Die „Heimkinderzeit“ war rigide und gewaltgeprägt
Kinder und Jugendliche, die in den Nachkriegsjahren in Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie untergebracht waren, erlebten im Rahmen ihrer Heimzeit genauso Gewalt, Missbrauch und Leid wie Kinder und Jugendliche, die in Einrichtungen der Erziehungshilfe lebten. Im Vergleich mit letzterem Personenkreis, der sowohl medial als auch im Fachdiskurs in den letzten Jahren zunehmend die notwendige Beachtung erlangte, erfuhren die heute erwachsenen Missbrauchsopfer mit Behinderung sehr viel weniger Aufmerksamkeit. Als ein Grund dafür kann die Randstellung von Menschen mit Behinderung, sowohl im damaligen Zeitraum als auch im aktuellen Diskurs, genannt werden. In den 50er- und 60er-Jahren hatte sich der Staat hinsichtlich der notwendigen Versorgungsaufgaben im Feld der Behindertenhilfe wenig aktiv gezeigt, während konfessionelle Verbände zu 95 Prozent die Versorgung übernahmen. Dabei hatte die Caritas im Vergleich zum evangelischen Verband der Heilerziehungs-, Heil- und Pflegeanstalten weniger Plätze und Einrichtungen vorzuweisen.1
Im Juni 2013, zum Zeitpunkt der Auftragsvergabe seitens des Fachverbands CBP2 an das IAF3 für eine Studie unter meiner externen Leitung, war der Informationsstand zur Situation von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen der katholischen Behindertenhilfe im zu untersuchenden Zeitraum 1949 bis 1975 rudimentär. Deutlich wurde dies unter anderem daran, dass bis dahin weder aufbereitete Einrichtungs- oder Platzzahlen im Untersuchungszeitraum vorlagen noch Untersuchungen über einrichtungsbezogene Mikrostudien und Erfahrungsberichte hinaus. Für den Bereich der katholischen Einrichtungen, die heute CBP-Mitglieder sind, liegt nun mit der im November 2015 abgeschlossenen Studie4 eine ausführliche Darstellung vor. Hervorzuheben sind dabei zum einen die breite Datenbasis qualitativ und quantitativ erhobener Daten und zum anderen die klare Ausrichtung an der Perspektive der damaligen Kinder und Jugendlichen in den Einrichtungen der Behindertenhilfe. In zwei einander ergänzenden und aufeinander aufbauenden Studienteilen kommen sie selbst zu Wort, ihre Aussagen werden systematisch erfasst und ausgewertet. Dies ist das Herzstück der Studie.
Interviews mit Zeitzeugen geben detaillierte Einblicke
Der erste Studienteil rekonstruiert subjektive Alltags- und Gewalterfahrungen. Hierzu wurden 45 Personen in 36 Interviews befragt, und es finden sich Erzählungen zu zwanzig Einrichtungen.
Der zweite Studienteil gibt Aufschluss darüber, wie häufig ein einzelfall-übergreifendes Phänomen auftritt. Da die erforderlichen Statistiken nur mit großen Ungenauigkeiten erstellt werden können, beschränken sich die quantitativen Aussagen auf Personen, die damals in einer katholischen Einrichtung lebten und heute in einer Caritas-Einrichtung wohnen.
Insgesamt nahmen 339 Personen an der standardisierten, persönlich-mündlich durchgeführten Fragebogenerhebung teil. Eine notwendige Einordnung in den gesellschaftlichen Bedingungskontext der damaligen Zeit wird zum einen durch eine von Uwe Kaminsky geleistete historische Vorstudie zur katholischen Behindertenhilfe, ihrer Struktur, Geschichte und Entwicklung vorgenommen. Zum anderen geschieht sie durch die Berücksichtigung gesetzlicher Normen in ihrem historischen Wandel - ohne hierbei in der Analyse die subjektive Betroffenheit als absolutes Maß zu verlieren. Neben der ausführlichen Darstellung der Ergebnisse bietet die Studie "Heimkinderzeit" Hinweise zum Vorgehen bei der Befragung von Menschen mit Kommunikationseinschränkungen, die angesichts der erfragten Erinnerungen an subjektiv erfahrenes Belastungserleben zu beachten sind.
Im Folgenden werden ausgewählte Studienergebnisse zu institutionellen Rahmenbedingungen, zum Alltagsgeschehen, zu Netzwerken und zu Gewaltvorkommen kurz zusammengefasst. Die quantifizierten Angaben in Prozent beziehen sich dabei immer auf die einrichtungsspezifische Grundgesamtheit der insgesamt 40 teilnehmenden Einrichtungen. Hochrechnungen sind nicht zulässig.
Das durchschnittliche Alter beim Eintritt in eine Einrichtung der katholischen Behindertenhilfe lag bei neun Jahren, über 40 Prozent der Befragten waren bei der Aufnahme im Grundschulalter. Für viele Kinder war die fehlende Bildungsmöglichkeit in den regulären Schulen der Grund, in eine Heimsonderschule und, damals oft damit einhergehend, in die Einrichtung selbst aufgenommen zu werden. Eine vergleichsweise hohe Zahl an Menschen ist aufgrund eigener Aussagen nicht aufgrund einer Behinderung als Kind in eine Einrichtung der Behindertenhilfe gekommen (zehn Prozent) beziehungsweise äußert, den Grund für die Aufnahme in die Einrichtung nicht zu kennen (23 Prozent). Die damalige Diagnosestellung basierte oftmals auf der Ebene von Vermutungen und auf der Basis von Verhaltensauffälligkeiten. Zum Teil reichte es bereits aus, Waisenkind zu sein oder nach damaligen Maßstäben sozial auffällige Eltern zu haben.
Kinder mussten Mitarbeitermangel ausgleichen
Der Alltag in den Einrichtungen war geprägt von Ordnung, Regeln und festen Abläufen. Es wird oft von Putzdiensten, engen Zeitplänen, schwerer Arbeit und Mittagsschlaf im Sitzen am Esstisch oder von geordneten Spaziergängen Hand in Hand berichtet. Religiöse Rituale wie tägliche Kirchgänge, Andachten und Gebete von den frühen Morgenstunden an strukturierten die Tagesabläufe zusätzlich.
Viele der Kinder gaben an, anderen Mitbewohner(inne)n im Alltag geholfen zu haben. Mit 54 Prozent der Teilnehmerinnen und 40 Prozent der Teilnehmer an der Befragung berichten signifikant mehr Frauen davon, damals anderen Kindern geholfen zu haben. Diese Unterstützung bestand aus Hilfen beim Essen, bei der Betreuung, der Körperpflege und der Fortbewegung. In den qualitativen Interviews finden sich Beispiele, wie vor allem Mädchen hochverantwortlich die Versorgung jüngerer Kinder übernehmen mussten. Berücksichtigt man die Gruppengröße und die Mitarbeiterbesetzung, wird deutlich, dass einige der Kinder und Jugendlichen in den Gruppen als Unterstützung gebraucht wurden. Durchschnittlich wird von zwei Mitarbeiter(inne)n - Ordensangehörigen, Erzieher(inne)n, sonstigen - pro Gruppe berichtet; 73 Prozent der Befragten erzählen, dass im Untersuchungszeitraum Ordensschwestern in den Einrichtungen arbeiteten und in der Regel auch die Gruppen leiteten. Die Ordensangehörigen mussten ihre Tätigkeiten überwiegend ohne Ausbildung leisten. Rund die Hälfte der Befragten berichtet, dass sie mit 15 bis 30 Kindern beziehungsweise Jugendlichen in einer Gruppe waren. Jede(r) Vierte nennt mehr als 30 Gruppenmitglieder.
Sieben von zehn Kindern erfuhren physische Gewalt
Hinsichtlich des Gewaltvorkommens berichten 70 Prozent der Befragten von erlebter physischer Gewalt. Hierzu gehören Schläge, Tritte, Kniffe; die Kinder wurden eingesperrt, mit Gegenständen verletzt oder über den Boden geschleift und gewaltsam am Schreien gehindert. In erster Linie (80 Prozent der Nennungen) waren es Mitarbeitende der eigenen Einrichtung, die die physische Gewalt ausübten. Die von den damaligen Kindern und Jugendlichen beschriebenen Gewaltanwendungen waren oft gewohnheitsmäßig, roh und unbeherrscht und gingen über das damals erlaubte und übliche Maß weit hinaus.
Über das Erleben von sexualisierter Gewalt berichten 30 Prozent und von psychischer Gewalt 60 Prozent der Befragten. In Bezug auf die Nennungen zu sexualisierter Gewalt sollte die Besonderheit des Themas Sexualität als Tabuthema generell und im katholischen Kontext im Speziellen berücksichtigt werden: Kontakte zwischen Jungen und Mädchen waren strikt verboten, 61 Prozent der befragten Studienteilnehmer(innen) gaben an, dass sie damals nicht über die Unterschiede von Männern und Frauen aufgeklärt wurden, wobei Frauen signifikant weniger Aufklärung erfahren haben als Männer. Aus ihrer Unwissenheit in Bezug auf Sexualität ergab sich auch, dass Handlungen, die sexuell oder sexualisiert waren, von den Kindern und Jugendlichen auch nicht als Gefahr eingeordnet werden konnten.
Seelische Narben bleiben
Die überwiegende Mehrheit der Befragten ist nach eigenen Aussagen mit ihrer heutigen Lebenssituation zufrieden. Die Unrechtserfahrungen in ihrer Kindheit sind jedoch inkorporiert, sie sind "Leib gewordene Geschichte" (Bourdieu). Die damaligen Geschehnisse haben den Rahmen mit gesteckt, in dem sich Menschen entwickeln konnten. Hierzu gehört neben den institutionellen Rahmenbedingungen, Alltagserfahrungen und geschilderten Gewaltvorkommnissen auch die Erfahrung ständiger Entwertung als Kind mit Behinderung: "Was will der überhaupt, hieß es dann, kann doch froh sein, dass er hier gut untergebracht ist."5
Um eine fundierte Hilfe für ähnliche künftige Untersuchungen zu bieten, werden die in der Studie verwendeten Instrumente in Gänze zur Verfügung gestellt. Eine Zusammenfassung der Studie in Leichter Sprache ist als eigene Veröffentlichung erhältlich.6
Anmerkungen
1. Siebert, A.; Arnold, L.; Kramer, M. et al.: Heimkinderzeit. Eine Studie zur Situation von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen der katholischen Behindertenhilfe in Westdeutschland (1949-1975). Freiburg: Lambertus, Juni 2016, S. 216.
2. CBP: Bundesverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V., www.cbp.caritas.de
3. IAF: Institut für Angewandte Forschung, Entwicklung und Weiterbildung an der Katholischen Hochschule in Freiburg.
4. Siebert, A.; Arnold, L. et al.: a.a.O., bestellbar unter www.lambertus.de (Suchwort: Heimkinderzeit).
5. Siebert, A.; Arnold, L. et al.: a.a.O., S. 223 (Interview-Protokoll 24).
6. Unter der ISBN 978-3-7841-2900-6.
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