Kirchlicher Suchdienst: Ende einer Ära
Im Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg. Schon vor Kriegsende, im Herbst 1944, vor allem dann in den Januartagen 1945, setzte aufgrund des Vorrückens der sowjetischen Armee eine Fluchtbewegung aus den damaligen deutschen Ostgebieten sowie aus dem südöstlichen Europa ein. Während der Flucht über die Ostsee oder auf den Trecks Richtung Westen starben viele Menschen, Familien wurden auseinandergerissen, zusammengewachsene, vertraute und sich gegenseitig unterstützende Dorfgemeinschaften getrennt. Nach Kriegsende folgte die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten Ostbrandenburg und Schlesien. Rund 14 Millionen Deutsche wurden innerhalb von zwei Jahren heimatlos. Damals suchten viele Deutsche nach ihren Angehörigen. Auch ehemalige Soldaten aus Ostpreußen, Pommern, Ostbrandenburg und Schlesien, die in Frankreich oder England in Kriegsgefangenschaft waren, suchten in großer Sorge ihre inzwischen geflüchteten oder vertriebenen Angehörigen, die nun irgendwo in den verschiedenen Besatzungszonen untergekommen waren.
Kirchen als Anlaufstellen
Die verzweifelten und vielfach traumatisierten Menschen wandten sich in ihrer Not oft an die Pfarrer. Diese schienen in den Augen der Menschen vertrauenswürdig und unbelastet. Eine öffentliche Verwaltung war vielerorts nicht mehr existent. In den Sakristeien und Pfarrhäusern wurden die Kontaktdaten auf Karteikarten aufgenommen. Internet, Handy oder Computer gab es ja nicht - die Hilfsmittel, mit denen heutzutage Flüchtende Kontakte halten können. Caritas und Diakonie nahmen sich der vertriebenen Deutschen an, sammelten die Kontaktdaten, ordneten sie und versuchten zu helfen, soweit das möglich war. Das war die eigentliche Geburtsstunde des Kirchlichen Suchdienstes (KSD). 1947 wurden die Millionen Kontaktdaten nach den Heimatregionen in den Vertreibungsgebieten sortiert. So entstanden die Heimatortskarteien.
Bis 1950 wurde der Kirchliche Suchdienst von Caritas und Diakonie finanziert. Ab 1950 übernahm der Bund (Bundesministerium des Innern) seine institutionelle Förderung. Zuwendungsempfänger war der Deutsche Caritasverband in Freiburg. Die Dienste waren unter der Bezeichnung Heimatortskarteien zunächst bundesweit an mehreren Standorten tätig. Zuletzt wurden sie im Zuge der Datendigitalisierung in Stuttgart und Passau zusammengefasst. Der jeweilige Landes-Caritasdirektor in Bayern war der Leiter des Kirchlichen Suchdienstes, unterstützt durch einen Geschäftsführer mit Sitz in München.
In den Anfangsjahren war die Arbeit des Kirchlichen Suchdienstes geprägt von der ganz konkreten Suche nach vermissten Familienangehörigen. Im Laufe der Jahrzehnte wandelten sich die Aufgaben. In den 50er- und 60er-Jahren erfolgte auf Beschluss des Bundestages vom März 1953 die "Gesamterhebung zur Klärung des Schicksals der deutschen Bevölkerung in den Vertreibungsgebieten", die sich über zehn Jahre hinzog. Mit dieser zusätzlichen Datengrundlage wurde gleichsam ein "Einwohnermeldeamt" der Vertreibungsgebiete geschaffen.
Anfang der 50er-Jahre wurden dem Kirchlichen Suchdienst rund 1,2 Millionen Feldpost- und Kriegsgefangenenpostbriefe übergeben, die ursprünglich an Angehörige und Freunde in den Vertreibungsgebieten gerichtet waren, aber bei oder nach Kriegsende nicht mehr zugestellt werden konnten. Rund eine Million dieser Briefe konnte aufgrund der intensiven Suchdienstarbeit des KSD in den vergangenen Jahrzehnten an die Adressaten oder deren Nachkommen weitergeschickt werden.
Im Zuge der Lastenausgleichsgesetzgebung im Jahr 1952 kamen viele Anfragen von Vertriebenen, die den KSD für einen Nachweis für den Lastenausgleich oder einen Rentennachweis kontaktierten. Nach der Wiedervereinigung gab es 1994 das Vertriebenenzuwendungsgesetz. Vertriebene aus der ehemaligen DDR bekamen demnach einen Pauschalbetrag, wenn sie nachweisen konnten, dass sie Vertriebene waren. Auch hier konnte der KSD Zehntausenden helfen. In den 1990er-Jahren beschäftigte ihn zudem die große Aussiedlerzuwanderung. Die interne Arbeit hat sich durch die Technik komplett verschoben - von Karteikarten zum Computer. Inzwischen sind alle 20 Millionen Karteikarten digitalisiert. Nach der Aktion mit dem Vertriebenenzuwendungsgesetz sind seit Ende der 90er-Jahre die Anfragen kontinuierlich zurückgegangen: von jährlich über 20.000 auf zuletzt maximal sechs- bis achttausend pro Jahr. Im Vordergrund standen auch nicht mehr die Anfragen nach vermissten Angehörigen, sondern nach der Klärung von Familienstrukturen. Anfragen kamen auch von Behörden und Erbenermittlern.
Aufgabe ist erledigt
Die Frage, ob der Kirchliche Suchdienst seinen Zweck erfüllt hat und seine Tätigkeit noch weitergeführt werden sollte, wurde allmählich dringlicher. Schon in einem Planungsbericht der 80er-Jahre ist vermerkt, dass die Bedeutung des Kirchlichen Suchdienstes zurückgegangen sei. Auch nach einem Protokoll aus dem Jahr 2000 wurde diskutiert, wie lange der KSD noch tätig sein solle. Der Kirchliche Suchdienst war in einer historischen Situation der deutschen Geschichte entstanden, er hatte eine bestimmte Zielgruppe und war auf Endlichkeit angelegt. Anfang des Jahres 2015 haben dann Caritas, Diakonie und Bundesministerium des Innern die gemeinsame Aufgabe als beendet angesehen und gemeinsam beschlossen, die Tätigkeit des Kirchlichen Suchdienstes zum 30. September 2015 zu beenden.
Daten werden in Archive überführt
Damit ist eine Ära zu Ende gegangen, die Teil der deutschen Geschichte der vergangenen 70 Jahre ist. Der Kirchliche Suchdienst war für viele Menschen, die ihre Heimat verloren hatten, und ihre Angehörigen eine wichtige Anlaufstelle. Dort wurden im Laufe von 70 Jahren über 18 Millionen Anfragen beantwortet und mittels Datenfortschreibung rund 22 Millionen Datensätze gesammelt. Diese Datensätze, die eine unersetzliche Quelle darstellen, gehen mit der Auflösung des Dienstes nicht verloren. Die Kriegsgefangenenpost ist bereits der früheren Wehrmachtsauskunftsstelle in Berlin übergeben worden. Die Karteikarten liegen seit den 90er-Jahren im Lastenausgleichsarchiv in Bayreuth. Die Digitalisate, die auch die Fortschreibungen seit den 90er-Jahren enthalten, liegen dem Bundesarchiv vor. Die in der Papierform noch vorliegenden Suchdienstunterlagen gehen aller Voraussicht nach ebenfalls an das Bundesarchiv.
Am Ende einer siebzigjährigen Suchdiensttätigkeit kann festgehalten werden: Der Kirchliche Suchdienst hat sich für viele Menschen bei der Suche nach Angehörigen und Nachweispapieren verdient gemacht und wird in der Geschichte von Caritas und Diakonie einen wesentlichen Platz einnehmen.
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