Kinder und Jugendliche lassen ihr Geschlecht nicht zu Hause
Eigentlich haben wir Christen in Bezug auf unsere Leibhaftigkeit und Geschlechtlichkeit eine frohe Botschaft zu verkünden: Gott hat uns erschaffen als sein Abbild – als Mann und Frau (Gen 1,27); beide hat er gesegnet und ihnen den Auftrag zu Liebe und Fruchtbarkeit gegeben (Gen 1,28). In schöner Weise spricht die ältere Schöpfungserzählung von Adam und Eva, dass sie Vater und Mutter verlassen und „ein Fleisch sein werden“ (Gen 2,24).
Damit hat Gott dem Menschen die Geschlechtlichkeit als gute Gabe anvertraut. Darin enthalten sind die bipolare Anziehungskraft und die Zeugungsfunktion. In Jesus Christus sehen Christinnen und Christen die Schöpfung Gottes erneuert. Der Leib wird in der Bibel hochgehalten. Er gilt als „Tempel des Heiligen Geistes“ (1 Kor 6,19). Doch diese frohe Botschaft hat das Christentum lange Zeit verraten.
Quelle tiefer Lebensfreude
Mit dieser Gabe ist die Aufgabe verbunden, mit der Sexualität gut, würdig und menschengerecht umzugehen. Hier intervenieren Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen. Deshalb ist der Umgang mit Sexualität eine große Herausforderung für jede Person. Es geht um eine lebenslange Aufgabe, die auch scheitern kann. Die christliche Botschaft meint in Bezug auf Sexualität
- Freiheit, nicht Instrumentalisierung oder Vergewaltigung;
- sinnvolles Leben in Fülle, Verbindlichkeit und Dauer;
- Quelle tiefer Lebensfreude statt kurzfristigen Lustgewinn durch Missbrauch und Gewalt.
Leider hat die offizielle katholische Kirche seit 19991 keine hilfreiche Sprache in diesem Bereich mehr gefunden. Der Dialog mit der Jugend steht seit 14 Jahren still. Präventionsprogramme greifen zu kurz!
Kinder und Jugendliche lassen ihr Geschlecht nicht zu Hause. Diese Formulierung ist eine Abwandlung des Wortes der Sexualforscherin Renate-Berenike Schmidt „Schülerinnen und Schüler lassen ihr Geschlecht nicht zu Hause“. Vielmehr begegnen uns Schülerinnen und Schüler stets als geschlechtlich geprägte Personen, die ihre Sexualität nicht zu Hause deponieren.
Sexualität ist entdramatisiert
Für die Mehrheit gilt: Sexualität ist nicht mehr wie vor 50 Jahren „Thema Nr. 1“. Sexualität ist „entdramatisiert“, gelegentlich „banalisiert“, in den Medien und in der westlichen Werbung omnipräsent, nicht aber beispielsweise in islamisch geprägten Ländern. Sexualität ist zu Recht eingeordnet in das vielfältige Spektrum bedeutsamer Erfahrungen menschlicher und zwischenmenschlicher Begegnungsweisen. Durch die modernen Medien wird Sexualität im Leben vieler Kinder und Jugendlicher antizipiert und nicht entwicklungsgemäß gezeigt.
Auch Kinder sind sexuelle Wesen; viele sind neugierig und werden neugierig gemacht auf das andere Geschlecht, aber Sexualität wird vorreflexiv erlebt – ganz im Unterschied zu Erwachsenen, die Sexualität bewusst erleben. Verfehlt wäre die Annahme, Jugendliche denken nur an das eine; sie wären total pornofixiert und hungrig nach dem nächsten Abenteuer. Sie hätten bereits alles hinter sich und würden Sexualität stets früher erleben.
Nein, Jugendliche suchen zuerst und vor allem gelingendes Leben. Sie halten Ausschau nach einer sinnvollen Tätigkeit; Beruf, Zukunft und Auskommen sind vorrangig. Viele fragen: Wer bin ich eigentlich? Wie gelingt mein Leben? Hat das, was ich tue und erlebe, Sinn? Bringt es mir etwas? Wo kann ich Freundschaft aufbauen und ein Echo bekommen? Gibt es Anerkennung für mich, auch Zärtlichkeit? Hat mein Leben mit Gott zu tun?
Sexualität hat viele Ausprägungen
Nach vier empirischen Umfragen aus den Jahren 2010 bis 2012 machen die Hälfte bis zwei Drittel der Jugendlichen mit circa 17 Jahren erste Intimerfahrungen. Die Ergebnisse variieren um bis zu zwanzig Prozent, je nach Umfragemodus. Und es gibt Jugendliche mit zwanzig, die nicht in einer festen Beziehung leben, die andere Prioritäten setzen und denen nichts fehlt. In einer sportlichen, einer musikalischen oder universitären Karriere hat eine Beziehung nicht immer Platz.
Sexualität kommt in diversen Varianten und Orientierungen vor: überwiegend als Heterosexualität in Ausrichtung auf das andere Geschlecht, aber auch als homoerotische Ausrichtung auf das eigene Geschlecht. Transsexualität meint eine Differenz zwischen biologischem und gefühltem Geschlecht, was als schmerzhafte Diskrepanz erlebt und von einigen medizinisch verändert wird. Unter Intersexualität wird eine nicht eindeutige Zuordnung einer Person zu einem bestimmten Geschlecht verstanden. Nicht selten gibt es Bisexualität, also das Hingezogensein zu beiden Geschlechtern, wobei dann häufig eine Ausrichtung nicht gelebt wird, weil sie gesellschaftlich tabu ist. Tragisch ist die sexuelle Ausrichtung Erwachsener auf Kinder und auf Jugendliche, weil hier Verletzungen kindgerechten Umgangs mit Sexualität stattfinden und Kinder schweren Schaden nehmen.
Diese Vielfalt der sexuellen Ausrichtungen ist den Verfassern des sogenannten Weltkatechismus „Katechismus der Katholischen Kirche 1992/1993“ (KKK) offenbar unbekannt. Immerhin verurteilt dieser homoerotisch ausgerichtete Männer und Frauen nicht mehr, disqualifiziert jedoch homosexuelle Beziehungen und Handlungen. Katholische Priester, die ein Coming-out hatten, müssen das Zelebret abgeben und evangelische Pastorinnen und Pastoren, die in Bayern in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben, müssen dies der Gemeinde bekanntgeben.
Fazit: Wenn Sexualität dem Menschen als gute Gabe Gottes gegeben ist und alle Menschen vor Gott gleich wertvoll sind, dann müsste das eigentlich für jede sexuelle Orientierung gelten. Allerdings müsste man im kirchlichen Dienst und in pädagogischen Feldern spezielle Anstellungsbedingungen für besondere Fälle treffen.
Es ist kein Zufall, dass eine Mehrheit der Jugendlichen eine negative Meinung von der traditionellen Einstellung der Kirche hat. Sie fühlt sich „von der Kirche im Stich gelassen“2, deren Ansichten gelten als passé, uncool und mega-out. Im You-cat (Jugend-Katechismus) gibt es eine Mischung traditioneller und offener Sexualmoral. Lust wird positiv beurteilt, Selbstbefriedigung nicht pauschal verurteilt, wie bekanntlich auch nicht im letzten Nebensatz des KKK Nr. 2352. (Sexualwissenschaftlich spricht beispielsweise Maika Böhm von Solosexualität und ordnet sie als legitime Ausdrucksform der Sexualität ein, wohlwissend, dass Sexualität auf Partnerschaft ausgerichtet ist.)
Achtsamkeit und vertrauende Gelassenheit
Eine zukunftsfähige ethische Erziehung und sexuelle Bildung in pluraler Zeit kann nicht mehr anders, als junge Menschen auf ihr persönliches Gewissen hin anzusprechen. Das erfordert von Erwachsenen einen Vertrauensvorschuss in die Jugendlichen und eine vertrauende Gelassenheit, dass alles ein gutes Ende nehme. Kinder und Jugendliche wollen als Personen ernst genommen und sowohl in den Entscheidungsfindungsprozess als auch in die konkrete Verantwortungsübernahme einbezogen werden. Kinder sind zwar nicht als Erwachsene zu behandeln und in ausgedehnt rationale Begründungszusammenhänge einzupassen, doch sie können zu einem kindgerechten Verstehen ihres Handelns geführt werden. Hierbei ist bedeutsam, dass ethisches Lernen ein lebenslanger Prozess ist, in dessen Mittelpunkt das sittliche Urteilen (Iudicium) steht und damit ein gewisses formbares Miteinander.
Im dritten Jahrtausend genügt es nicht mehr, von jungen Menschen einfach Gehorsam und Unterwürfigkeit zu verlangen. Unter Gewissen ist der „personale Kern“ eines Menschen vor Gott zu verstehen, das heißt sein gewachsenes, mitgeprägtes und doch persönlich gewordenes Urteilsvermögen von Gut und Böse, das sich durchaus dynamisch entwickeln kann und seine Grenzen kennt, nicht zuletzt die Tatsache, dass die „Normen im Wandel“ sind. Wichtig ist heute, Kinder und Jugendliche in die Wertefindung einzubeziehen und mit ihrer Stimme zu rechnen. Das Gewissen kann „als das dem Menschen vorbehaltene Vermögen, Handlungen und Handlungsziele unter sittlichen Kriterien zu beurteilen“3, verstanden werden. Beim Gewissen geht es auch um ein moralisches Gespräch bei Kindern, die Recht von Unrecht durchaus unterscheiden können. Bei Jugendlichen ist bedeutsam, kommunikative Lernprozesse über Werte anzustoßen.
Das biblische Erbe
Im Unterschied zur damaligen mythologischen Redeweise wird Sexualität in der Bibel nicht vergöttlicht, sondern als geschaffene weltliche Wirklichkeit gesehen. Nicht der Mensch schafft Sexualität; sie ist ihm vielmehr geschenkt, in sein leib-geistiges Sein eingefügt und in die Verantwortung zur Gestaltung übergeben. Sexualität ist eine von Gott dem Menschen und allen Lebewesen zugedachte Möglichkeit. Die sexuelle Vereinigung gehört zur Schöpfungsordnung.
Das Alte Testament bringt zum Ausdruck, dass Gott der Schöpfer der Welt und des Menschen ist und dass er die Schöpfung grundsätzlich bejaht. Im Neuen Testament erhält dieses Ja noch eine Vertiefung durch die Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth. Die Welt und der Mensch sind von Gott gewollt und in ihrer Geschöpflichkeit und Eigengesetzlichkeit anerkannt. Der Mensch kann an der Schöpfung selbst mitwirken.
Das alttestamentliche Hohelied der Liebe ist ein Plädoyer für personale Liebe mit all ihrer leibseelischen Anziehungskraft. Das Geschenk der Sexualität wird im erotischen Liebesspiel entfaltet. Sexualität bringt den Partnern Genuss und Sinn in sich selbst! Das „schönste Lied“ beziehungsweise das „Lied der Lieder“ (canticus canticorum) gehört zur Weisheitsliteratur des Alten Testaments.
Die folgende Botschaft des Hoheliedes lässt sich herauskristallisieren: Die Liebe zwischen Mann und Frau ist eine starke, sogar übermächtige Kraft, die der Schöpfung Gottes zu verdanken ist, nicht menschlicher Anstrengung. Das Hohelied ist ein Votum für eine wechselseitige Beziehung, für personale Liebe und für eine ebenbürtige, gleichberechtigte Partnerschaft.
Die Evangelien bezeugen einen offenen, natürlichen Umgang Jesu mit Kindern und Erwachsenen. Jesus, der nach den Evangelien unverheiratet lebte, konnte mit menschlicher Nähe umgehen. Eindrücklich ist die Szene der Salbung von Betanien in der Bibel dargestellt. Jesus berücksichtigte die Gefährdung und Gebrochenheit des Menschen und brachte Gottes rettendes Wort ins Spiel. Auf diese Weise erneuerte er die Welt.
Sexualität und Liebe gehören zusammen. Sexualität wird pervertiert, wenn die Liebe mit Machtstreben einhergeht. Sexualpädagogik zielt auf die Kompetenz, Sexualität als Ausdruck und Sprache der Liebe zu gebrauchen und zu leben. Dazu gehören die Liebe zu sich selbst und die Annahme der eigenen Leibhaftigkeit. Selbstliebe, Nächstenliebe und Gottesliebe sind für Christen drei Momente oder Dimensionen der einen Liebe, die letztlich von und in Gott ist (vgl. 1 Joh 4,16b), der uns zuerst geliebt hat (1 Joh 4,19).
Insgesamt ist eine bejahende Einstellung zu Leib, Leben und Geschlechtlichkeit in der Bibel nicht zu übersehen. In Liebe und Beziehung gibt es gar Leitvorstellungen und Leitbilder, aber auch verurteilte Einzeltaten, wie Gewalt, Vergewaltigung, Inzest, Ehebruch. Homosexualität wird durchweg negativ konnotiert und abgelehnt (Gen 19,1–25; Lev 18,22; 20,13; Röm 1,24–27; 1 Kor 6,9–11 und 1 Tim 1,9f.), aber nicht in der aktuell diskutierten Form einer Neigungshomosexualität. Es handelt sich eher um Verirrungen Heterosexueller. „Die Bibel ist kein systematisches oder gar einheitliches Lehrbuch zu Fragen des Glaubens und der Moral.“4 Auf einzelne Fragen gibt sie keine Antworten wie zum Beispiel auf die der Empfängnisverhütung.
Fünffache Sinndimension der Sexualität
Berücksichtigt man die Daten der Bibel, dann kann eine fünffache Sinnrichtung der Geschlechtlichkeit wahrgenommen werden.
1. Liebe, Begegnung und Kommunikation
Sexualität ist auf die Begegnung der Partner hin angelegt, deren letztes Motiv die Liebe sein sollte, und zwar die zweckfreie Hingabe, das absichtslose Sichverschenken ohne Hintergedanken. In den Begegnungen erfährt der Mensch Wertschätzung, Angenommensein ohne Vorbehalt. Sie sind in ursprünglichster Form in der Ehe möglich. Sie gewährt Schutz und definitive Gemeinschaft, Exklusivität und letzte Geborgenheit. Die Ehe ist wohl der ideale Ort menschlicher Sexualität, aber nicht der einzige. Es gibt ein „vor“ der Ehe, denn diese fällt nicht vom Himmel durch die kirchliche Trauung. Gewiss gibt es ein Warten und Verzichten – das kennt die katholische Sexualmoral schon immer –, doch die Zeit zwischen körperlicher sexueller Reife und Eheschließung hat sich um zehn bis 15 Jahre verlängert. Zudem haben sich neben der bisherigen Leitform der Familie verschiedene familienähnliche Lebensformen gebildet: Ein-Eltern-Familien, Patchworkfamilien.
2. Sexualität stiftet Identität
Sexualität beantwortet die Frage: Wer bin ich? Sie zeigt sich in leiblicher Gestalt und kommt körperlich zum Ausdruck. Sie vermittelt das Bewusstsein, Mann oder Frau zu sein, selbst ein geschlechtsgeprägtes Individuum zu sein. Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung ergeben ein neues Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. Zärtlichkeit und Berührung stärken die persönliche Identität.
3. Lebensfreude, Lust und Genuss
Der dritte Aspekt menschlicher Sexualität schließt an die identitätsbildenden und kommunikativen Aspekte an und überschreitet sie. Zärtliche und sexuelle Begegnungen können die Freude am anderen ausdrücken und vergrößern. Die geschlechtliche Begegnung kann Geborgenheit schenken. Lust soll von vorneherein nichts Negatives sein, denn sie ist „etwas Gutes und Schönes“, wie es der Jugendkatechismus bemerkt.5 Sie kann aber auch Egoismus pur manifestieren, sogar zu Gewalt führen. Sie kann Enttäuschungen und Frustrationserfahrungen aufwiegen und zu verarbeiten helfen. Genießen lernen ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Entscheidend für die Qualität der Begegnung dürfte der gelungene ganzheitliche Partnerbezug sein, der erst ein bewusstes Genießen und Auskosten der Liebe ermöglicht.
4. Lebensschaffende Sexualität
Die vierte Dimension sexueller Akte geht über die vorherigen drei hinaus. Sie zeigt sich in der Fruchtbarkeit der intimen Begegnung. Die geistige und leibhaftige Gemeinschaft wird fruchtbar im Kind. Durch die Zeugung wird Leben weitergegeben. Die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums „Gaudium et spes“ (GS) hat die Bestimmung der Ehe auf die Zeugung der Kinder offiziell durch den Sinngehalt der Liebe ergänzt: „Die Ehe ist aber nicht nur zur Zeugung von Kindern eingesetzt, sondern die Eigenart des unauflöslich personalen Bundes und das Wohl der Kinder fordern, dass auch die gegenseitige Liebe der Ehegatten ihren gebührenden Platz behalte, wachse und reife“ (GS 50). Nach wie vor ist die Freude über ein Kind als Ergebnis der Liebe in der sexuellen Begegnung groß. Die Partnerschaft wird im Kind überschritten und erweitert. Die Liebe zeigt auf wunderbare Weise ihre Früchte. Viele Eltern planen Zeitpunkt und Anzahl der Kinder in eigener Verantwortung, wie es in „Gaudium et spes“ festgehalten ist: „Dieses Urteil müssen die Eheleute im Angesicht Gottes letztlich selbst fällen“ (GS 50). Walter Kaspar, ehemaliger Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, hat folgende vier Kriterien für „verantwortete Elternschaft“ aufgestellt: „1. Die Achtung vor der Würde des anderen Partners und die Verantwortung für die Fortdauer und Vertiefung der gegenseitigen Liebe; 2. die Verantwortung für die geborenen und die noch zu erwartenden Kinder; 3. die Verantwortung für die Zukunft der Gesellschaft und der Menschheit; 4. die Ehrfurcht vor dem inneren Sinn der von Gott geschaffenen Natur, die dem Menschen zur Kultur, aber nicht zur schrankenlosen Ausbeutung und Manipulation übergeben ist.“
5. Transzendenzoffenheit der Sexualität
An letzter Stelle soll angesprochen werden, dass sexuelle Erfahrung über sich hinausweist und im Licht des Glaubens gedeutet werden kann. Die Begegnung mit dem Partner/der Partnerin ist für glaubende Menschen offen auf die Begegnung mit Gott hin, sogar ein Sinnbild für sie! Der leibhaft erfahrbare ekstatische Aspekt der geschlechtlichen Liebe wird offen für eine Begegnung mit der Transzendenz. Hans Rotter spricht von der „Geschlechtlichkeit als Ort der Gottesbegegnung“, indem „diese Begegnung tatsächlich zu einem Symbol für den letzten Sinn des Lebens, für Hingabe an Gott und Empfang des Heils wird“6. Andererseits kann die Erfahrung geschlechtlicher Liebe die Vergänglichkeit und Begrenztheit des Daseins deutlich machen und so über sich hinausweisen.7
Sexualität in Familie, Kita und Kindergarten
Während frühere Generationen sich ihren Kindern kaum unverhüllt zeigten, ist heute ein unbefangener ungezwungener Umgang mit Nacktheit und Körperlichkeit in den Familien festzustellen. In muslimischen Familien wurde dagegen Diskretion beim Baden bis zum Burkini ausgedehnt. Das ergibt einen Zusammenprall der Kulturen. Hierbei streiten Religionsfreiheit und Anpassung an die Mehrheitskultur miteinander: religiöse Traditionen und Gefühle gegen die – aus muslimischer Sicht – permissive westlich dekadente Kultur. Entscheidend für eine gesunde Entwicklung der Kinder ist und bleibt die Erfahrung, dass sie „unbedingt erwünscht“ sind, dass sie anerkannt und geliebt werden – trotz aller Fehler. Das ist die Aufgabe von Eltern und Erzieher(inne)n, den Kindern zu vermitteln, dass sie geliebt sind, selbst wenn sie Fehler gemacht haben. Die andere Aufgabe, die vor allem in Kitas und multikulturellen Kindergärten auf sie zukommt, besteht darin, fremde Kulturen wahrzunehmen, das Fremde begreifen und achten zu lernen.
Fragen der Sexualität in caritativer Jugendhilfe
Hier handelt es sich um ein besonders anspruchsvolles Handlungsfeld, weil es mit viel persönlichem Engagement, Betroffenheit und Nähe verbunden ist. Oft geht es um aktuelle Vorfälle, um sexuelle Übergriffe inner- und außerhalb des Heimkontextes, auch um sexuelle Auffälligkeiten. Man spricht von „funktionaler Sexualpädagogik“ bei kritischen Lebensereignissen wie Vergewaltigung oder ungewollter Schwangerschaft. Folgende Kompetenzen sind von Sozialpädagog(inn)en erfordert:
- beherzt im Sinne der Kinder, Jugendlichen und Familien handeln;
- zielgerichtete Sexualpädagogik durchführen;
- professionelle sexualpädagogische Beziehungskompetenz aufweisen;
- in Verdachtsfällen rechtliche Schritte initiieren.
Zwei Pole sind zu beachten: Es braucht eine Balance zwischen persönlicher Betroffenheit und sachlicher Distanz. Einfühlung/Empathie muss mit kühlem Kopf gepaart sein. Institutionellen Trägern (wie zum Beispiel Jugendämtern) kommt große Verantwortung zu, wenn es um die Inobhutnahme von jugendlichen Sexualstraftätern geht. Dazu gehört eine transparente und zeitnahe Informationspolitik.
Die betroffenen Leidtragenden haben das Recht auf persönliche intensive Begleitung. Sozialpädagogen in der ambulanten Erziehungshilfe bieten oft Familienarbeit an, in der die traumatisierenden Ereignisse aufgearbeitet und die eigenen familiären Ressourcen erinnert werden. Oft muss das Jugendamt informiert werden.
Bei einer „Heimunterbringung“ wird ein Wechsel von Familienraum in den Lebensraum Heim vorgenommen. Hier kann es Problemfälle geben:
- sexuelle Verwahrlosung: Defizit an Schamgefühl und Gefühl für Intimität;
- Anmache, Beschimpfung und Übergriffe auf jugendliche Heimbewohner, auf Pädagoginnen und Pädagogen;
- Prostitution von jugendlichen Heimbewohnerinnen und -bewohnern.
In all diesen Fällen ist zum einen Soforthilfe nötig: professionelles Clearing und Einleiten von Maßnahmen zum Schutz der Betroffenen. Es braucht zum anderen eine grundlegende Sexualpädagogik im Sinne der Prävention und der Information: Es ist nötig, Täterstrategien, Formen der Übergriffe, Konsequenzen bestimmten Verhaltens zu kennen. Hierbei ist ein verlässliches, verbindliches Verhalten der Erzieherinnen und Erzieher unentbehrlich. Wichtig ist auch die Wahrung von Intimitätsgrenzen und die Stärkung des Selbstbewusstseins.
Insgesamt soll sexualpädagogische Arbeit in der Erziehungshilfe zu selbstbestimmtem, befriedigendem, sozialverantwortlichem und rücksichtsvollem Handeln befähigen.8
Anmerkungen
1. Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.): Brief der Jugendkommission der Deutschen Bischofskonferenz an die Verantwortlichen in der kirchlichen Jugendarbeit zu einigen Fragen der Sexualität und der Sexualpädagogik. Bonn, 1999.
2. Illa, Andreas; Leimgruber, Stephan: Von der Kirche im Stich gelassen. Regensburg, 2009.
3. Hilpert, Konrad: Sexualethik. In: Eicher, Peter: Neues Handbuch Theologischer Grundbegriffe. München, 2. Aufl. 2005, Bd. 4, S. 139–152.
4. Halter, Hans: Christliche Sexualethik. In: Gellner, Christoph: Paar- und Familienwelten im Wandel. Zürich, 2008, S. 139–170.
5. Österreichische Bischofskonferenz (Hrsg.): Youcat. Jugendkatechismus der Katholischen Kirche. München, 2011, S. 220.
6. Rotter, Hans: Sexualität und christliche Moral. Innsbruck/Wien, 1991, S. 11–12.
7. Ebd., S. 15.
8. Der Beitrag geht auf einen Vortrag mit dem Titel: „Kann denn Liebe Sünde sein?“ zurück, den der Autor auf einer Tagung der Katholischen Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz am 17. September 2013 in Köln gehalten hat.
Literatur
Ammicht-Quin, Regina (Hrsg.): „Guter“ Sex. Moral, Moderne und die katholische Kirche. Paderborn, 2013.
Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Kirche, Jugend, Sexualität. Herausforderung einer verantwortlichen Sexualpädagogik in der Jugendpastoral. Dokumentation der Jahreskonferenz Jugendseelsorge 2011. Düsseldorf, 2012.
Bujo, Benezet: Plädoyer für ein neues Modell von Ehe und Sexualität. Afrikanische Anfragen an das westliche Christentum. Freiburg, 2007.
BZGA (Hrsg.): Jugendsexualität. Repräsentative Wiederholungsbefragung von 14- bis 17-Jährigen und ihren Eltern – aktueller Schwerpunkt Migration. Köln, 2010.
Gemeinsame Synode der Bistümer in der BRD (Hrsg.): Sinn und Gestaltung menschlicher Sexualität (159–183); Christlich gelebte Ehe und Familie (419–457).
Hilpert, Konrad (Hrsg.): Zukunftshorizonte katholischer Sexualität, Freiburg, 2011.
Landeszentrale für Gesundheitsförderung: In Langer, Michael: Katholische Sexualpädagogik im 20. Jahrhundert. Zur Geschichte eines religionspädagogischen Problems. München, 1986.
Leimgruber, Stephan: Christliche Sexualpädagogik. München, 2011.
Lintner, Martin: Den Eros entgiften. Plädoyer für eine tragfähige Sexualmoral und Beziehungsethik. Innsbruck, 2. Auflage, 2012.
Müller, Wunibald: Vom Kusse seines Mundes trunken. Sexualität als Quelle der Spiritualität. Kevelaer, 2012.
Schmidt, Renate-Berenike; Sielert, Uwe: Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung. Weinheim/München, 2008.
Schmidt, Renate-Berenike; Sielert, Uwe: (Hrsg.): Sexualpädagogik in beruflichen Handlungsfeldern. Köln, 2012.
Willi, Jürg: Psychologie der Liebe. Persönliche Entwicklung durch Paarbeziehungen. Hamburg, 2. Auflage, 2004.
Ziebertz, Hans-Georg: Sexualität im Wertepluralismus. Mainz, 1991.
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