Lampedusa mitten in Berlin
"Wir sind keine Flüchtlinge, wir sind Lampedusa-People." So formulieren es die Flüchtlinge vom Oranienplatz in Berlin. Es handelt sich dabei vor allem um Westafrikaner, die aus Libyen über Lampedusa nach Europa gekommen sind. Viele sind nicht freiwillig gegangen. Sie sind Opfer der gewalttätigen Auseinandersetzungen rund um das Gaddafi-Regime. Sie haben als Gastarbeiter in Libyen gelebt, teilweise wurden sie mit Waffengewalt auf Boote gezwungen. Auf der Flucht hatten sie oftmals traumatische Erlebnisse und verloren auch Familienangehörige.
In Italien angekommen, erhielten viele einen befristeten humanitären Aufenthaltsstatus. Zahlreiche Flüchtlinge berichten, dass sie von Behörden und Organisationen ein Ticket und Geld bekamen mit der Aufforderung, das Land zu verlassen und ihr Glück in Nordeuropa zu finden. Teilweise irrten sie zwei Jahre lang durch bis zu acht verschiedene europäische Länder, um dort eine Zukunft zu suchen.
Ein Ticket und Geld für die Weiterreise nach Nordeuropa
Einzelne stellten auch in Deutschland ohne Erfolg einen Asylantrag. Auf unterschiedlichen Wegen kamen sie nach Berlin. Auf dem Oranienplatz im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg entstand ein Camp der Flüchtlinge, das sich zu einem politischen Symbol für ganz Europa und darüber hinaus entwickelte. Die Flüchtlinge fordern ein Bleibe- und Arbeitsrecht, die Abschaffung von Flüchtlingslagern und der Residenzpflicht. Über eineinhalb Jahre wurde das Camp von den Bezirksbürgermeistern und letztendlich indirekt vom Berliner Senat geduldet.
Der vergangene und damit zweite Winter des Camps wurde für die Flüchtlinge zu einer großen Belastung. Die Spenden gingen zurück und viele Flüchtlinge litten unter der Kälte und gesundheitlichen Problemen. Dem Senat und teilweise auch dem Bezirk wurde das Camp langsam ein Dorn im Auge. Die humanitäre Situation verschlimmerte sich, besonders auch für die Bewohner(innen) der nahegelegenen leerstehenden Gerhard-Hauptmann-Schule, die ebenfalls von circa 200 Flüchtlingen besetzt wurde. Dort leben Flüchtlinge, Romafamilien und Wohnungslose unter menschenunwürdigen Bedingungen und mit zunehmender Gewalt.
Notunterkunft der Caritas für Oranienplatzflüchtlinge
Die Versuche von Senat und Bezirk, eine Unterkunft für die Flüchtlinge zu finden, scheiterten. Letztendlich wurde der Caritasverband für das Erzbistum Berlin gefragt, ob er eine Notunterkunft in dem leerstehenden Pflegeheim "Zum guten Hirten" auf dem Gelände der Zentrale des Verbandes im Wedding aufmachen könnte. Kurz darauf zogen 80 Flüchtlinge vom Oranienplatz bei der Caritas ein. Sofort ließen sich weitere Flüchtlinge auf dem Platz nieder.
Der Caritasverband entschied sich aus humanitären Gründen, im Rahmen der Kältehilfe die Notunterkunft zu errichten. Die Gäste erhalten dort auch soziale Beratung, medizinische Versorgung und Deutschunterricht. Viele Ehrenamtliche, Pfarrgemeinden und Ordensgemeinschaften unterstützen in einem ökumenischen Netzwerk die Arbeit der Caritas.
Die meisten der über 500 Flüchtlinge rund um den Oranienplatz halten sich nicht legal in Deutschland auf. Entweder ist Italien für sie zuständig oder ihre Asylanträge wurden abgelehnt. Eine Rückkehr der Flüchtlinge nach Italien ist perspektivlos, weil sie dort keine Arbeit finden und auch keine staatlichen Unterstützungsleistungen erhalten, gerade wenn sie einen Bleibestatus haben. Vielen ging es dort besser, als sie noch im Anerkennungsverfahren waren und Unterstützung erhielten.
Runder Tisch zur Klärung humanitärer Fragen
Das erste Ziel der Caritas war, humanitäre Hilfe zu leisten. Nach einigen Tagen zeigte sich allerdings, dass die Fronten zwischen einzelnen Senatoren und der zuständigen Bezirksbürgermeisterin so verhärtet waren, dass politische Fortschritte für die Lösung humanitärer Fragen nicht absehbar waren. Deshalb rief der Caritasverband spontan zu einem runden Tisch auf. Die Diakonie schloss sich diesem Aufruf an und der runde Tisch nahm seine Arbeit noch vor Weihnachten 2013 auf. Zunächst lehnte der Senat eine Teilnahme ab, kam jedoch zur zweiten Sitzung.
In einer vierköpfigen Dialoggruppe mit der Caritas- und der Diakoniedirektorin, dem Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes und dem Ausländerbeauftragten der evangelischen Landeskirche wurden über Wochen hinweg politische Gespräche geführt, um Lösungen zu befördern. Nachdem der Senat Anfang Januar 2014 beschlossen hatte, den Oranienplatz nicht zu räumen, wurde die Integrationssenatorin, Dilek Kolat (SPD), beauftragt, mit den Flüchtlingen zu verhandeln. Dies zog sich lange hin. Schließlich kam es Ende März zu einer Vereinbarung zwischen einem Teil der Flüchtlinge und dem Senat, in der ihnen Rechtsberatung, Unterkunft, eine umfängliche Prüfung ihrer Verfahren, Berufsberatung und Sprachkurse zugesagt wurden. Die Flüchtlinge sagten die Räumung des Oranienplatzes und der Schule zu. Jedoch wurde die Vereinbarung nicht von allen Flüchtlingen mitgetragen, was bis heute zu erheblicher Spannung innerhalb der Gruppe führt.
Absprache zwischen Flüchtlingen und Senat brüchig
Die Schlafzelte und -hütten wurden friedlich abgebaut, ein Zelt für Veranstaltungen konnte erhalten bleiben. Caritas und Diakonie haben die Beratung für alle Flüchtlinge übernommen. Der Senat stellte dafür Mittel zur Verfügung.
Er hatte in allen Gesprächen signalisiert, dass eine Gruppenlösung für ihn nicht infrage komme, sondern nur die Prüfung der Einzelverfahren. Die intensive Beratung der am Pariser Platz im Oktober 2013 in den Hungerstreik getretenen Flüchtlinge, die ebenfalls durch die beiden Kirchen und deren Wohlfahrtsverbände Unterkunft und Betreuung erhielten, hatte wieder einmal gezeigt, dass gute Einzelberatung die Anerkennungsquote deutlich erhöht. Caritas und Diakonie haben immer klar gemacht, dass die Flüchtlinge genauso den rechtstaatlichen Bedingungen unterliegen wie andere Menschen auch.
Neues Phänomen: Politisch emanzipierte Flüchtlinge
Allerdings handelt es sich bei den Flüchtlingen vom Oranienplatz um eine Gruppe, die wie in anderen Großstädten auch, ein neues Phänomen in Europa darstellt. Diese Flüchtlinge treten selbstbewusst mit einer sehr profilierten Protest- und Medienkultur auf. Sie werden nicht einfach instrumentalisiert, wie mancher Politiker behauptet. Sie verstehen sich als Subjekte ihrer eigenen Forderungen und sind durch und durch politisch. Ihre Haltung ist nicht an erster Stelle Dankbarkeit für die Hilfe, die sie erhalten. Sondern sie fordern ihre Menschenrechte ein – oft auch über das Maß des Möglichen. Spürbar ist, dass sie aus Staaten kommen, wo Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht gerade die Leitprinzipien der Regierungen sind. So meinen manche Flüchtlinge, der Senat oder die Bundeskanzlerin könnten doch einfach persönlich beschließen, dass sie sofort ein Bleibe- und Arbeitsrecht bekommen. Neben der Unterbringung und Beratung ist eine wichtige Aufgabe, sie über die rechtlichen und demokratischen Rahmenbedingungen aufzuklären. Die Flüchtlinge vom Oranienplatz distanzieren sich von anderen Flüchtlingen. Sie seien Lampedusas, die durch einen Konflikt zwischen Libyen und der Nato hier gelandet seien.
Neue Rolle von Caritas und Diakonie
Allen war klar, dass das Flüchtlingscamp auf dem Oranienplatz nicht ewig existieren konnte. Aber eine Räumung sollte vermieden werden, weil dies eine Protestwelle mit Gewaltaktionen auslösen würde - besonders rund um den 1. Mai. Viele befürchten Nachahmungseffekte, wenn Berlin eine liberale Flüchtlingspolitik betreibe. Nach kurzen Phasen des Konsenses, als zum Beispiel die Vereinbarung im März mit einem Teil der Flüchtlinge vom Senat beschlossen wurde, gab es stetige Konflikte. Teilweise agierten die betroffenen Senatoren und Verwaltungen des Bezirkes gegeneinander und wiesen sich gegenseitig die Schuld zu. Caritas und Diakonie nehmen in diesen Prozessen oftmals eine Coaching- und Moderationsfunktion für die Politik wahr und tragen zur politischen Lösungsfindung bei.
Trotz dieser Konflikte konnte auch einiges von staatlicher Seite erreicht werden. Für einen Teil der Flüchtlinge wurden Unterkünfte zur Verfügung gestellt, Leistungen analog zum Asylbewerberleistungsgesetz ausgezahlt und Beratung finanziert. Aber bei der menschenunwürdigen Situation in der Gerhard-Hauptmann-Schule wurde der Schwarze Peter lange vom Senat an den Bezirk weitergegeben. So wurde diese humanitäre Großbaustelle wie manch andere Baustelle in Berlin dem freien Spiel der politischen Kräfte überlassen.
Permanente Herausforderung der Caritas ist die eigene Rollenklarheit - besonders seit die 80 Flüchtlinge angedroht haben, die Notunterkunft des Caritasverbandes zu besetzen, falls ihre Forderungen nach einer gemeinsamen dauerhaften Unterkunft nicht erfüllt werden. Zur Deeskalation wurde deshalb auch die Laufzeit der Notunterkunft bis Mitte Juni verlängert und Gespräche zwischen dem Senat und den Flüchtlingen wurden angeregt. Inzwischen wurde eine Unterkunftslösung gefunden. Allerdings konnte der Umzug aufgrund eines Windpockenausbruchs noch nicht stattfinden.
Der Oranienplatz kann überall sein
Dublin III und andere rechtliche Fragen der Flüchtlingspolitik sind nach wie vor wichtig. Aber die Realität der letzten Monate zeigt, dass sich Flüchtlinge, gerade auch aus Afrika, nicht durch Grenzzäune und andere Sicherungsmaßnahmen aufhalten lassen. Die Menschen sind irgendwann da und fordern ihre Rechte ein. Und sie lassen sich dabei nicht durch die üblichen rechtsstaatlichen Asylverfahren befriedigen. Sie vertreten selbstbewusst ihre politischen Forderungen. Der Oranienplatz kann überall sein. Deshalb müssen sich die politisch Verantwortlichen und auch die Caritas auf dieses neue Phänomen einstellen. Das Beispiel Berlin zeigt, entscheidende Faktoren sind, Verantwortung zu übernehmen und der gemeinsame Gestaltungswille aller beteiligten staatlichen und politischen Akteure. Die Kirche und ihre Caritas können dabei Gesprächsräume bieten und bei eigener Rollenklarheit Prozesse zur Lösungsfindung moderieren und einfordern.
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