Präventionsarbeit zeigt Wirkung
Das Thema Prävention von Wohnungsverlusten gewinnt derzeit bundesweit eine immense Bedeutung. Dabei liegt der Fokus der Wohnungsnot sehr oft auf städtischen Ballungsräumen. In Baden-Württemberg wurde mit finanzieller Unterstützung des Bundesfamilienministeriums (BMFSFJ) für den Zeitraum von 2014 bis 2016 ein Modellprojekt zur Einführung einer Fachstelle Wohnungssicherung im ländlichen Raum eingerichtet - Schwerpunkt Hilfen für Familien. Projektträger ist der Diözesan-Caritasverband Freiburg. Umgesetzt wird es von der AGJ-Wohnungslosenhilfe im Landkreis Lörrach (AGJ: Fachverband für Prävention und Rehabilitation in der Erzdiözese Freiburg). Die wissenschaftliche Evaluation liegt bei der Dualen Hochschule Villingen-Schwenningen.
Ziel des Modellprojekts ist es, Haushalte in Wohnungsnot zu unterstützen und Obdachlosigkeit zu verhindern oder, wenn dies nicht mehr möglich ist, bei der Suche nach Ersatzwohnraum zu unterstützen. Es ist eine Besonderheit des Projekts, dass die Fachstelle in Delegation für den Landkreis neben dem Jobcenter und dem Kreissozialamt (örtlich für die Kosten der Unterkunft zuständig) von allen drei Amtsgerichten im Kreis die Mitteilungen über Räumungsklagen wegen Mietschulden ("Mizis") erhält.
Die hohe Dringlichkeit des Themas Wohnungslosigkeit wird aktuell besonders deutlich durch eine Studie der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung (GISS) Bremen1 im Auftrag des Sozialministeriums Baden-Württemberg: Demnach dürfte das Land bundesweit einen Spitzenplatz bei der Zahl der Wohnungslosen in Deutschland einnehmen. Am 1. Oktober 2014 wurden stichtagsbezogen knapp 23.000 Personen in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe und in kommunalen Obdachlosenunterkünften gezählt. Dabei lag der Anteil der kommunal untergebrachten Wohnungslosen bei 63 Prozent. Hochgerechnet auf das Jahr geht die GISS von etwa 30.000 Wohnungslosen in Baden-Württemberg aus. Eine der wesentlichen Forderungen der GISS lautet daher, die Präventionsfachstellen flächendeckend auszubauen. Diese muss durch die Erkenntnis untermauert werden, dass Wohnungsverluste oft einhergehen mit dem Verlust von günstigem Wohnraum (zum Beispiel infolge von kostenintensiven Sanierungen oder Neubau). Betroffen sind nicht nur Großstädte, sondern auch einzelne Regionen mit flächenmäßig hohem Anteil an ländlichem Raum. Der Landkreis Lörrach gehört in Baden-Württemberg mit rund 2,4 wohnungslosen Menschen je 1000 Einwohner(inne)n zu den am stärksten betroffenen Regionen. Hier spielt sicherlich die grenznahe Lage in direkter Nachbarschaft zu Basel und der Schweiz eine zentrale Rolle.
Blick aufs bisherige Ergebnis
Sozialräumlich wird mit dem Modellprojekt der gesamte Landkreis Lörrach betreut (circa 223.000 Einwohner). Ausgenommen sind Lörrach (circa 50.000 Einwohner) und Weil am Rhein (circa 30.000 Einwohner). In diesen beiden Städten existieren bereits kommunal finanzierte Fachstellenprojekte in Trägerschaft der AGJ. Der Blick auf die Zwischenresultate des Modellprojekts bis zum 31. Dezember 2015 zeigt, dass in den Jahren 2014 und 2015 im Kreisgebiet zusammen 250 Haushalte erreicht wurden (2015: 135 Haushalte, 2014: 115). Allerdings wurde im ersten Jahr lediglich ein Zeitraum von zehn Monaten ausgewertet. Die erreichten Haushalte, die im Jahr 2015 zu 98 Prozent (2014: 93 Prozent) unmittelbar von Wohnungslosigkeit bedroht waren, kamen fast aus allen - auch ländlichen - Kommunen im Landkreis Lörrach und waren zu 61 Prozent (2014: 68 Prozent) mit einer Räumungsklage konfrontiert, bevor es zum ersten Kontakt mit der Fachstelle kam.
Die rund 56 Prozent (2014: 40 Prozent) von der Fachstelle erreichten Familien zeigen, dass diese in besonderer Weise von Wohnungsnot betroffen waren. Für das Entstehen von Mietschulden spielte der Aspekt von Trennung vom Lebenspartner oft eine große Rolle (siehe Fallbeispiel auf dieser Seite).2
Bei den von der Fachstelle erreichten Haushalten ist der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund mit 47 Prozent (2014: 43,3 Prozent) etwa doppelt so hoch wie in der Gesamtbevölkerung. Immer wieder bemerkte die Fachstelle, dass Sprachbarrieren und kulturelle Spezifika (zum Beispiel, aus Scham keine Hilfe anzunehmen) eine frühzeitige - auch behördliche - Unterstützung verhindern.
Hinsichtlich des Zugangs der von Wohnungslosigkeit Bedrohten zeigte sich, dass Vernetzung, klare Absprachen und gute Öffentlichkeitsarbeit sich lohnen: Die Fachstelle wurde in rund 50 Prozent (2014: circa 40 Prozent) der Fälle von den Amtsgerichten direkt informiert, über ein Fünftel der Klient(inn)en wurde durch andere Institutionen vermittelt, während ein weiterer, vergleichsweise hoher Teil von etwa einem Viertel der Haushalte eigeninitiativ zur Fachstelle kam.
Bei den Vermieter(inne)n überwiegen die privaten. Öffentliche Wohnungsgeber nehmen mit rund 13 Prozent (2014: elf Prozent) nach wie vor eine untergeordnete Rolle ein. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der Kündigungen wegen Eigenbedarfs im Jahr 2015 auf etwa acht Prozent gestiegen.
Bei rund 80 Prozent der Klient(inn)en haben die Mietschulden dazu geführt, dass diese nun von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Dahinter stehen wiederum vielfältige Probleme wie Erwerbslosigkeit, Beschäftigung im Niedriglohnbereich, Überschuldung, psychische Probleme, Krankheit und Behinderung. Überdurchschnittlich oft wurde die Fachstelle von Menschen kontaktiert, die das 50. Lebensjahr bereits überschritten hatten (Alter der Haushaltsvorstände). Mit dem Eintritt ins Rentenalter und den damit verbundenen finanziellen Einschnitten stellt sich dann nochmals verstärkt die Frage, wie die Miete gezahlt werden kann.
Die Fachstelle unterstützte die Hilfesuchenden neben einmaliger Beratung auch durch Vermittlung und intensivere Begleitungen, so dass eine Betreuungskontinuität hergestellt beziehungsweise erhalten werden konnte. Dazu trugen nicht zuletzt die persönlichen Kontakte bei, die sich im Modellprojekt insgesamt als sehr hilfreich erwiesen.
Betrachtet man die abgeschlossenen Beratungen (73 Prozent), hat sich die Gesamtsituation bei etwa über 76 Prozent (2014: 66 Prozent) der Haushalte stabilisiert und verbessert, indem entweder die Wohnung gesichert (bei knapp 43 Prozent der Haushalte; 2014: 50 Prozent) oder eine alternative Wohnung gefunden wurde (bei weiteren 33,3 Prozent; 2014: 16,2 Prozent).
Die Fachstellenarbeit kann insofern als nachhaltig betrachtet werden, als bei 92,6 Prozent (2014: 73 Prozent) der abgeschlossenen Fälle in relativ kurzem Berichtszeitraum nur 7,4 Prozent erneut in die Beratung kamen.
Das Vernetzen funktioniert
Die Netzwerkstruktur für den Bereich der Prävention von Wohnungsverlusten im Landkreis Lörrach konnte weiter verbessert werden. Hinsichtlich der bundesweiten Übertragbarkeit können zum jetzigen Zeitpunkt nur ansatzweise Aussagen gemacht werden. Es ist zu vermuten, dass - neben der Einführung einer Website und einer intensiven Pressearbeit - die Parameter Vernetzung im Sozialraum und die Informationsweitergabe durch die Amtsgerichte weiterhin maßgeblich zum bisherigen Erfolg des Projekts beigetragen haben. Da die Fachstelle aufgrund der räumlichen Distanzen und ihrer personellen Ausstattung nur in Einzelfällen aufsuchend tätig werden konnte, erachtet die AGJ die Vernetzung mit Kooperationspartnern im sozialen Bereich in der Region als wichtige Herausforderung. Diese Netzwerkpartner wie zum Beispiel lokale Außenstellen von Caritas und Diakonie, Kommunen oder bestehende Quartierstreffpunkte können bei der Herstellung von Kontakten behilflich sein oder von der Fachstelle entsprechend instruiert werden. Solche Parameter vorausgesetzt, ist die Übertragbarkeit auf vergleichbare Landkreise im Bundesgebiet durchaus vorstellbar. Ganz zentral ist auch die verbindliche Kooperation mit den öffentlichen Sozialleistungsträgern, dem Jobcenter und dem Kreissozialamt, welche auch für die darlehensweise Gewährung von Mietschulden nach § 22 SGB II und § 36 SGB XII zuständig sind.
Da die Finanzierung über das BMFSFJ zum 31. Dezember 2016 ausläuft, bleibt nur zu hoffen, dass das Modellprojekt eine Folgefinanzierung mit einer angemessenen Personalausstattung vom Landkreis erhalten wird. Die projektbezogenen 30 Prozent einer Vollzeitstelle reichen bei weitem nicht aus, um aufsuchende Arbeit auch nur ansatzweise sicherzustellen. Auch die Tatsache, dass lediglich 32,4 Prozent der Haushalte über die "Komm-Struktur" erreicht wurden, zeigt, dass bei weitem nicht der gesamte Bedarf an Beratung abgedeckt werden konnte. Das wäre nur zu bewältigen, wenn das Stellendeputat erweitert und der Bekanntheitsgrad der Stelle gesteigert werden kann.
Bei dem Modellprojekt fließen außerdem noch in nicht unerheblichem Ausmaß ehrenamtliche Personalressourcen der AGJ-Wohnungslosenhilfe im Landkreis mit ein. Eine auskömmliche Personalausstattung, die auch Urlaubs- und Krankheitsvertretungen mit einschließt, würde mindestens eine Vollzeitstelle pro 100.000 Einwohner(innen) erfordern. Ein dauerhaftes Engagement unterhalb dieser Personalbemessung wird in Anbetracht steigender Obdachlosenzahlen und durch mehr Flüchtlinge mit Bleibeperspektive, die nicht mit Wohnraum versorgt werden und in Wohnungsnot geraten können, kaum zu realisieren sein.
Dabei kann davon ausgegangen werden, dass die Kommunen und der Sozialhilfeträger durch die Fortführung und Ausweitung des Projekts erheblich sparen könnten.?Denn mit jedem Fall, in dem Obdachlosigkeit verhindert wird, werden hohe Folgekosten im Bereich der ordnungs- oder sozialhilferechtlichen Unterbringung und Betreuung vermieden.
Neben einer deutlichen Intensivierung des sozialen Wohnungsbaus kann der Landkreis mit den Fachstellen zur Verhinderung von Wohnungslosigkeit einen wertvollen Beitrag leisten, Menschen in Wohnungsnot zu unterstützen.
Anmerkungen
1. Siehe dazu Sozialministerium Baden-Württemberg, http://bit.ly/29Hgsya
2. Vgl. Statistikbericht der BAGW 2012,
http://bit.ly/29Lluxf
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