Lösungssuche unter hohem Druck
Am Morgen des 24. November 2012 machten sich knapp 100 Flüchtlinge und ihre Unterstützer(innen) aus der Bundesbetreuungsstelle in der niederösterreichischen Stadt Traiskirchen, in der sie untergebracht waren und auf die Bearbeitung ihrer Asylanträge warteten, auf einen rund 30 Kilometer langen Fußweg nach Wien. Ähnliche Proteste fanden auch in München, Berlin oder Hamburg statt.
Mit dem Protestmarsch machten Asylbewerber(innen) in Österreich erstmals selbst auf Missstände im Asylsystem und auf ihre Anliegen aufmerksam. Laut und selbstbewusst forderten sie etwa den Zugang zum Arbeitsmarkt oder eine menschenwürdige Unterbringung.
"Es geht uns nicht um warme Betten", erklärte einer der Flüchtlinge aus Pakistan. "Uns geht es darum, gehört zu werden und von den Politiker(inne)n ernst genommen zu werden. Es geht um Menschenrechte."
Der Marsch führte schließlich am 18. Dezember in die Wiener Votivkirche. Nach drei Wochen des Protests in einem Camp im Park vor der Kirche suchte an jenem Dienstag eine Gruppe von über 60 Personen Schutz in der Kirche selbst. Zum einen, um erneut auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen, zum anderen aber auch aus Angst vor einer Räumung des Camps durch die Polizei. Es war dieser Tag, der 18. Dezember 2012, an dem auch das intensive Engagement der Caritas begann. Die Erzdiözese Wien hatte uns in die Kirche gerufen, um zu helfen und um die zu diesem Zeitpunkt schon äußerst festgefahrene und angespannte Situation konstruktiv zu lösen und die Flüchtlinge mit Essen, Decken und Beistand zu versorgen.
Dass dieses Engagement schlussendlich 317 Tage dauern sollte und dass die Bewegung, später als "Refugee Protest" bekannt, nicht nur die Caritas der Erzdiözese Wien, sondern die gesamte Republik über Monate in Atem halten würde, konnte in dieser Nacht kurz vor Heiligabend noch niemand ahnen.
Nach langen Gesprächen zwischen Behörden, Kirchenvertretern, Refugees und Caritas gelang es am 3. März 2013 schließlich, die "Besetzung" der Votivkirche gewaltlos zu beenden. Dass dieser Auszug ohne Eskalation erfolgte, war sicherlich ein Meilenstein, da gerade die jüngere europäische Geschichte zeigt, dass dies in ähnlichen Situationen in anderen Städten selten gelang und dass es teilweise zu gewaltsamen Räumungen gekommen war.
Auch die Wiederaufnahme beinahe aller protestierenden Flüchtlinge in das staatliche Versorgungssystem - die sogenannte Grundversorgung - war ein Erfolg der gemeinsamen Arbeit von Caritas und Refugees.
Die Flüchtlinge übersiedelten in das nahe gelegene Servitenkloster - und auch hier wurden sie von der Caritas der Erzdiözese Wien betreut. Der Ort war ein anderer, die Situation blieb aber schwierig.
Erschwert wurde die Lage etwa dadurch, dass acht der Flüchtlinge im August 2013 überraschend nach Pakistan abgeschoben wurden. Gleichzeitig wurden einige wenige Flüchtlinge der Schlepperei bezichtigt. Ein entsprechendes Gerichtsverfahren ist gerade anhängig. Doch so viel lässt sich bereits sagen: Von den ungeheuerlichen Vorwürfen, die im August des Vorjahres seitens der Behörden kolportiert wurden, ist bereits vor der Urteilsverkündung nicht mehr viel übrig. Damals war von Millionenbeträgen die Rede, die der vermeintliche Schlepperring erwirtschaftet haben soll. Der Verdacht, den breite Teile der Zivilgesellschaft und auch die Caritas schon damals hegten, scheint sich heute zu bestätigen: Hier sollte eine lästige Schar Demonstrierender diskreditiert werden.
Ende Oktober 2013 mussten die Flüchtlinge das Servitenkloster schließlich verlassen. Das Haus in Trägerschaft der Erzdiözese stammt aus dem 17. Jahrhundert und war alles andere als wintertauglich. Darüber hinaus werden die Räumlichkeiten umgebaut und für den Bezug durch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge renoviert.
Die zuständigen Stellen der Stadt und auch die Caritas sicherten allen Flüchtlingen eine alternative Unterkunft zu. Das Versprechen lautete: Kein Mensch wird unversorgt auf die Straße gestellt. Für jeden Einzelnen kann eine individuelle Lösung gefunden werden. Eine gemeinsame Bleibe, wie von den Refugees gefordert, konnte für die noch immer große Gruppe jedoch nicht zur Verfügung gestellt werden. Das Angebot eines gemeinsamen Versammlungsraums wollten die Flüchtlinge nicht annehmen.
Die Refugees setzen ihren Protest bis heute fort, einige von ihnen haben mittlerweile ein gemeinsames Haus am Wiener Stadtrand bezogen. Ihr Engagement und ihre Aktivitäten - wie die ihrer Unterstützer(innen) - gehen weiter.
Solidarisch, pragmatisch und sensibel handeln
Die Caritas der Erzdiözese Wien hat die Flüchtlinge von ihrer ersten Nacht in
der Votivkirche bis zu ihrer letzten Nacht im Servitenkloster betreut, beraten und begleitet. In dieser Zeit vom 18. Dezember 2012 bis zum 31. Oktober 2013 haben wir als Caritas Tag für Tag Neuland betreten. Die Einzigartigkeit dieses Protests, die Rahmenbedingungen in der Votivkirche und im Servitenkloster sowie die Arbeit im medialen Rampenlicht haben die gesamte Organisation - von der Geschäftsführung bis zur Haustechnik - vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Es galt Standards aufzubauen, um eine 24-stündige Betreuung unter widrigsten Umständen, während der Weihnachtsfeiertage und in teils extremer Kälte, zu gewährleisten.
In den ersten Stunden des "Einzugs" in die Votivkirche war das erklärte Ziel der Caritas, die Kirche als jenen Raum zu ermöglichen, als den die Flüchtlinge ihn aufgesucht hatten: als Schutzraum. Wir stellten Heizdecken, Matratzen, Verpflegung und medizinische Versorgung bereit. Die Unterstützung aus der Bevölkerung war ebenfalls enorm.
Doch die Situation wurde zunehmend schwieriger. Zum einen sollte der Wunsch, in der Kirche zu bleiben, respektiert werden. Zum anderen machte uns die potenziell gesundheitsgefährdende Situation angesichts von Hungerstreiks zunehmend zu schaffen.
Gleichzeitig ertönten aus bestimmten politischen Ecken bald Stimmen, welche die vermeintliche "Besetzung" der Kirche lautstark kritisierten, die Flüchtlinge als "Asylbetrüger" abstempelten und die Caritas als "Beitragstäter" ins Visier nahmen.
Inmitten dieser emotional oft stark aufgeladenen Situation war es unsere Verantwortung, deeskalierend zu wirken und uns für eine Lösungsorientierung einzusetzen. Unsere Rolle als Caritas und als Teil der Kirche war und ist die einer Vermittlerin.
Selbstbestimmter Protest - "We demand our rights!"
Einzigartig am Protest der Refugees war dessen selbst organisierte Natur, welche die Caritas kontinuierlich im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützte. Waren es in der Vergangenheit vor allem engagierte Nichtregierungsorganisationen, Vereine oder Bürgerinitiativen, die sich für die Anliegen der Flüchtlinge starkgemacht hatten, so ergriffen die Refugees auf ihrem Marsch nach Wien, in der Votivkirche und später im Servitenkloster selbst das Wort. Dieser selbst organisierte Prozess polarisierte und irritierte - nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch innerhalb der Caritas.
Die Gruppe von Flüchtlingen wollte mit ihren eigenen Stimmen gehört werden. Dieses Recht auf Anhörung durch die verantwortlichen Stellen unterstützen wir dort, wo es gewünscht ist, auch weiterhin! Doch in dieser ihrer Rolle als Mittlerin, als Betreuerin, als Teil der Kirche und eben auch als Unterstützerin traf die Caritas auch auf Missverständnisse und auf Wahrnehmungen ihrer Arbeit, die nicht immer dem Selbstverständnis der Caritas-Engagierten entsprachen. Von den Flüchtlingen oder auch teils den Unterstützer(inne)n wurden wir als Teil "ihrer Unterdrücker" oder "des Systems" wahrgenommen, da wir beispielsweise - aus Sorge um die Sicherheit der Flüchtlinge - Zugangskontrollen in der Votivkirche durchführten.
Auch was die Forderungen der Flüchtlinge betrifft, war es uns als Caritas wichtig - aber keineswegs einfach - zu betonen, dass wir das Recht auf Anhörung der Flüchtlinge unterstützen, aber nicht automatisch alle Forderungen der Gruppe in ihrer Gänze mittragen können. Einige Forderungen (wie das Recht auf Bildung oder menschenwürdige Unterbringung) hatten wir bereits seit vielen Jahren öffentlich geäußert, andere entsprachen nicht unseren Positionen. Es war demnach ein schmaler Grat zwischen Abgrenzung und Unterstützung, auf dem wir uns als Organisation und als Individuen bewegten. Hierbei blieb es stets unser Ziel zu betonen, dass wir als Caritas Menschen in Not begleiten und betreuen, unabhängig von ihrer sozialen, nationalen oder religiösen Zugehörigkeit.
Kirche als unbedingter Zufluchtsort
Als Caritas, als engagierte Kirchengemeinde oder als Einzelperson gilt es, sich gemeinsam mit den Flüchtlingen für ihre Anliegen zu engagieren - nicht nur trotz, sondern gerade wegen der Hürden, die ein solches Engagement mit sich bringt. Das bedeutet auch zu unterstützen, ohne sich instrumentalisieren zu lassen; zur Seite zu stehen, ohne zu weit auf die eine oder andere Seite gezogen zu werden.
Dies bringt mich zur zentralen Herausforderung: Eine Kirche muss als ein Ort von Schutz und Zuflucht offenstehen. Ein Vorwurf oder vielleicht auch nur eine Frage, mit der die Caritas und die Flüchtlinge - nahezu allesamt Muslime aus Pakistan - immer wieder konfrontiert waren, lautete: Warum konnten diese Menschen nicht in eine Moschee gehen? Was suchen die denn in einer Kirche?
Papst Franziskus selbst hat bei seinem Besuch auf der Insel Lampedusa klare Worte gefunden: Unter dem Deckmantel der Anonymität wird oft versucht, die Verantwortung für Tragödien, wie wir sie vor der Küste Lampedusas erlebt haben, von sich zu weisen. Ein Christ, so Franziskus, darf sich aber nicht aus der Verantwortung stehlen.
Michael Landau, Caritasdirektor der Erzdiözese Wien und Präsident der Caritas Österreich, hat es zu seinem Amtsantritt klar vorgegeben: "Caritas heißt Nächstenliebe ohne Wenn und Aber."
Und genau das ist auch unsere Antwort als Caritas - auch auf die Frage nach der Willkommenskultur: Das Willkommen endet nicht an der Kirchentür - es sollte dort beginnen. Wir würden - auch das hat Caritaspräsident Michael Landau bei einer internen Dankesfeier unterstrichen - diesen Weg in die Kirche auf alle Fälle "am 18. Dezember 2014" wieder gehen.
Denn solange Menschen in Not sind, gilt es, als Caritas vor Ort zu sein, zu helfen und zu unterstützen. Ohne Wenn und Aber.
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Lampedusa mitten in Berlin
Zusammenleben in Verschiedenheit
Strategische Personalpolitik erhält zentrale Unterstützung
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