Soziale Stadtentwicklung braucht mehr als kurzlebige Projekte
2014 kann ein gutes Jahr für die soziale Stadtentwicklung sein. Eine neue Periode der EU-Strukturförderung beginnt und die Bundesregierung hat die Erweiterung des Programms "Soziale Stadt" beschlossen. Diese Gelegenheiten gilt es nun mit Bedacht zu nutzen: Projektförderung kann zwar wichtige Entwicklungsimpulse setzen. Aber sie löst keine strukturellen Probleme.
Sozialer Zusammenhalt ist keine Selbstverständlichkeit
Die soziale Polarisierung ist in den vergangenen Jahren in Deutschland gewachsen. Sie zeigt sich besonders pointiert in den Städten.2 Zwischen 1998 und 2009 hat sich der Anteil der Menschen, die über mehrere Jahre hinweg in Armut leben, der sogenannten "verfestigten Armut", nahezu verdoppelt.3 Die Armutsquoten sind in den Städten höher als im Rest der Landes.4 Das trifft auch für Arbeitslosigkeit und Langzeitarbeitslosigkeit zu. In den Städten finden sich zudem überdurchschnittlich hohe Anteile an prekären Beschäftigungsverhältnissen5. Hohe Wohnkosten sind in den Ballungsräumen gerade für Geringverdienende eine (im Verhältnis zum verfügbaren Einkommen) überproportional große Belastung.6
Einkommenspolarisierung und Arbeitslosigkeit manifestieren sich in den Städten als zunehmende Segregation - die Abstände zwischen armen und reichen Stadtteilen werden größer. Die residentielle Segregation ist dabei in erster Linie ein ökonomisches Phänomen. Erschwinglicher Wohnraum ist auf wenige, oft periphere Lagen konzentriert. Ein großes Problem vielerorts sind auslaufende Mietbindungen und fehlender sozialer Wohnungsbau. Familien- und Kinderarmut nimmt tendenziell vor allem am Stadtrand zu sowie in den Quartieren, wo sie schon hoch war; sie nimmt dort ab, wo sie bislang schon gering war.7 Strohmeier8 spricht sogar von "zwei Kindheiten". Ein Effekt der Segregation ist, dass Begegnungen zwischen räumlich voneinander getrennt lebenden sozialen Gruppen im Alltag seltener stattfinden und sich dabei die Erlebnis- und Erfahrungswelten einschränken - man geht sich (die einen absichtlich, die anderen gezwungenermaßen) aus dem Weg.
Viele Großstädte sind überdies wieder zu Orten geworden, in denen sich Unmut über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse regt. Gegenstand der Proteste sind Sparmaßnahmen und Kürzungen in den Sozialhaushalten, Gentrifizierung und Wohnungsnot sowie überdimensionierte Großprojekte. Die Proteste richten sich in ihrer Vielfalt nicht nur gegen Entscheidungen, sondern auch gegen den Modus der Entscheidungsfindung. Sie stellen die Legitimität der politischen Prozesse infrage.
Soziale Förderprogramme und ihre Nebenwirkungen
Die Kommunen sind der Daseinsvorsorge im umfassenden Sinne verpflichtet. Hierzu gehören die Gewährleistung existenzieller Güter und Leistungen für die Allgemeinheit, Fürsorgeleistungen in Notlagen (Sozialpolitik im engeren Sinne) und schließlich Angebote, die das soziale Zusammenleben fördern. Die Erbringung sozialer Leistungen erfährt dabei seit Jahren in mehrerer Hinsicht einen grundlegenden Wandel: In der allgemeinen Daseinsvorsorge hat es einen Boom der Privatisierung und des Rückzugs (zum Beispiel aus dem sozialen Wohnungsbau, öffentlichen Schwimmbädern und Bibliotheken) gegeben. Die Folge sind drastische Preissteigerungen auf dem Wohnungsmarkt, im öffentlichen Nahverkehr, bei Kultur und Freizeiteinrichtungen. Zwar gibt es Rabatt- und Gutscheinsysteme für Bedürftige. Sie können jedoch die Selbstverständlichkeit der kostengünstigen Nutzung für alle nicht kompensieren. Stattdessen generieren sie bürokratischen Aufwand und damit neue Trennlinien und bergen das Risiko der Stigmatisierung.
Die soziale Infrastruktur entwickelt sich indes aber auch beständig weiter, so etwa durch den Ausbau der Kitaplätze. Das ist grundsätzlich zu begrüßen. Die so generierten (und nicht durch Bundes-/Landesförderung kompensierten) Kosten müssen jedoch an anderer Stelle eingespart werden - nämlich bei den freiwilligen Leistungen, auf die kein individueller Rechtsanspruch besteht. Daher kann es zugleich zur Ausdünnung einiger Bereiche der sozialen Infrastruktur kommen, etwa in der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Fürsorgeleistungen sind überdies zunehmend an Vorbedingungen gekoppelt. Sanktionen bei Nichterfüllung der Auflagen können die sowieso schon belastenden Lebenslagen noch verschärfen, zu Überschuldung oder dem Verlust der Wohnung führen.
Von attraktiven Spielplätzen und Stadtteillotsen
Neben die Daseinsvorsorge ist die soziale Stadtentwicklungspolitik getreten. Eine Reihe von Förderprogrammen zielt darauf ab, benachteiligte Quartiere lebenswerter zu gestalten, so dass sie für ihre Bewohnerinnen und Bewohner keine zusätzliche Belastung darstellen. Diese Programme sind explizit mehrdimensional und partizipationsorientiert. Sie finanzieren eine Vielzahl von Projekten, die entweder von Bewohnerinnen und Bewohnern selbst durchgeführt werden oder mit diesen geplant wurden. In vielen Stadtteilen haben sie das Wohnumfeld und soziale Einrichtungen deutlich verbessert und die Lebensqualität erhöht. Die Palette reicht vom attraktiven Spielplatz bis zum barrierefreien Nachbarschaftstreff, von interkulturellen Veranstaltungen bis zu Stadtteillotsen.9
Diese Programme sind für Kommunen attraktiv, da rasch sichtbare Erfolge eintreten, und dies auch, weil Länder, Bund und in Teilen auch die Europäische Kommission Mittel beisteuern. Allerdings führen verschiedene strukturelle und fördertechnische Faktoren dazu, dass die Maßnahmen grundsätzlich nicht dauerhaft angelegt sein können. Sie sind vielmehr "dauerhaft prekär" - werden von Jahr zu Jahr verlängert, vielleicht von einem Förderprogramm in ein anderes umgetopft. Aber man kann sich oft nicht sicher sein, ob sie verstetigt werden. Das gilt für die Bewohner(innen) und Nutzer(innen) ebenso wie für die auf befristeten Projektstellen arbeitenden Sozialarbeiter(innen) und Stadtplaner(innen). Es ist eine ständige Suche nach Innovation, die viele Ideen generiert, welche sich aber nie vom Druck befreien können, etwas Besonderes sein zu müssen. Innovation ist jedoch kein besonders verlässlicher Träger von Solidarität.
Es kann daher nicht überraschen, dass marginalisierte und artikulationsschwache Gruppen und ihre Themen, wenngleich Zielgruppen der Maßnahmen, in wichtigen Punkten der Umsetzung oft unterrepräsentiert sind. Zum einen greift hier die sogenannte "Effektivitätsfalle"10: Im Unterschied zur klassischen Gemeinwesenarbeit bleibt in der projektbasierten und investitionsorientierten Planung oft kaum Zeit, auf Einzelne einzugehen. Ein zweites Risiko liegt in der Simplifizierung von Sachverhalten. Im Quartier bestehende Probleme werden so gedeutet und zurechtgestutzt, dass sie sich projektförmig bearbeiten lassen, denn nur das kann gefördert werden. Strukturelle Fragen können dabei zwar sichtbar werden, ihre Thematisierung muss jedoch in andere Förder- und Politikzusammenhänge verwiesen werden.11
Die freie Wohlfahrtspflege nimmt im lokalen Wohlfahrtsgefüge verschiedene Rollen ein. Sie ist Dienstleisterin, wenn sie im Auftrag des Staates Aufgaben in der Sozialen Arbeit wahrnimmt. Sie ist dabei auch unternehmerisch tätig. Zugleich gestaltet sie in Selbstorganisation und nach eigenen Prinzipien den als "Dritten Sektor" bezeichneten gesellschaftlichen Raum, der sich neben Staat, Markt und Familie platziert sieht. Und schließlich ist sie Sprachrohr ihrer Mitglieder und Zielgruppen. Mit all diesen Funktionen ist sie als Partnerin in der sozialen Stadtentwicklung gefragt: Als Trägerin sozialer Einrichtungen kann sie ihren Beitrag leisten, indem sie den Aktionsradius auf das Umfeld ihrer Angebote ausweitet und im Sinne der Sozialraumorientierung in den Stadtteil hineinwirkt - und zwar von temporären Entwicklungspartnerschaften hin zu beständigen solidarischen Trägergemeinschaften. Das bedeutet auch: personelle Öffnung über konfessionelle Grenzen hinaus, zeitliche und inhaltliche Öffnung, so dass Räume und Ressourcen über ihren spezifischen Zweck entsprechend der Nachfrage flexibel genutzt werden können. Dabei kann es allerdings nicht darum gehen, in einer "Almosenökonomie"12 den Staat aus der Verantwortung zu nehmen oder seinen Rückzug zu kompensieren. Vielmehr sind die Sozialverbände auch lokal als Träger einer kritischen sozialpolitischen Öffentlichkeit gefragt - zum Beispiel über eine unabhängige Sozialberichterstattung13 oder durch Themensetzungen in lokalen Entwicklungskonzepten.
Ohne Wohlfahrtspflege keine verlässliche Infrastruktur
Stadtteilbezogene Förderprogramme, Modell- und Pilotvorhaben bieten der Wohlfahrtspflege sicherlich eine gute Gelegenheit, sich in die soziale Stadtentwicklung einzuklinken. Hier sind ja oft intersektorale Antrags- und Umsetzungspartnerschaften gefragt, die für die Projektdauer gefördert werden. Die Projekte können strategisch genutzt werden, um komplexe soziale Problemlagen sichtbar zu machen und zu bearbeiten. Die Herausforderungen liegen dann jedoch in der Verstetigung: Wer ist bereit, ein mit externen Mitteln angeschobenes Vorhaben langfristig zu tragen? Und aus welchem Budget? Wie lassen sich die neuen Ideen in Verband und Organisation einbinden? Zwar muss nicht alles immer nachhaltig sein. Aber schon der Respekt vor den Teilnehmenden mit ihrer Zeit und Energie verlangt nach Transparenz und Verlässlichkeit. Prioritäten müssen gesetzt und gegebenenfalls muss an anderer Stelle gespart werden. Das kann nur funktionieren, wenn in Organisation und Verband Verständnis und Legitimation geschaffen wurden - sowie interne Strukturen, die ein Engagement in Partnerschaften und Netzwerken ermöglichen. Die Initiative "Kirche findet Stadt" hat konzeptionell in diesem Sinne einiges in Bewegung gebracht, das sich nun in der Umsetzung zeigen und bewähren muss.
Anmerkungen
1. Dieser Beitrag greift einen Vortrag des Autors beim 3. Caritaskongress 2013 auf und führt die dort entwickelten Überlegungen fort.
2. Aehnelt, Reinhard: Trends und Ausmaß der Polarisierung in deutschen Städten. In: Hanesch, Walter (Hrsg.): Die Zukunft der "Sozialen Stadt". Wiesbaden: VS Verlag, 2011, S. 63-79. Grabka, Markus; Westermeier, Christian: Anhaltend hohe Vermögensungleichheit in Deutschland. DIW Wochenbericht 9/2014. Der Paritätische Gesamtverband: Zwischen Wohlstand und Verarmung - Deutschland vor der Zerreißprobe. Bericht zur regionalen Armutsentwicklung in Deutschland 2013. Berlin, 2013.
3. DGB: Soziale Schere klafft weiter auseinander: Zum neuen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. In: arbeitsmarkt aktuell 8/2012.
4. Seils, Eric; Meyer, Daniel: Die Armut steigt und konzentriert sich in den Metropolen. In: WSI Report 8/Nov. 2012.
5. Herzog-Stein, Alexander: Leiharbeit nach Regionen im Jahr 2008 - Eine Auswertung der regionalen Datenbank "Atypische Beschäftigung" des WSI in der Hans-Böckler-Stiftung. WSI/Böckler-Stiftung, 2009.
6. Heyn, Timo; Braun, Reiner; Grade, Jan: Wohnungsangebot für arme Familien in Großstädten - eine bundesweite Analyse am Beispiel der 100 einwohnerstärksten Städte. Gütersloh: Bertelsmann, 2013.
7. Dohnke, Jan; Häußermann, Hartmut; Seidel-Schulze, Anke: Segregation, Konzentration, Polarisierung - sozialräumliche Entwicklung in deutschen Städten 2007-2009. In: Difu-Impulse 4/2012. Prigge, Rolf; Böhme, René: Soziale Stadtpolitik in Dortmund, Bremen und Nürnberg. Bremen: Kellner Verlag, 2013.
8. Strohmeier, Peter: Demographischer Wandel und soziale Segregation. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Demographie konkret - Soziale Segregation in deutschen Großstädten. Gütersloh, 2008.
9. Siehe unter anderem: Bundestransferstelle Soziale Stadt: Soziale Stadt - Investitionen im Quartier. Gute Beispiele aus der Praxis vor Ort. Berlin, 2013.
10. Munsch, Chantal: Die Effektivitätsfalle. Bürgerschaftliches Engagement und Gemeinwesenarbeit zwischen Ergebnisorientierung und Lebensbewältigung. Hohengehren: Schneider Verlag, 2005.
11. Fritsche, Miriam; Güntner, Simon: Partizipation ohne Teilhabe? Fallstricke der Beteiligungsarbeit in der Umsetzung von Förderprogrammen in der Quartiersentwicklung. In: Standpunkt Sozial 1+2/2012, S. 58-67.
12. Grönemeyer, Axel; Kessl, Fabian: Die "neue Almosenökonomie" - ein neues System der Armutshilfe? In: Böllert, Karin et al. (Hrsg): Soziale Arbeit in der Krise, Wiesbaden: VS Verlag, 2013, S. 17-34.
13. Im jüngsten Hamburger Sozialbericht hat die Arbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtspflege einen eigenen Berichtsteil übernommen. Vgl.: Freie und Hansestadt Hamburg: Sozialbericht der Freien und Hansestadt Hamburg. Hamburg, 2014.
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