Das Insolvenzverfahren kann ein Segen sein
"Ein klarer Schnitt, eine saubere Insolvenz und eine Übernahme durch einen leistungsfähigen Träger", so kommentierte Peter Schellhaas, Landrat im Landkreis Darmstadt-Dieburg, den Trägerwechsel der Behindertenhilfe Dieburg. Seit 1. Oktober 2014 gehört sie zur Stiftung Nieder-Ramstädter Diakonie (NRD): Alle Angebote und Einrichtungen des Dieburger Trägervereins gingen zu diesem Datum an den diakonischen Träger NRD über. Der Fortbestand eines wichtigen regionalen Anbieters, insbesondere für Menschen mit Behinderung im Landkreis Darmstadt-Dieburg, ist damit gesichert. 370 Arbeitsplätze für Menschen mit und ohne Behinderung blieben erhalten.
Bevor es zu meiner Beauftragung als Interims-Vorstand für die Sanierung kam, hatte der Verein turbulente Zeiten hinter sich, die alle Gremien - Verwaltungsrat, Vorstand, Betriebsrat -, die Mitarbeiter(innen), die beschäftigten und betreuten Menschen sowie die Öffentlichkeit massiv verunsicherten.
Die Ansatzpunkte für die Sanierung waren rasch identifiziert: Steigerung der Belegung in den Werkstätten, Erhöhung der Produktionserlöse, Neuverhandlung der Entgeltsätze mit dem Landeswohlfahrtsverband und die Übernahme des Betriebskosten-Defizits der Kita durch die Stadt Dieburg. Zugleich war klar, dass die beiden erstgenannten Ziele Zeit brauchten, die angesichts der drohenden Zahlungsunfähigkeit nicht zur Verfügung stand. Die Hausbank der Behindertenhilfe Dieburg gewährte den Betriebsmittel-Kredit nicht, der zur Deckung der laufenden Kosten erforderlich war, bis die Sanierungseffekte greifen würden. Auch Verhandlungen mit dem Betriebsrat und der Gewerkschaft Verdi über einen Sanierungstarif (also Gehaltsabstriche) verliefen erfolglos. So blieb Ende November 2013 nur noch die Option, Insolvenz zu beantragen. Ein Beratungskontakt zu einem Insolvenzfachmann war vorsorglich bereits Monate zuvor geknüpft worden, um für den Fall der Insolvenz vorbereitet und handlungsfähig zu sein.
Unmittelbar vor dem Insolvenzantrag berief der Verwaltungsrat einen Rechtsanwalt als weiteres Vorstandsmitglied. Dessen Kompetenz - er hatte bereits mehrere Insolvenzverfahren im sozialwirtschaftlichen Bereich juristisch begleitet - ist es zu verdanken, dass das Amtsgericht Darmstadt ein Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung anordnete. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass ein Unternehmen eine positive Fortführungsprognose vorlegen kann. Der große Vorteil einer Insolvenz in Eigenverwaltung besteht darin, dass anstelle eines vom Gericht angeordneten Insolvenzverwalters die Geschäftsführung im Amt bleibt. Ergriffene Maßnahmen können kontinuierlich weiterverfolgt werden, und für die Belegschaft treten keine weiteren Verunsicherungen ein.
Auch ein als Sachwalter im Insolvenzverfahren präferierter weiterer Rechtsanwalt wurde vom Gericht akzeptiert und seine Einsetzung angeordnet. Dank seiner Unterstützung und dank eines überaus konstruktiven und engagierten Gläubigerausschusses kam eine sehr produktive Zusammenarbeit aller Beteiligten zustande. Das erste von der Agentur für Arbeit finanzierte Insolvenzgeld - Gehälter für die Mitarbeitenden, die üblicherweise erst mit rund dreimonatiger Verzögerung eintreffen - konnte durch ein Darlehen vorfinanziert werden, so dass das Novembergehalt sogar inklusive Jahressonderzahlung bereits Anfang Dezember 2013 ausgezahlt werden konnte.
Erste Erfolge: mehr Umsatz in den Werkstätten
Zur Motivation der Mitarbeitenden war es wichtig, eine Vielzahl an Einzelgesprächen sowie kleingliedrige Personalversammlungen durchzuführen. Um neue Aufträge für die Werkstätten zu generieren, bot die regelmäßige Teilnahme am Dieburger Unternehmertreff eine wichtige Gelegenheit zum Knüpfen oder Vertiefen wertvoller Firmenkontakte.
Die 25 nicht belegten Werkstattplätze bedeuteten 250.000 Euro Mindereinnahmen im Jahr. Um die Auslastung zu steigern, wurde der Kontakt zu umliegenden Förderschulen intensiviert. Schulungen wurden organisiert, um den Hilfebedarf der Werkstatt-Beschäftigten besser einschätzen zu können. Denn davon hängt die Höhe der jeweiligen Vergütungssätze ab, die der Kostenträger für die betreuten Werkstatt-Beschäftigten zahlt. Ein weiteres Schulungsangebot vermittelte, wie sich geeignete Wege zur Belegungssteigerung erkennen lassen. Neue Auftraggeber für die Werkstätten konnten unter den Firmen im Gewerbegebiet Dieburg und in der näheren Umgebung gewonnen werden. Das Ergebnis ließ sich sehen: Noch im Jahr 2013 wurden die Produktionserlöse der Werkstätten um 100.000 Euro gegenüber dem Vorjahr gesteigert.
Vom Krisenunternehmen zum Übernahmekandidaten
Dass letztlich etwa zehn Bewerber Interesse zeigten, die Behindertenhilfe Dieburg zu übernehmen, darf als Ausdruck dafür gelten, dass positive Veränderungen auch von den Wettbewerbern wahrgenommen wurden. Es war erkennbar, dass trotz Krise und Insolvenz in Dieburg ein Entwicklungspotenzial vorhanden ist, das erste Früchte trug. Der Gläubigerausschuss entschied sich nach eingehenden Verhandlungen, die Behindertenhilfe Dieburg im Rahmen eines Asset-Deals1 an die Stiftung NRD zu verkaufen, einen regional altbekannten, erfolgreichen und fortschrittlichen Träger der Behindertenhilfe in Südhessen. Die NRD treibt die selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung am Leben der Gesellschaft voran.
Der Wechsel zum diakonischen Träger machte für die Mitarbeitenden auch den Übertritt von der kommunalen Zusatzversorgungskasse (ZVK) zur Evangelischen Zusatzversorgungskasse (EZVK) erforderlich. Hier erwies sich der Insolvenzstatus der Behindertenhilfe Dieburg als segensreich, denn ein Verkauf wäre sicher nicht zustande gekommen, wenn der neue Träger die von der ZVK geforderte "Ablösesumme" in Millionenhöhe hätte übernehmen müssen. So aber konnte die Forderung der ZVK im Rahmen des Insolvenzverfahrens zur Aufnahme in die Insolvenztabelle verwiesen werden, die die Forderungen aller Gläubiger enthält und alle einheitlich mit der gleichen Quote befriedigt werden. Die Forderung der ZVK stellt für den neuen Träger, mit dem auch umfangreiche Investitionsmaßnahmen verhandelt wurden, somit keine zusätzliche Belastung dar.
Die Bilanz am Ende des Prozesses ist gut: Alle Arbeitsplätze und Angebote konnten erhalten werden. Die im November 2013 mit 24 Plätzen neu eröffnete Tagesförderstätte für schwer- und mehrfachbehinderte Menschen war rasch voll belegt. Auch im Wohnheim und in den Außenwohngruppen sind alle Plätze belegt. Im ambulant unterstützten Wohnen werden aktuell 28 Klienten betreut, zuletzt kam eine neue Wohngemeinschaft mit fünf Plätzen hinzu. In der inklusiven Kita wurde im Frühjahr 2013 eine weitere Gruppe installiert. Die Verhandlungen mit der Stadt Dieburg waren erfolgreich: Die Kommune übernimmt rückwirkend ab 2013 das Defizit der Kita, die 45 Kinder mit und ohne Behinderung betreut. Die Dieburger Werkstätten arbeiten mit den Mühltalwerkstätten der NRD eng zusammen. Für die 50 Beschäftigten mit psychischer Behinderung wird im Moment zur Weiterentwicklung dieses Angebots nach einer geeigneten Immobilie gesucht.
Fazit: Auch wenn die Beantragung des Insolvenzverfahrens ursprünglich nicht das Ziel war - sondern vielmehr die erfolgreiche Sanierung des Vereins -, hat es sich in diesem Fall als das richtige Instrument erwiesen. Denn nur so konnte es gelingen, die Angebote und Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung im Raum Dieburg langfristig zu sichern.
Anmerkung
1. Bei dieser Form des Unternehmenskaufs werden alle Wirtschaftsgüter (engl. Assets) sowie Verbindlichkeiten mit der erforderlichen Zustimmung des jeweiligen Vertragspartners einzeln an den Erwerber transferiert, so dass bestimmte Assets ausgewählt werden können.
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