Kundschafter für soziale Not
Die Vorstellung vom Kundschafter ist ein starkes Bild, das die verschiedensten Assoziationen weckt: vom Spion, der einen zweifelhaften taktischen Vorteil sucht, bis hin zum Späher bei Karl May, der gutes Land für seine Herde zu finden hofft. Abenteuerlust und Risikobereitschaft scheinen Tugenden des Kundschafters zu sein. Jemand zieht also aus, übertritt eine Grenze und setzt sich dem Fremden aus. Das fremde Land und die Grenze sind dabei keine exklusiven Phänomene der Ferne. Der Kundschafter heute misst seinen nächsten Sozialraum aus, sucht dessen Abgründe zu erkennen und sichtbar zu machen. Aber er ist damit nicht nur Diagnostiker von Orten gesellschaftlicher Schieflagen, er sollte den Blick auch auf das richten, was neu wächst und zukunftsträchtig scheint - und seinem Entsender davon künden.
Auf Wunsch des Bischofs: Kundschafter für soziale Not
Kirche und Caritas, deren Handeln sich stets an den Zeichen der Zeit messen lassen muss, steht der Anspruch eines solchen Kundschaftens besonders gut zu Gesicht. Im Bistum Aachen hat Bischof Heinrich Mussinghoff in den "Leitlinien der Pastoral in den Gemeinschaften der Gemeinden des Bistums Aachen" (abrufbar unter: http://pastoralentwicklung.kibac.de) den ausdrücklichen Wunsch formuliert, dass auf der Ebene der Kirche am Ort auch Kundschafter für "soziale Not" in den Pastoralteams oder mittels Beauftragung eingesetzt werden.
Das Forum Diakonische Pastoral hält den Gedanken im Bistum wach. Dem Forum gehören Vertreter(innen) der Hauptabteilung Pastoral/Schule/Bildung des Bischöflichen Generalvikariats, des Caritasverbandes für das Bistum Aachen und des Diözesanrats der Katholiken an. Zu einem der Veranstaltungsformate des Forums gehört ein jährliches Werkstattgespräch. Zu diesen Tagungen sind alle eingeladen, die sich im Bistum Aachen für die diakonische Praxis einsetzen oder interessieren. Fachleute geben Impulse und die Teilnehmer(innen) tauschen sich untereinander aus. Darüber hinaus erhält das Forum Diakonische Pastoral selbst wichtige Rückmeldungen aus der Praxis. Auf außerordentliches Interesse stieß 2011 das Werkstattgespräch zum Thema: "Geht, erkundet das Land! - Zur Rolle von Kundschaftern für soziale Not."
Mehr als 70 haupt- und ehrenamtlich Engagierte haben an dem Werkstattgespräch teilgenommen und die Dimensionen des sozialen Kundschaftens mit Experten aus dem Bistum diskutiert: Was sind die biblischen Wurzeln des Kundschaftens? Wo sind seine Fallstricke, wenn doch der Kundschafter oft im Militärischen seinen Ursprung hat? Naiv wäre es, das Verhältnis des Kundschafters zum Beobachteten als neutral anzusehen. Beim Spion ist diese asymmetrische Beziehung offenkundig, im sozial motivierten Handeln stellen sich aber doch viele Fragen: Wird nicht etwa die vom Kundschafter identifizierte Person in vermeintlicher "sozialer Not" nicht gleichzeitig stigmatisiert? Dreht sich dann die beste Absicht des Kundschaftens nicht in ihr Gegenteil? Was heißt es eigentlich rauszugehen, zu den Menschen? Und: Wenn nicht der Mitmensch im Mittelpunkt der Motivation steht, verharrt das Kundschaften dann nicht in einer Selbstbezüglichkeit des Kundschaftenden?
Das Kundschaften bietet aber gerade auch die Chance für Kirche und Caritas, neue und andere Räume zu erschließen und als diakonische Kirche stets produktiv und einladend in einem Sozialraum da zu sein. Der Kundschafter spiegelt so auch die Widerstände und Veränderungsprozesse einer Gesellschaft wider. Er hält damit seinen Auftraggeber selbst lebendig, indem er Kirche im diakonischen Feld zu einem Knotenpunkt im Netz der gesellschaftlichen Akteure macht. Selbstverständlich ist dies für den Auftraggeber des Kundschafters auch eine Herausforderung, die Erkundungen aktiv zu deuten und Veränderungen zuzulassen. Damit dieser Herausforderung Rechnung getragen werden kann, sollte der Umgang mit strategischen Risikosituationen Teil der Ausbildung der Hauptamtlichen sein.
Widerstände und Veränderungsprozesse spiegeln
Das Konzept des Kundschaftens kann als wesentliche Ausformung des Diakonie-Begriffs verstanden werden, unter dem das Forum Diakonische Pastoral im Jahr 2009 seine Arbeit aufgenommen hat. Mit der Attribuierung der Pastoral als diakonisch wird das Diakonische innerhalb der kirchlichen Grundvollzüge neu betont. Wichtig ist dabei nicht nur die Option für die Armen, grundsätzlich muss es stets um die Würde der Betroffenen gehen: Solidarisches Handeln soll ihr Subjektsein stärken und eine freie Selbstentfaltung ermöglichen. In diesem Sinne sollten Kundschafter und Entsender stets an den Bedürfnissen der Menschen orientiert handeln. Das Forum Diakonische Pastoral möchte diakonisches Handeln im Bistum wahrnehmen, fördern und vernetzen. Die Zusammenarbeit zwischen dem Generalvikariat, dem diözesanen Caritasverband und dem Diözesanrat hat dabei das gute Miteinander der Akteure im Bistum wesentlich gestärkt. Auch wenn das Forum weitere Themen im Blick hat, so bildet doch die Perspektive des Kundschafters dabei einen roten Faden.
"So etwas machen wir schon immer"
Das Interesse für das Kundschaften ist im Bistum rege. Zu Recht gibt es aber Stimmen, die sagen: "So etwas machen wir schon immer." Gleichwohl ist der Wunsch des Bischofs, Kundschafter-Rollen zu besetzen, nochmals Motivation und Legitimierung zugleich, in seinem eigenen Sozialraum genau hinzusehen. Der Austausch im Forum als Vernetzungsgruppe zeigt zusätzlich: Die Einbindung in die Struktur der pastoralen Arbeit ist wichtig, zudem muss aber die Idee des Kundschaftens inhaltlich lebendig gehalten werden.
Ein Angebot des Forums, das unter anderem auch von der Idee des Kundschaftens getragen ist, ist das Kursangebot "GdG (Gemeinschaft der Gemeinden) gestalten. Werden Sie Expertin/Experte für soziale Belange vor Ort". Es handelt sich um ein Weiterbildungsangebot für Ehrenamtliche, das auf vier Tage über ein Dreivierteljahr verteilt ist. Die Teilnehmer(innen) werden dabei von einem Paten aus dem Pastoralteam unterstützt. Inhaltlich werden die Teilnehmer(innen) von einem erfahrenen Coach in dem Dreischritt "Sehen - Beurteilen - Handeln" ausgebildet. Der eigene Sozialraum, die Grundlagen der Sozialraumorientierung und die eigene Rolle sind ebenso Thema wie die Initiierung eines kleinen eigenen Projekts. Dieses orientiert sich an dem tatsächlichen Bedarf der Menschen aus dem lokalen Umfeld, aber auch an den Möglichkeiten des Aktiven.
Unaufdringliche Hilfe für Betroffene
Ein Beispiel aus dem Kreis Heinsberg kann die Intention des Kurses verdeutlichen: Eine Teilnehmerin fühlte sich nicht mehr wohl mit den Angeboten der klassischen Pfarr-Caritas. Der Kurs hat sie und ihre Mitstreiterinnen bestärkt zu schauen: Wo gibt es an ihrem Ort Bedarf? Daraus ist das Projekt "Helfende Hände" entstanden. Ein Pool von Ehrenamtlichen hat sich gebildet, der mit Besorgungen und Fahrdiensten weniger Mobile in der ländlich geprägten Region unterstützt. Die Not wurde gesehen, dass im eigenen Sozialraum Menschen alleine leben, nicht mobil sind und es gleichzeitig keine fußläufigen Geschäfte mehr gibt. Das Projekt bietet sich nun unaufdringlich an, den Betroffenen eine Hilfe zur eigenen Selbstständigkeit zu geben. Zu den Erfolgsfaktoren zählte dabei die Integration in die Pfarrstruktur, also die Unterstützung durch die Gemeindereferenten und die Wertschätzung durch die Pfarrgremien. Nicht an allen Orten ist dies gelungen, gerade auch dort, wo die Beteiligung der Menschen im Sozialraum fehlt. Dann ist es sinnvoll - zum Beispiel mit Begleitung der Gemeindecaritas - die engagierten Fortbildungsteilnehmer(innen) zu stärken und das Projekt eventuell neu auszurichten.
Die ehrenamtlichen Kursteilnehmer(innen) werden implizit auch zu Kundschaftern ausgebildet. Die Anbindung durch das Patenmodell an die Arbeit des Pastoralteams bildet einen Vernetzungseffekt und führt dazu, dass die gesehenen sozialen Problemlagen auch bei den Hauptamtlichen ankommen. Umgekehrt können diese aber auch die Teilnehmer(innen) entlasten und vor einer Überforderung schützen, indem sie die Handlungsoptionen übernehmen oder steuern.
Das Forum Diakonische Pastoral plant aktuell, der Idee des Kundschafters durch eine Mitmachkampagne in der Breite ein Gesicht zu geben. Dies soll viele Menschen im Bistum Aachen neugierig machen, selbst die Bedarfe des eigenen Sozialraums zu erkunden, aber auch zu erkennen: "Das, was ich mache, ist ja so etwas wie Kundschaften." Für Kirche und Caritas sind diese Kundschafter eine Erinnerung an die Herausforderung, immer auch den Blick aus den eigenen Räumen hinaus zu richten, unbekanntes Land wahrzunehmen und Schlussfolgerungen für das eigene Handeln zu riskieren.