Für die Pflege bleibt kein Geld
Als wir kommen, sitzt Zef Tuci auf einem Steinblock auf halbem Wege zwischen dem windschiefen Gartentürchen und der steilen Treppe, die ins Haus führt. Er winkt uns zu und lacht. Schwester Dafina, die wir beim Hausbesuch begleiten, entfährt ein ebenso überraschter wie besorgter Aufschrei. "Herr Tuci, wie haben Sie das nur geschafft?", ruft sie ihm zu. Zusammen mit seiner Frau hilft die 26-jährige Ordensfrau und Krankenschwester ihm hoch, dann drücken und ziehen die beiden Frauen ihn vorsichtig den steilen Weg und die noch steilere, baufällige Treppe zurück ins Haus.
Zef Tuci ist 67 Jahre alt. Er war Lehrer. Erst spät fand er die Liebe seines Lebens. Zusammen mit seiner Frau hat er drei Kinder, die zwölfjährige Rinda, den zehnjährigen Driti und den sechsjährigen Gezimi, der behauptet, heute sei die Schule ausgefallen. Der Besuch aus Deutschland ist viel interessanter. Jetzt steht der Junge auf der obersten Stufe und sieht traurig zu, wie seine Mutter und Schwester Dafina seinen todkranken Vater stützen.
Schon von außen betrachtet sieht das einstöckige Haus der Familie einsturzgefährdet aus. Nur das obere Stockwerk ist bewohnbar. Es besteht aus einem langen Korridor mit drei oder vier kleinen Zimmern auf jeder Seite. Die meisten haben keine Fenster, Rahmen und Türen mehr. Schutt und Müll versperren den Weg. In den vier Räumen, die die Familie bewohnt, herrscht Ordnung. Das ist auch nicht schwer, denn ihre wenigen Habseligkeiten brauchen kaum Platz.
Die Familie lebt zurzeit von 98 Euro Rente und Sozialhilfe im Monat. Das reicht selbst in Albanien, dem Armen-haus Europas, nicht zum Leben. "Wenn wir Nahrungsmittel wie Mehl, Zucker, Öl, Nudeln oder Reis bekommen, helfen wir damit Zef Tucis Familie", erzählt Schwester Dafina. Aber es gibt nur noch wenige Menschen im Ausland, die bereit sind, für Albanien zu spenden. "Denn es ist wohl kaum glaubhaft und begreiflich zu machen, in welcher Armut die Menschen in den entlegenen Gebieten hier leben."
Bis 1991, als nach der "Samtenen Revolution" in Osteuropa auch hier das kommunistische Regime zusammenbrach, galt Albanien als das Nordkorea Europas. Diktator Enver Hoxha, der 1985 starb und von seinen Kindern beerbt wurde, regierte das Land jahrzehntelang mit unvorstellbarer Brutalität erst nach sowjetischem Vorbild, dann eiferte er der chinesischen Kulturrevolution nach und isolierte Albanien schließlich völlig. Er überzog das Land mit mehr als einer halben Million Bunkern, um die Bevölkerung vor dem vermeintlichen imperialistischen Feind im Ausland zu schützen, und baute Radiostationen mit riesigen Sendemasten, um seine Ideologie möglichst flächendeckend zu verbreiten.
Offiziellen Statistiken zufolge zählt Albanien 2,2 Millionen Einwohner(innen). Hinzu kommen schätzungsweise 1,3 Millionen Albaner(innen), die im Ausland arbeiten. Etwa acht Prozent der Bevölkerung sind offiziell im Rentenalter (200.000) - doch nach Berechnungen der privaten Selbsthilfeorganisation "Vereinigung für die Integration der Rentner in Albanien" sind es 572.000, also mehr als doppelt so viele. Bei der weltweiten Finanzkrise im Jahr 2010 haben viele Albaner(innen) ihre Arbeit im europäischen Ausland verloren. Sie können ihre Eltern und Angehörigen daheim nicht länger finanziell unterstützen.
Extreme Armut im Alter
Osman Terziu, Vorsitzender der Selbsthilfeorganisation, schätzt, dass inzwischen 90.000 ältere Menschen in extremer Armut leben. In Großstädten wie Tirana oder Durres erhalten Rentner(innen) gerade noch 30 Prozent ihres letzten Gehalts: 80 bis maximal 120 Euro im Monat. Das reicht nur für Strom, Wasser, öffentliche Verkehrsmittel und Medikamente. Auf dem Land bekommen sie zwischen 48 und 60 Euro im Monat. Im Vergleich geht es ihnen dort besser, weil die Lebenshaltungskosten deutlich geringer sind. "Obwohl die staatliche Pflicht-Krankenversicherung die Kosten für eine ganze Reihe von Medikamenten zum Teil und für ambulante Dienste und das Krankenhaus angeblich komplett erstattet, müssen wir in Wahrheit alle Leistungen und sogar noch die Einwegspritzen extra bezahlen", berichtet Terziu.
Für Menschen, die alt, chronisch krank und pflegebedürftig sind, gibt es so gut wie keine angemessene Versorgung. Nach einer Studie des albanischen Juristen Kondi Ilia über die gesetzlichen Rahmenbedingungen und die Lage älterer Menschen gibt es nur fünf staatliche stationäre Einrichtungen: in Tirana, Shkoder, Gjirokaster und Fier. Sie bieten Platz für rund 300 Bewohner(innen). Hinzu kommen 14 staatliche Tageszentren, die zum Teil durch die Weltbank finanziert werden. Dort werden etwa 400 Menschen im dritten Lebensalter betreut. In der Altenhilfe engagieren sich zudem 29 Nichtregierungsorganisationen, darunter die Caritas Albanien. Aber auch sie können den Bedarf von einigen zehntausend alten, kranken und pflegebedürftigen Menschen in Albanien nicht annähernd decken.
Die Caritas versorgt Schwerkranke palliativ
Die Caritas hat ein Projekt der Hauskrankenpflege, vornehmlich für Palliativpflege, ins Leben gerufen. An den drei Standorten Rreshen und Lezha im Norden sowie Elbasan in Zentralalbanien werden 100 pflegebedürftige Menschen versorgt. Darüber hinaus fördert die Caritas eine ehrenamtlich organisierte Hospizarbeit. Die Kosten liegen bei 40.000 Euro im Jahr. Die Finanzierung ist bis Oktober 2013 gesichert. Danach droht das Aus.
Rreshen ist ein verschlafenes Städtchen im Nordosten Albaniens. Dort arbeiten Schwester Dafina und ihre Kollegin. "Wir betreuen hier nur 30 Personen, aber nicht, weil es an Bedarf oder Nachfrage mangelt!", erklärt Schwester Dafina. "Wir haben nur 230 Euro im Monat für Medikamente und wollen bei niemandem Hoffnungen auf Hilfe wecken, die wir hinterher nicht erfüllen können."
Da ist die erschöpfte Dava Prenga, die neben ihrem bettlägerigen, an Parkinson erkrankten Vater auch noch ihre beiden 93 und 86 Jahre alten, ebenfalls bettlägerigen Großmütter pflegt. Oder der 41-jährige Gjon Berisha, der Gewichtheber war. Er träumte von einem besseren Leben und ging als Bauarbeiter nach Griechenland. Infolge eines Arbeitsunfalls ist er seit elf Jahren querschnittsgelähmt. Als die beiden Schwestern auf ihn aufmerksam wurden, lebte er mit seiner Mutter in menschenunwürdigen Verhältnissen. Da sich keine bessere Lösung fand, kaufte die Caritas für ihn und seine Mutter eine Wohnung. Obwohl er jetzt ein Zimmer im Erdgeschoss bewohnt, kann er es nicht verlassen. Barrierefreiheit für Rollstuhlfahrer gibt es nirgendwo in Albanien. Neben seinem Bett steht ein Barren, an dem er fast jeden Tag trainiert. Wenn die Schwestern Geld haben, kaufen sie Pampers für ihn. Am meisten aber brauche er seelische Unterstützung, weiß Dafina. An manchen Tagen sei es schier unmöglich, ihn in seiner Verzweiflung aufzumuntern.
Der zweite Arbeitsplatz der beiden Krankenschwestern ist das Krankenhaus von Rreshen. Bei Zef Tuci wurde Hautkrebs diagnostiziert, und er wurde operiert. In seiner Schulter klafft eine handtellergroße Wunde. Seit er wieder zu Hause ist, besuchen die beiden Frauen ihn regelmäßig, um den Verband zu wechseln. Da er glaubt, der Alkohol würde seine Schmerzen lindern, treffen sie ihn selten nüchtern an. Unser Besuch ist für Schwester Dafina "ein Geschenk Gottes": Der Strohhalm, an den sie ihre Hoffnung klammert, dass wir Spender(innen) finden werden, damit es für ihre Patient(inn)en auch weiterhin eine häusliche Krankenpflege gibt.
Anmerkung
1. Eine Delegation von Fachkräften der Caritas und Botschafter(inne)n von Caritas international aus Aachen, Frankfurt, Freiburg, Gießen, Köln, Moers-Xanten, Wiesbaden, Worms und Wuppertal-Solingen besuchte die Caritas Albanien zum kollegialen Fach- und Erfahrungsaustausch. Caritas international, das Hilfswerk des Deutschen Caritasverbandes, hat die Reise organisiert.
Mehr zu Albanien siehe auch unter: www.caritas-international.de/hilfeweltweit/ europa/albanien