Schutz für die Kinder – neue Chancen für Familien
Wenn Eltern - aus welchen Gründen auch immer - ihrer Rolle nicht gerecht werden können, kommen Kinder in eine dramatische Situation, die nach Klärung und Bearbeitung verlangt. In dieser schwierigen Lage hilft in Rheine die Stationäre Familienarbeit (SFA): ein differenziertes systemisches Angebot der Kinder- und Jugendhilfe für psychosozial hoch belastete Familien, in denen die elterliche Erziehungsfähigkeit grundsätzlich infrage steht.
Im Auftrag des Kindeswohls
Eltern1 werden mit ihren Kindern als Teil- oder Gesamtfamilie für einen Zeitraum von bis zu einem Jahr stationär aufgenommen. In der Regel war zuvor im häuslichen Umfeld das Kindeswohl latent oder akut gefährdet.
In akuten Gefährdungssituationen erhält die SFA den Auftrag, Kinder im Zusammenleben mit ihren Eltern zu schützen und ein Mindestmaß an förderlichen Entwicklungsbedingungen zu gewährleisten. Häufiger werden bei Aufnahme latente Gefährdungen beschrieben. Dann geht es darum, dass die Fachkräfte sich durch Intensivbetreuung der Familie ein präzises Bild von den tatsächlichen Problemen machen. In jedem Fall besteht die Kernaufgabe der SFA darin, verborgene Kräfte und Möglichkeiten von Eltern zu entdecken, mit Unterstützung und aus eigener Kraft Gefährdungen für die Kinder abzuwenden und ihnen ausreichend sichere und stabile Beziehungen anzubieten, in denen sie sich gesund entwickeln können.
Voraussetzung für eine Aufnahme ist, dass die Eltern einen Antrag auf Hilfen zur Erziehung gestellt und den Grundsätzen des Schutzkonzeptes der SFA zugestimmt haben. Gleichwohl wird die SFA von den meisten Eltern subjektiv als Zwangskontext erlebt, da ihnen das stationäre Angebot von Familienrichtern und/oder Jugendämtern als letztes Mittel der Wahl nahegelegt wurde, um einen drohenden Sorgerechtsentzug abzuwenden.
Bei den Eltern werden im Vorfeld als häufigste Problemlagen beschrieben:
- mangelnde emotionale Reife oder Minderjährigkeit;
- Verwahrlosung in der Haushalts- und Lebensführung;
- bestehende oder drohende Obdachlosigkeit;
- Substanzmissbrauch beziehungsweise Suchtverhalten;
- Selbstverletzung;
- häusliche Gewalt.
Bei vielen Eltern liegen psychiatrische Störungsbilder vor. Im Einzelfall gibt es bereits Diagnosen oder Verdachtsmomente.
Während die SFA seit ihrem Bestehen Eltern mit Intelligenzminderung, Alkohol- oder Drogenabhängigkeit, Impulskontrollstörungen oder einer depressiven Symptomatik betreut hat, werden in den letzten Jahren immer mehr Eltern aufgenommen, die an komplexen Traumafolgestörungen leiden.
Die meisten sind Mütter mit kleinen Kindern
In den meisten Fällen handelt es sich um alleinerziehende Mütter. Auch Väter werden aufgenommen, häufig aber auch durch ambulante Diagnostiken der Erziehungsfähigkeit indirekt an einer stationären Maßnahme beteiligt. Nicht selten trennen sich im Verlauf eines Hilfeprozesses Eltern nach instabilen Paarbeziehungen, so dass eine Neuorganisation der Elternebene erforderlich wird.
Bei der Mehrzahl der aufgenommenen Kinder handelt es sich um Säuglinge und Kleinkinder im Alter von null bis drei Jahren. Oft bestehen aufgrund von Frühgeburtlichkeit, ungeklärten körperlichen Verletzungen oder manifesten Schütteltraumata hohe Vorbelastungen, Anfälligkeiten und Risiken. Mehr oder weniger gravierende Entwicklungsrückstände und erhebliche Auffälligkeiten im Beziehungs- und Bindungsverhalten sind die Regel.
Vorschulkinder ab dem dritten Lebensjahr und ältere Kinder werden oft erst dann mit ihren Eltern aufgenommen, wenn jüngere Geschwister betroffen sind. Häufig haben sich bei ihnen bereits Entwicklungs-, Verhaltens- oder emotionale Störungen des Kinder- und Jugendalters manifestiert.
Die komplexen Aufnahmeanlässe machen eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit der sozial- und heilpädagogischen Fachkräfte der SFA mit niedergelassenen Fachärzten und -diensten erforderlich. Alkoholabhängige und suchterkrankte Menschen können in der SFA nur aufgenommen werden, wenn Therapien einer Maßnahme vorausgegangen sind oder diese begleiten.
Ein Schutz-, Klärungs- und Entwicklungsraum für alle
Der stationäre Rahmen in der SFA ist als Schutz-, Klärungs- und Entwicklungsraum für Eltern und Kinder angelegt und wird in der Konzeption der Einrichtung detailliert beschrieben.2
Ein sicherer Ort für Kinder und Eltern wird durch ein Schutzkonzept gewährleistet. Es liegt als Konzeption für die beteiligten Fachdienste und als gut verständliche, bebilderte Handreichung für Eltern vor, mit der im Alltag praktisch gearbeitet wird.3 In jeder Gefährdungssituation werden anhand dieser Vorlage entsprechende individuelle Schutzvereinbarungen getroffen, die Kinder und Eltern absichern und ihnen Orientierung geben.
Eine psychologische Untersuchung von Kindern und Eltern in der Phase einer Stationären Familiendiagnostik unterstützt gemeinsam mit der heil- und sozialpädagogischen Alltagsdiagnostik Eltern und Jugendämter darin, Klarheit über die Perspektive eines gemeinsamen Zusammenlebens der Familie zu gewinnen. Differenzierte Empfehlungen werden nach drei Monaten in einem Gutachten vorgelegt.
Die kontinuierliche Förderung des elterlichen Erziehungsverhaltens und der elterlichen Feinfühligkeit in der Phase des Stationären Familientrainings ermöglicht die weitere Entwicklung von Familien.
Während der gesamten Maßnahme lenkt die Arbeit mit Schutz- und Zielvereinbarungen Eltern auf die beiden Kernbereiche, in denen sich ihre Elternkompetenz entwickeln muss, wenn sie dauerhaft mit ihren Kindern zusammenleben wollen: auf die Abwendung von Gefährdungen und die Verbesserung der Beziehung zu ihren Kindern. Schutz- und Zielvereinbarungen erhöhen zudem die Chancen, dass Anforderungen für die Eltern verstehbar, handhabbar und bedeutungsvoll werden. Sie fördern das Erleben von Kohärenz4, Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit. Diese Vereinbarungen zusammen mit Eltern zu entwickeln stärkt eine tragfähige Kooperation.
In jeder Phase eines Hilfeprozesses gehen Diagnostik und Training Hand in Hand: Die Helfer geben Impulse. Wie die Eltern sie aufgreifen und umsetzen können, ist entscheidend für die diagnostische Klärung. Diese wiederum ermöglicht differenzierte Empfehlungen für einen immer passgenaueren Hilfeprozess, in dem die Familien sich weiterentwickeln können.
Unterschiedliche Perspektiven und Verläufe
Nach einer Ausgangssituation, die sich für Familien meist als auswegloses Dilemma darstellt, kann die SFA von Eltern Schritt für Schritt als faires Angebot erlebt werden, die eigene Lebenssituation zu verstehen und für Kinder verantwortliche Entscheidungen zu treffen.
Destruktive Loyalitäten können verwandelt, Kompetenzen dürfen erlebt, dauerhafte Begrenzungen können anerkannt werden. Eltern wird es möglich, für ihre Kinder gesunde familiäre Bedingungen zu schaffen, die ein befriedigendes Zusammenleben aller ermöglichen. In dem Maße, in dem Kinder sich in ihrer Familie wieder geschützt und sicher fühlen und die Eltern-Kind-Beziehung eine Qualität ausreichend sicherer Bindung annimmt, wird das Stationäre Familientraining von der Arbeit an der Überleitung der Familie in eine neue Lebensperspektive bestimmt.
Es kann aber auch ein gutes Ergebnis sein, wenn Eltern die respektable eigene Entscheidung treffen, ihren Kindern bessere Entwicklungsbedingungen bei anderen Bezugspersonen zu ermöglichen.
Mit der Familie - auch wenn es zur Trennung kommt
Wenn sich im Verlauf einer Familiendiagnostik herausstellt, dass eine Trennung von Eltern und Kind als einzige Möglichkeit erscheint, für die Kinder eine tragfähige Lebensperspektive zu entwickeln, ist es von großer Bedeutung, diese Einsicht zusammen mit den Eltern zu erarbeiten. Eine von den Eltern mitgetragene Entscheidung erleichtert es Kindern, sich auf ein neues Lebensumfeld und neue Bezugspersonen einzulassen, ohne durch ungeklärte Loyalitäten gebunden zu bleiben. Auch Eltern können eher Frieden mit sich selbst und den eigenen Grenzen finden, wenn sie in ihrem bisherigen Einsatz gewürdigt werden und eine verantwortliche eigene Entscheidung für ihr Kind getroffen haben.
Aber auch dann, wenn sich Lösungen für Kinder nicht gemeinsam mit der Familie erarbeiten lassen, bemüht sich die SFA um Bedingungen, in denen die notwendigen Eingriffe von außen in einer für alle Beteiligten möglichst schonenden Weise erfolgen und der Schutz- und Schonraum des stationären Settings gewahrt bleibt. Bindungsabbrüche sollen vermieden, Eltern so weit wie möglich einbezogen, gewürdigt und bei den ersten Schritten in ein Leben ohne das fremduntergebrachte Kind unterstützt werden.
Das Caritas-Kinder- und Jugendheim als Rahmeneinrichtung der SFA kann Kinder in therapeutischen Übergangsgruppen und -familien auffangen.
Die Arbeit berührt das Trauma der Eltern
Durch die Ausgangssituation stehen Eltern im Verlauf einer Maßnahme in der SFA unter erheblichem Druck. Autoritäts- und Kontrollkonflikte, die sie mit Jugendämtern oder Familiengerichten erleben, haben für die Eltern zumeist die Qualität von Aktualisierungen früher traumatischer Frustrations-, Gewalt- oder Überwältigungserfahrungen, die sie in ihren Herkunftsfamilien gemacht haben. Viele verleugnen in einer unbewussten Loyalität zur Herkunftsfamilie eigene traumatische Prägungen, die sie in ihrer Erziehungsfähigkeit limitieren. Starre Abwehrmechanismen machen es ihnen nicht nur schwer, die wirklichen Bedürfnisse ihrer Kinder wahrzunehmen und zu beantworten, sondern auch selbst Hilfe anzunehmen. Helfer werden als Bedrohung erlebt, weil sie an alte Verletzungen rühren.
Auch auf die Fachkräfte der Einrichtung werden Autoritäts- und Autonomiekonflikte übertragen, die eine Vertrauensbasis in der Zusammenarbeit mit den Familien verstellen. Umso mehr sind die Pädagog(inn)en bemüht, Eltern ein Maximum an Transparenz und Orientierung anzubieten. Auch wenn sie Eltern mit Empathie für frühe unerfüllte Bedürfnisse begegnen, sprechen sie konsequent deren erwachsene Persönlichkeitsanteile an. Mit dem Wissen um die oft traumatisierenden Lebenserfahrungen der Eltern stellen sich Fachkräfte als schützende, haltende und klärende Bezugspersonen zur Verfügung, mit denen Eltern Unterschiede zwischen gestern und heute erleben und neue Erfahrungen machen können.
Mit Blick auf die Kinder reicht die Zeit oft nicht aus
Eine stabile Kooperation bleibt gleichwohl eine ständige Herausforderung. Gerade in Kernprozessen wie dem Training der elterlichen Feinfühligkeit kommen Eltern nicht selten mit eigener früher Frustration, Überforderung und Hilflosigkeit in Kontakt. Sie reagieren dann oft mit vermehrter Abwehr und Passivität. Diese Blockaden früh und komplex traumatisierter Eltern lassen sich oft im Rahmen der SFA und ohne langjährige traumapsychotherapeutische Behandlung nicht auflösen.
Mit Blick auf die Kinder haben Pädagogen in der SFA oft nicht die Möglichkeit, ausreichend lange mit den Eltern individuelle Kraftquellen zu vertiefen und stabilisierend zu arbeiten. Verleugnungen und Wahrnehmungsverzerrungen, mit denen Eltern unbewusst versuchen, eigenes schmerzhaftes Erleben zu kontrollieren - auch wenn sie als Teil der Traumasymptomatik verständlich sind -, müssen konfrontiert werden, wo sie zu Vernachlässigung und Schädigung des Kindes führen.
Die Fachkräfte der SFA unternehmen Tag für Tag eine Gratwanderung in dem Bemühen, traumatisierten Eltern gerecht zu werden und zugleich die Reinszenierung ihres Leidens mit den eigenen Kindern zu unterbrechen und zu wandeln. Sie arbeiten an der schmerzhaften Nahtstelle, an der die aktuelle Eltern-Kind-Beziehung immer an die verwundete Beziehung der Eltern zu ihren "inneren Kindern" rührt.
Anmerkungen
1. Auch wenn es sich überwiegend um Mütter handelt, die mit ihren Kindern aufgenommen werden, ist im Folgenden neutral von "Eltern" die Rede.
2. Die Konzeption kann unter www.caritas-rheine.de/sfa eingesehen werden.
3. Die beiden Versionen des Schutzkonzeptes können unter www.caritas-rheine.de/sfa eingesehen werden.
4. Zum Konzept des Kohärenzgefühls vgl. Antonovsky, Aaron: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen, 1997, S. 33-46.
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