedeckt. Sowohl öffentliche als auch private Anbieter erbringen die Gesundheitsleistungen.
Schon seit vielen Jahren gibt es Veränderungen, besonders im ländlichen Raum: Gewachsene Strukturen ändern sich durch einen Bevölkerungsrückgang. Die infrastrukturelle Gestaltung tendiert in Richtung Dezentralisierung. Obwohl der Ausbau der ambulanten Dienste klar im Fokus steht, ist absehbar, dass aufgrund der demografischen Entwicklung ebenfalls ein erhöhter Bedarf an stationären Pflegeeinrichtungen entstehen wird. Die Herausforderung besteht also darin, die pflegerischen Leistungen sicherzustellen und gleichzeitig vermehrt Angebote zu schaffen, um der Isolation und Vereinsamung älterer Menschen vorzubeugen. Als besonders bemerkenswert fiel den Teilnehmenden auf, dass die Pflege durch Angehörige in Österreich ein wesentlicher Bestandteil ist und einen Kern der Versorgung hilfebedürftiger Menschen bildet. Flankiert wird dies durch ein breites ehrenamtliches Spektrum, das durch professionelle Unterstützungsangebote abgesichert wird.
In Österreich gibt es seit Mitte 2016 eine novellierte Pflegeausbildung mit einer generalistischen, akademischen Ausrichtung. Einige Jahre zuvor wurde eine Trennung von Pflegeberufen und Sozialbetreuungsberufen implementiert. Aus den Erkenntnissen der Reise heraus wünschen sich die Teilnehmenden, dass in Deutschland bei der Einführung der Generalistik die pflegerischen Vorbehaltsaufgaben genau formuliert und dann klar getrennt von Aufgaben anderer Berufsqualifikationen durchgeführt werden.
Als äußerst bemerkenswert ist den Teilnehmenden aufgefallen, dass Pflegefachkräfte stolz auf ihren Beruf sind. Ebenfalls wurde berichtet, dass der Spezialberuf des Altenpflegers/der Altenpflegerin in Österreich teilweise unbekannt war, seine Beschreibung jedoch eher positive Reaktionen hervorrief.
Verantwortlich für die Erbringung von Pflege in Schweden ist der Staat: Er finanziert nicht nur die Pflegedienstleistungen, sondern entscheidet auch über die Art der Pflege für jede Person und führt diese zum größten Teil auch selbst durch. Dabei ist die nationale Ebene für die (Rahmen-)Gesetzgebung verantwortlich, die Region für Gesundheitsversorgung und Krankentransport, während die Pflege von der Gemeinde verantwortet wird. Das schwedische Pflegesystem ist steuerfinanziert, wobei ein geringer Selbstbehalt vorgesehen ist.
Erkenntnisse aus dem Austausch mit Schweden
Die Ausbildung der Pflegefachkräfte erfolgt in Schweden seit 1993 an Universitäten. Der dreijährige Bachelor-Studiengang ist generalistisch angelegt. Darauf aufbauend können spezifische Master angeschlossen werden. Die Berufsbezeichnung Sjuksköterska - Krankenpfleger(in) - ist landesweit geschützt. Unterhalb der Pflegefachkraft ist die Undersköterska (Pflegeassistent(in)) angesiedelt. Diese Qualifikation ist auf verschiedenen Wegen zu erreichen, beispielsweise über ein berufsbezogenes Gymnasium oder eine berufsbegleitende Ausbildung an Erwachsenenbildungseinrichtungen.
Die praktische Pflegeausbildung findet im Krankenhaus auf speziellen Ausbildungsstationen und durch ausführliche Fallbesprechungen statt. Viele pflegerische Tätigkeiten werden von Pflegehelfer(inne)n, Ergo- und Physiotherapeut(inn)en übernommen, während die akademisch ausgebildeten Pflegefachkräfte mit Bachelor- oder Masterabschluss die medizinisch-pflegerischen Entscheidungen verantworten und Managementaufgaben wahrnehmen. Besonders aufgefallen ist den Teilnehmenden in Schweden ein anderer Umgang mit der Fachkraftquote: Wegen der zahlreichen schulisch ausgebildeten Pflegehelfer(innen) gibt es oftmals nur eine Fachkraft auf bis zu 50 (nachts auf bis zu 200) Patient(inn)en.
Bei den Besuchen in Schweden fielen den Teilnehmenden auch die flachen Hierarchien auf. Diese sind gekennzeichnet durch einen Umgang der verschiedenen Professionen auf Augenhöhe und durch erweiterte Kompetenzen der Pflegefachkräfte. Außerdem spiegeln sie sich auch in den recht geringen Gehaltsunterschieden zwischen Ärzt(inn)en und Pflegefachkräften wider. Anders stellt sich die Zusammenarbeit von Fachkräften und Hilfs- beziehungsweise Assistenzkräften dar, in der ein hierarchisches Gefälle existiert.
Hohe Zufriedenheit mit dem Projekt
Im ländlichen Raum fiel den Teilnehmenden die Gelassenheit des Pflege- und Gesundheitssystems in Schweden auf. Statt sich wie in Deutschland auf Aktivierung der Patient(inn)en und die Leistung des Pflegepersonals zu konzentrieren, steht die individuelle Zufriedenheit der pflegebedürftigen Person im Mittelpunkt. Daher sind andererseits allgemeine Verfahrensvorgaben oder überprüfbare Kriterien der Qualitätssicherung der Pflege nicht in dem Maße zu finden, wie wir sie in Deutschland gewohnt sind.
Alle Teilnehmenden waren hochmotiviert und engagiert, und grundsätzlich bewerteten alle diese EU-Mobilitätsmaßnahme sowie den Aufbau und die Themensetzung des Projektes in der abschließenden Evaluation als persönliche und fachliche Bereicherung. Um auf diesem Erfolg und den neu geknüpften Netzwerken ins EU-Ausland aufzubauen, führt der Diözesan-Caritasverband München-Freising das Projekt für den DCV 2017-2018 fort. Dabei wird diese Mobilitätsmaßnahme auch zukünftig bundesweit für Fachkräfte der Caritas-Pflege(ausbildung) ausgeschrieben werden.
Wenn Sie für Ihren Verband oder Ihre Einrichtung einen ähnlichen europäischen Austausch planen, hilft Ihnen die EU-Vertretung des DCV gerne bei der Beantragung europäischer Fördergelder und der Suche nach Partnern in der EU.
Anmerkung
1. Unter www.caritas.de/initiative liegt der ausführliche Bericht zum Download bereit.
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