Jung, benachteiligt und mit 18 schon draußen
Der Übergang in die Selbstständigkeit des Erwachsenenlebens ist für manche Jugendliche mit einer Reihe von Exklusionsrisiken behaftet. Im Rahmen einer von der Vodafone Stiftung in Auftrag gegebenen Studie des Deutschen Jugendinstituts wurden die dabei drohenden Entkopplungsprozesse bei Jugendlichen aus drei deutschen Großstädten (Hamburg, Köln, Leipzig) untersucht.
Jugendliche ohne Chancen?
Die Jugendphase ist eine Zeit des Übergangs, die mit zahlreichen Anforderungen verbunden ist. Um diese Statuswechsel, besonders den Übergang von der Schule in die Arbeitswelt, bewältigen zu können, brauchen junge Menschen entsprechende Ressourcen. Sind diese nicht vorhanden, können sie beispielsweise nicht auf die Unterstützung durch das Elternhaus zurückgreifen, drohen Entkopplungsprozesse oder soziale Ausgrenzung. So lässt sich eine Gruppe von Jugendlichen identifizieren, die zum einen aus institutionellen Bezügen wie Schule oder Ausbildung, zum anderen aber auch aus sozialen Beziehungsnetzen und Hilfeeinrichtungen herausfallen. Sie werden auch als "disconnected youth" bezeichnet.1 Neben der fehlenden institutionellen Anbindung treten weitere Faktoren hinzu, die diese Entkopplung ausmachen wie beispielsweise gesundheitliche Beeinträchtigungen, Teenager-Schwangerschaften, Drogenkonsum oder Gewalterfahrungen. Auch lassen sich vielfach schwierige Beziehungen zur Herkunftsfamilie beobachten.
Eine besonders sensible Phase in der Biografie junger Menschen mit Entkopplungserfahrungen stellt der Übergang in die Volljährigkeit dar. Jugendliche, die bereits in Einrichtungen der Jugendhilfe betreut wurden, fallen mit dem Übertritt in die Volljährigkeit oftmals aus derartigen Angeboten heraus. Sie müssen sich nun allein den Zugang zu entsprechenden Maßnahmen verschaffen, sind aber häufig nicht in der Lage dazu. Diese Jugendlichen standen im Zentrum der genannten Studie, die das Deutsche Jugendinstitut in der Zeitspanne von Juni 2014 bis Juni 2015 durchgeführt hat. Dabei wurden neben betroffenen Jugendlichen auch (sozial-) pädagogische Fachkräfte sowie Mitarbeiter(innen) aus Ämtern (zum Beispiel Jugendamt) oder Jobcentern befragt.2 Fokussiert wurde auf die Wahrnehmung der Exklusionserfahrungen der betroffenen Jugendlichen sowie die Nutzung und Beurteilung der Unterstützungsstrukturen.
Was berichten die Jugendlichen?
Aus den Berichten der befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen lassen sich gemeinsame Merkmale ausmachen, die typische Lebenslagen in der Herkunftsfamilie charakterisieren:
- Patchworkfamilien,
- Gewalterfahrungen, Verwahrlosung,
- Einkommensarmut, Überschuldung,
- niedrige Formalbildung,
- Suchtproblematik.
In vielen Fällen treten mehrere oder alle genannten Merkmale gemeinsam auf. Die oftmals problematischen Familienstrukturen und die daran gekoppelten Erfahrungen von Gewalt, emotionaler Vernachlässigung, Verwahrlosung und materieller Not können als biografischer Hintergrund eine "Erblast" für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen darstellen, die nicht nur im frühen Jugendalter, sondern gegebenenfalls auch im jungen Erwachsenenleben den Verselbstständigungsprozess erschweren.
Anhand der Aussagen von Jugendlichen in den Interviews wird vielfach die schwierige Situation in der Herkunftsfamilie deutlich, wie aus den folgenden Passagen hervorgeht:
"Seitdem ich nicht mehr zu Hause wohne, haben die die ganze Wohnung so umgestaltet, dass ich da nicht mehr rein kann! Also mein Bett ist weggeschmissen worden … Sofort! Mein Zimmer hat meine kleine Schwester bekommen (…) Meine Mutter hat gesagt: ‚Du kommst hier nicht mehr rein!‘" (Jugendliche weiblich, 17 Jahre)
"Ich bin mit 14 Jahren von zu Hause weg, mein Vater hat mich damals sexuell belästigt, ich hatte auch sehr starke Depressionen gehabt, wurde geschlagen, ich wurde regelrecht verprügelt. Bis ich mir irgendwann in der Schule von meiner Sozialarbeiterin Hilfe geholt hab (…) Da hat sie eben dem Jugendamt Bescheid gesagt; die haben mich dann von zu Hause weggenommen, bin dann ins Heim gekommen (…) Da gab’s Gerichtstermine, und meine Eltern haben das Sorgerecht erst mal entzogen bekommen (…) Diese ganze Zeit vom 14 bis zu meinem 18. Lebensjahr, das war für mich einfach die Hölle." (Junge Erwachsene weiblich, 20 Jahre)
Sie fühlen sich von den Behörden herumgeschubst
Die Fähigkeit dieser jungen Menschen zur Selbstreflexion ist häufig schwach ausgeprägt. Dies führt dazu, dass es den Jugendlichen und jungen Erwachsenen ohne professionelle Begleitung nur schwer möglich ist, negative Lebenserfahrungen aufzulösen und ihnen positive Ziele und konkrete Lebensplanungen entgegenzusetzen. Im Kontakt mit den zuständigen Behörden - insbesondere den Jugendämtern und Jobcentern - fühlen sich diese Jugendlichen unterlegen, an den Rand gedrängt, schikaniert, herumgeschubst und als "Fälle" behandelt, wie das folgende Zitat zeigt:
"Nur Probleme! Also jeder Mensch hatte über mich zu bestimmen, aber nur ich hatte kein Recht, irgendwie zu sagen: ,Nee, ich möchte nicht …‘, Jugendamt durfte was sagen, meine Heimleiter durften was sagen, dann durften die Polizei und das Gericht, … meine Eltern hatten auch noch über mich zu bestimmen, nur ich durfte nie sagen: ,Nee, ich möchte jetzt eure Entscheidung nicht, ich will mal einmal das machen …‘, weil ich durfte das einfach nicht! … Eigentlich müsste ich Jugendhilfe bekommen, hab ich, glaub ich, Recht bis zum 25. oder 24. Lebensjahr. Die haben gesagt: ,Nee. Wenn du dich gegen die Pflegefamilie entscheidest und dein Ding durchziehen willst, dann kriegst du nichts mehr.‘ Und ich hab ja gar keine Ahnung von diesen Rechten!" (Junge Erwachsene weiblich, 20 Jahre)
Bei einigen der Befragten sind bereits mit Anfang zwanzig Tendenzen zu erkennen, sich mit dem "Schicksal" als Verlierer abzufinden. Die Kombination von beschränkten finanziellen Mitteln, einer niedrigen Formalbildung sowie schwach entwickelten sogenannten Sekundärtugenden wie Disziplin, Zuverlässigkeit, Frustrationstoleranz kann bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit schlechten Startvoraussetzungen weitere Übergangswege erschweren, zum Beispiel in Ausbildung oder Beruf,
Wenn Handyrechnung und Miete nicht bezahlt sind ...
Vor dem Hintergrund der Überforderung mit der behördlichen Vorgehensweise und dem weiteren Befund, dass diese jungen Menschen auch bei der Entwicklung realistischer Lebensperspektiven vielfach auf Unterstützung von außen angewiesen sind, wird ihr Bedarf einer langfristigeren sozialpädagogischen individuellen Betreuung und Begleitung offenkundig. Wird diese nicht (mehr) gewährt oder war diese gar nicht erst vorhanden, erwiest sich die Entlassung in eine formalrechtliche Selbstständigkeit mit Beginn ihres 18. Lebensjahres oft als Scheideweg für den weiteren Entwicklungsverlauf. Oftmals tragen diese Jugendlichen konkrete Belastungen mit in die Volljährigkeit, wie es einer der Jugendlichen berichtet:
"Ich habe auch noch Handyrechnungen zu begleichen, das sind so Jugendsünden, und die laufen halt immer noch, und die muss man halt bezahlen, ansonsten droht man mit Gerichtsvollzieher oder sonst was." (Jugendlicher männlich, 19 Jahre)
Geprägt durch ihre Erfahrungen mit Bevormundung, Reglementierung und Sanktionierung in der Herkunftsfamilie und später zumeist auch in der stationären Unterbringung, führt die dabei vernachlässigte Befähigung zur selbstständigen Lebensführung zunächst in das "befreite" Leben im eigenen Wohnraum, später jedoch oftmals in das erneute Scheitern:
"Na meine jetzige Lebenslage ist halt, also eine Wohnung hab ich jetzt endlich, bekomme auch Hartz IV … weil das war halt auch nicht so einfach wegen Drogen und so … Aber ich hab halt immer noch Schulden; aber zum Glück keine Mietschulden mehr. Die hab ich jetzt endlich abbezahlt. Das ist jetzt nicht mehr, weil wenn man Mietschulden hat, dann bekommt man hier ... keine Wohnung. Also man muss da so einen Vormieter-Vertrag geben, und also hat man einmal Scheiße gebaut und ist rausgeflogen aus seiner Wohnung und hat Mietschulden, dann bekommt man auch keine mehr ... das war also erst mal ziemlich lange ein Problem." (Junger Erwachsener männlich, 25 Jahre)
Anforderungen für Praxis und Politik
Zusammenfassend lassen sich bei den Jugendlichen sowohl positive als auch negative Erfahrungen ausmachen, die sie mit Hilfeeinrichtungen unterschiedlicher Art gemacht haben. Dabei werden die unmittelbaren und individuellen Hilfestellungen, zum Beispiel durch niedrigschwellige Angebote der Jugendhilfe, eher positiv eingeschätzt. Die Erfahrungen mit Ämtern und Behörden werden in mehreren Fällen eher negativ wahrgenommen (s. Tab. unten).
Aus den Berichten der befragten Jugendlichen lassen sich Hinweise für die Ausgestaltung von Hilfestrukturen und Jugendhilfepolitik ableiten. Drei zentrale Anforderungskomplexe werden folgend herausgegriffen.
In einem ersten Schritt geht es um die verbesserte präventive Erkennung von Risikolagen. Dafür sollte das Thema für Erzieher(innen), Lehr- und Fachkräfte (zum Beispiel Kita, Schule, Jobcenter) viel stärker als bislang als Bestandteil ihrer Ausbildung und als verbindliche Fortbildungen oder Schulungen verankert werden. Daneben ist es notwendig, Schulsozialarbeit
als integralen Bestandteil des Bildungs- und Erziehungsauftrages von Schulen mit
angemessener Ressourcenausstattung zu realisieren. Außerdem brauchen Schulen direkte Ansprechpartner(innen) beim Jugendamt, wenn sie Fragen zu problematischen Jugendlichen haben.
Ein zweiter Aspekt ist, erweiterte Angebote für die betroffene Gruppe zu schaffen. Zwischen niedrigschwelliger Notversorgung und dem Case-Management der SGB-II-Institutionen bedarf es einer vermittelnden institutionalisierten Angebotsebene mit einem Schwerpunkt auf Begleitung. Auch bei schwierigen Rahmenbedingungen ist es wichtig, einen unverzüglichen Zugang zu Wohnraum zu schaffen (zum Beispiel über Kontingente). Zugleich muss die Finanzierung einer Begleitung in den eigenen Wohnraum gesichert sein. Dem Wissen folgend, dass es für entkoppelte Jugendliche besonders wichtig ist, verlässliche Ansprech- und Bezugspartner für die Gestaltung ihres Lebensalltags zu haben, kommt der Verstetigung erfolgreicher Angebote eine besondere Bedeutung zu.
Neben den aufgeführten unmittelbaren Anforderungen sind einige perspektivische Anforderungen zu nennen. Hierbei hat sich aus den Interviews mit den Expertinnen und Experten aus Praxis und Politik eine Reihe von Aspekten herauskristallisiert, welche die Rechtskreisproblematik in den Blick nehmen (s. Abb. oben).
Zum einen wird eine bessere Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Zuständigkeiten gefordert. Eine Möglichkeit, die von den Expertinnen und Experten genannt wurde, ist die Einrichtung von Jugendberufsagenturen. Zum anderen wird angemahnt, dass der § 41 SGB VIII (also die Hilfe für junge Volljährige) konsequent auch für diejenigen jungen Volljährigen angewendet werden sollte, die zuvor noch keine Leistungen der Jugendhilfe erhalten haben.
Scheitern kann institutionell mitverursacht sein
Im Rahmen der Studie ist deutlich geworden, dass sich Jugendliche aus problembelasteten Herkunftsfamilien mit institutionellen Autonomieerwartungen konfrontiert sehen, die sie aufgrund ihrer zurückliegenden Erfahrungen vielfach nicht erfüllen können.3 Gleichzeitig müssen sie im Umgang mit institutionellen Akteuren zunächst personale Ressourcen aufbringen, um überhaupt Ressourcen des Hilfesystems in Anspruch nehmen zu können. Das Erreichen der Volljährigkeit muss bei einem entkoppelten Jugendlichen als ein "neuralgischer Punkt" im Verselbstständigungsprozess betrachtet werden, an dem ein Scheitern institutionell mitverursacht wird. Darüber hinaus wurde offenbar, dass die schwierigen Bedingungen des Aufwachsens vieler Jugendlicher in problembelasteten Herkunftsfamilien häufig vom Hilfesystem nicht erkannt werden und dringend gebotene Interventionen somit vielfach ausbleiben.
Anmerkungen
1. Hair, E. B. et al.: Youth who are "disconnected" and those who then reconnect: Assessing the influence of family, programs, peers and communities. In: Research Brief, 2009-37.
2. Zum Design der Studie: Mögling, T.; Tillmann, F.; Reißig, B.: Entkoppelt vom System. Jugendliche am Übergang ins junge Erwachsenenalter und Herausforderungen für Jugendhilfestrukturen. Düsseldorf: Vodafone Stiftung Deutschland, 2015.
3. Vgl. Fischer, J.; Lutz, R.: Herausforderungen und Orientierungen in einer ambivalenten Moderne. In: Fischer, J.; Lutz, R. (Hrsg.): Jugend im Blick. Weinheim/Basel: Beltz/Juventa, 2015, S. 312-322.
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