Großeinrichtungen fühlen sich im Dilemma
In jeder Debatte über die Gestaltung der Politik für Menschen mit Behinderung taucht der Begriff Inklusion auf. Wer das Wort benutzt, scheint immer im Recht zu sein, kann andere und anderes bewerten, kann sich selbst legitimieren und andere verurteilen. Ein Schlag-Wort im besten Sinne. Trotz allem drängt sich der Eindruck auf, das Nennen des Wortes ersetzt das Bemühen, eine Erklärung dafür zu liefern, worum es eigentlich geht. Mehr noch: Je häufiger der Begriff verwendet wird, desto unklarer und beliebiger wird seine Bedeutung und desto gefährlicher auch seine Verwendung.
Die Beispiele hierfür sind vielfältig. Auf der Internetseite der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung wird zunächst Inklusion definiert: "Inklusion im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) bedeutet, dass allen Menschen von Anfang an in allen gesellschaftlichen Bereichen eine selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe möglich ist. Inklusion verwirklicht sich im Zusammenleben in der Gemeinde - beim Einkaufen, bei der Arbeit, in der Freizeit, in der Familie, in Vereinen oder in der Nachbarschaft."
Jeder meint, mitreden zu können
Dem ist durchaus zuzustimmen. Wie diese Definition von Inklusion verstanden werden soll, wird schon im unmittelbar folgenden Satz deutlich: "Dementsprechend leben, arbeiten und lernen Menschen mit Behinderungen nicht in Sondereinrichtungen."
Sondereinrichtungen leisten keine Inklusion und sind abzuschaffen, so will es die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, die sich im Wahlkampf noch gerne beim Besuch des Franziskuswerks Schönbrunn - einer dieser "Sondereinrichtungen" - ablichten ließ und die Arbeit dort lobte. So will es auch Ulrich Maly, Oberbürgermeister der Stadt Nürnberg, der medienwirksam die Werkstättenmesse in seiner Stadt eröffnet, aber auf einer Mitgliederversammlung der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie im Jahr 2013 ungehindert die Befreiung der Menschen mit Behinderung aus den "Gefängnissen" der Werkstätten propagiert.
Wer so angegriffen wird, dem bleibt eigentlich zur Begründung der eigenen Existenzberechtigung nur der Hinweis auf die bereits erreichten Errungenschaften der eigenen Einrichtung im Sinne der Inklusion. Hier soll gar nicht auf andere Einrichtungen verwiesen werden - das beschriebene Muster kann im Franziskuswerk Schönbrunn fast täglich erfahren werden:
- Die Tatsache, dass es in Schönbrunn eine Arztpraxis gibt, die auch Menschen ohne Behinderung nutzen, wird als Argument genannt, dass man doch schon immer inklusiv war.
- Das Sommerfest soll schon deshalb inklusiv sein, weil auch sehr viele Menschen ohne Behinderung nach Schönbrunn kommen und auch die Beteiligung von behinderten Menschen an beliebigen Veranstaltungen in der Region soll vor allem eines sein - inklusiv.
- Und auch der über 150 Jahre ausgeübte und allseits sehr geschätzte Dienst der Franziskanerinnen von Schönbrunn für die Menschen mit Behinderung erhält - ungefragt - das "Siegel" inklusiv, da mit den Schwestern doch Menschen mit und ohne Behinderung zusammen gelebt haben.
Angesichts solcher Darstellungen und Wertungen beschleicht mich immer ein Unbehagen. Solche Argumentationen führen in der Außenwahrnehmung zu dem Vorwurf, Einrichtungen würden sich angesichts der Forderung nach Umsetzung der UN-BRK nicht ernsthaft ändern wollen, weil sie, siehe oben, doch "schon immer" danach arbeiten.
Diesen Vorwurf bringt Johannes Schädler vom Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE) der Universität Siegen so scharf wie pauschal auf den Punkt, wenn er darauf hinweist, dass Organisationen der Behindertenhilfe dazu neigen, den Inklusionsbegriff und die UN-Behindertenrechtskonvention zeremoniell zu nutzen, ohne ihre normativen Inhalte ernst zu nehmen!1
Wir befinden uns also in einem Dilemma: Mit dem vagen Schlagwort der Inklusion wird uns als Einrichtung die Existenzberechtigung abgesprochen. Wir halten dem entgegen, dass wir Inklusion doch betreiben und schon lange betrieben haben. Unser Gebrauch des Begriffs bleibt ebenso inhalts- und aussageleer wie sein Gebrauch durch unsere Kritiker. Damit verstärken wir aber die Gefahr, dass sich bei uns - außer ein wenig "Dezentralisierung" - gar nichts ändert und dass wir vor allem die großen Chancen nicht sehen und umsetzen, die sich aus der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen ergeben.
UN-BRK ist mehr als Inklusion
Die Gleichsetzung der Forderungen der UN-BRK mit dem Schlagwort Inklusion ist eine starke Verkürzung des großartigen Gedankenguts und der Chancen, die sich daraus ableiten lassen. Dass die UN-BRK nicht deckungsgleich mit dem Begriff Inklusion ist, sollte sich schon aus dem Titel ergeben - es ist ja keine Inklusionskonvention! Wie der Titel es anzeigt, fordert die UN-BRK im Kern die Geltung der allgemeinen Menschenrechte für behinderte Menschen!
Die Konvention fordert also die Gesellschaft dazu auf, alles zu tun, damit Menschen mit Beeinträchtigungen nicht länger an der Ausübung und Wahrnehmung der selbstverständlichsten Menschenrechte gehindert werden und dass sie nicht länger von der Teilhabe an der Gemeinschaft bewusst oder zumindest gegen ihren Willen ausgeschlossen werden. Dieser Gedanke findet sich schon in der Präambel der Konvention, wenn Behinderung eben nicht mehr als Defizit, als medizinischer oder anderer Mangel beschrieben wird. Behinderung, so die UN-BRK, entsteht "aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren (…), die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern" .
Wichtig für das Verständnis der UN-BRK ist also, dass sie gar nicht zuerst an Inklusion denkt. Die BRK denkt konsequent vom Menschen mit Behinderung her. Immer ist die Person Ausgangspunkt aller Überlegungen und Forderungen. Für den einzelnen Menschen mit Behinderung werden die Menschenrechte eingefordert, um seine Identität als Mensch mit Behinderung zu wahren. Und gerade mit der Beeinträchtigung ist er eine Bereicherung für die Gesellschaft und trägt mit seiner Verschiedenheit (diversity) zu ihrer Vielfalt bei und - um es ganz deutlich zu sagen - er ist nicht an eine "Normalität" anzupassen, sondern zu fördern und in seiner Entwicklung zu unterstützen. Dieser Gedanke drückt sich konkret im Artikel 3(h) der Konvention aus, wenn dort gerade für Kinder mit Behinderung, die sich ja noch entwickeln und entfalten sollen und dürfen, gesagt wird, worum es geht: Es geht um die "Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderung und die Achtung ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität… (Respect for the evolving capacities of children with disabilities and respect for the right of children with disabilities to preserve their identities".)
Erst vor diesem gedanklichen Hintergrund werden die weiteren fundamentalen Grundsätze wie Teilhabe und auch Einbeziehung (inclusion) in die Gesellschaft verstehbar. Allerdings bekommen sie eine ganz neue Bedeutung: Ziel der UN-BRK ist niemals nur die Inklusion. Und umgekehrt: Inklusion ist nicht Selbstzweck. Inklusion ist überhaupt nur dann ein guter Weg, wenn damit die Würde, die Identität und Eigenheit sowie die Autonomie des Menschen mit Behinderung zur Geltung kommen und geachtet werden. Diese Achtung kommt darin zum Ausdruck, dass und wie wir für Menschen mit Behinderung Teilhabe beim Wohnen, in der Arbeit, beim Lernen und Spielen erreichen.
Kernpunkt ist die Würde
Nach meinem Verständnis der UN-BRK muss sich also unser Handeln und müssen sich insgesamt die Angebote und Strukturen in den Einrichtungen daran messen lassen, ob sie letztlich die Würde des Menschen mit Behinderung und seine Individualität so zur Geltung bringen, dass er am Leben der Gesellschaft teilhaben kann und so zur Vielfalt und gewollten Verschiedenheit der Gesellschaft beitragen kann. Eine pauschale Ablehnung von hochspezialisierten "Sondereinrichtungen" mit dem wie oben dargestellt wenig differenzierten Argument "nicht inklusiv", führt nicht automatisch zu einer Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderung. Deshalb komme ich zu der Einschätzung, dass die oben beispielhaft zitierten Aussagen über den Zusammenhang von Inklusion und der Forderung nach Auflösung von Sondereinrichtungen nicht von der UN-BRK gedeckt sind. Für uns lautet die Kernfrage des Problems deshalb: Was heißt all das konkret für die Praxis einer Groß- und Komplexeinrichtung wie das Franziskuswerk? Wie lässt sich das messen? Wer darf das beurteilen?
Sich den Herausforderungen stellen
Die UN-BRK ist geltendes Recht in Deutschland. Aber sie ersetzt nicht die aktuelle Sozialgesetzgebung, auf deren Grundlage unser heutiges System der Eingliederungshilfe gestaltet und finanziert wird. Ob wir wollen oder nicht, wir können nicht von heute auf morgen alles ändern und umsetzen, was die UN-BRK fordert, zumal sie nichts darüber sagt, wie das zu geschehen hat und wann es richtig oder falsch ist.
Dennoch stellen wir uns im Franziskuswerk Schönbrunn mit dem Umwandlungsprojekt "Auf dem Weg zur Vision 2030" den Herausforderungen der UN-BRK. Mit Blick auf unsere Strukturen, aber auch aus Verantwortung für die Menschen mit Behinderung, die hier leben, und nicht zuletzt auch aus Verantwortung für alle Mitarbeitenden können wir nicht alles Gute über Bord werfen und einfach alles neu und anders machen. Wir sind überzeugt, dass wir gute und erfolgreiche Arbeit geleistet haben und auch heute noch leisten.
Erste Schritte
Wir wissen aber auch, dass wir die Forderungen der UN-BRK noch längst nicht alle umsetzen und dass wir uns dazu auf einen langen Weg begeben müssen. Ich will einige Beispiele nennen, worum es uns dabei geht und wie wir vorgehen:
- Der Forderung der BRK, dass Menschen mit Behinderung wählen können, wie und mit wem sie wohnen wollen und dass sie nicht gezwungen werden dürfen, in einer bestimmten Wohnform zu wohnen, wird im Franziskuswerk nicht entsprochen - das wissen wir. Deshalb schaffen wir immer mehr Wohnangebote in der Region und unterstützen Menschen mit Behinderung bei ihrem Wunsch, an einem anderen Ort zu wohnen - so gut wir können. Weil viele Menschen mit Behinderung in Schönbrunn, dem größten Standort der Sondereinrichtung, bleiben möchten, aber auch hier in anderen Wohnformen leben wollen, müssen wir diese dort anbieten und massiv alternative Angebote schaffen, die überhaupt die Voraussetzung dafür sind, dass jemand wählen kann.
- Die BRK fordert für alle Menschen mit Behinderung die Teilhabe an der Gesellschaft. Auch das bieten wir in Schönbrunn nicht in dem geforderten und von uns erwarteten Maß an. Deshalb schaffen wir neue Angebote für die Mobilität von Menschen, damit sie dort an der Gemeinschaft teilhaben können, wo sie es wünschen, aufgrund der Lage von Schönbrunn bisher aber nicht so einfach hingelangen. Dies ist aber auch eine weitere Motivation dafür, die Ortschaft Schönbrunn so attraktiv zu machen, dass hier künftig Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam zusammen leben wollen. Schönbrunn muss für die, die dort leben wollen, einen Sozialraum bereithalten, der Teilhabe an der Gesellschaft in vollem Umfang selbstverständlich ermöglicht.
- Die BRK fordert ausdrücklich das Recht auf inklusive Schulbildung. Auch das bieten wir derzeit nicht in vollem Maße an. Aber wir haben uns auf den Weg gemacht, eine neue Schule zu bauen, mit der wir den Anspruch der Konvention noch besser umsetzen, die sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit und ohne Behinderung zu fördern und sie unter Wahrung ihrer Identität für die Teilhabe an der Gesellschaft durch inklusive Modelle von Anfang an vorzubereiten. Dabei stehen wir vor der Herausforderung, eine Schule "für alle" zu wollen, während in unserer Situation über die Schulfinanzierung derzeit nur eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt "geistige Entwicklung" ermöglicht werden kann.
- In vielen Gesprächen wird von unseren Mitarbeitenden zurückgemeldet, dass sie sich bei aller Professionalität teilweise noch nicht in der Lage sehen, ihr pädagogisches Handeln an den Forderungen der UN-BRK auszurichten, sich von der Haltung der Fürsorge zu lösen und beispielsweise mit dem Wunsch- und Wahlrecht pädagogisch angemessen umzugehen. Aber wir haben uns auf den Weg gemacht, die Methode des personenzentrierten Denkens für das gesamte Franziskuswerk einzuführen, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Handlungssicherheit in der täglichen Arbeit zu geben.
Wir sind auf dem Weg! Dabei geht es nicht darum, dass möglichst bald oder erst am Ende "Inklusion" herauskommt. Wichtiger ist, dass wir alle lernen, uns der großen und großartigen Herausforderung der UN-BRK zu stellen. Es ist dabei nicht entscheidend, ob wir dann feststellen, wie weit wir möglicherweise noch von deren vollständiger Umsetzung entfernt sind. Entscheidend ist, dass wir erkennen, was wir mit unseren Möglichkeiten und unter den gesetzten Rahmenbedingungen tun können, um den Rechten der Menschen mit Behinderung Geltung zu verschaffen, weil nur so deren Würde entsprochen werden kann. Dem müssen unsere Haltung, unsere Handlungen, aber auch unsere Strukturen und Angebote immer wieder neu angepasst werden. Der Streit über Inklusion kann uns dann egal sein.
Anmerkung
1. Schädler, Johannes: Überlegungen und Einschätzungen zum Inklusionsbegriff und zur UN-Behindertenrechtskonvention. In: eNewsletter Wegweiser Bürgergesellschaft 18/2013 vom 27.9.2013, S. 6.
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