Kirche für die Armen – was heißt das für die Caritas?
Bei seiner ersten Pressekonferenz am 16. März 2013 sagte Papst Franziskus: „Ich möchte eine arme Kirche und eine Kirche für die Armen.“ Auch die Wahl seines Papstnamens steht für das Programm einer Kirche, die auf Reichtum und Privilegien verzichtet, um für die Armen da sein zu können. Damit stellt sich der Papst in einen Gegensatz zumindest zu einem Teil bisheriger kirchlicher Praxis. Noch vor kurzem wurde die Option für die Armen immer wieder unter Ideologieverdacht gestellt und vonseiten der römischen Kurie zu relativieren versucht.
Schaut man in die Bibel, so ist man noch nachträglich verwundert, dass eine solche Forderung als etwas Bemerkenswertes erscheint. Schon die prophetische Kultkritik fordert, den Armen Gerechtigkeit zu verschaffen, bevor man sich der kultischen Verehrung widmet (zum Beispiel Jes 1,11–17). Jesus stellt sich in diese prophetische Tradition. Nach der Gerichtsrede in Matthäus 25 hängt unser ewiges Heil daran, was wir den „geringsten“ der Schwestern oder Brüder Jesu getan oder nicht getan haben (Mt 25, 40–45). Im Magnifikat dankt Maria Gott für die Empfängnis des Heilands und bringt zum Ausdruck, was die Ankunft des Sohnes Gottes auf Erden bedeutet: „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.“ (Lk 1, 52f). Bemerkenswert ist auch die immer wieder angeführte Samaritererzählung (Lk 10, 25–37), die ja durchaus in einem Heilskontext steht („Was soll ich tun, um das ewige Leben zu erlangen?“ – Vers 25). Priester und Levit gehen am hilfsbedürftigen Reisenden vorüber. Sie fühlen sich durch religiöse Vorschriften an der nötigen Nächstenliebe gehindert. Als Modell des richtigen Handelns erscheint ausgerechnet ein Fremder, von dessen religiöser Praxis nichts berichtet wird und der sogar der „falschen“ Konfession angehört. Schärfer kann eine Kritik am vermeintlichen Primat einer religiösen Kultpraxis kaum sein. Offenbar sind nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, auch nicht der Empfang von Sakramenten oder die Erfüllung religiöser Pflichten, sondern diakonisches Handeln heilsrelevant.
Impulse aus der Bibel
Niemand kann also bestreiten, dass den Armen ein vorrangiger Platz zukommt. Umso erstaunlicher ist, dass dies in der Geschichte so oft vergessen oder in den Hintergrund gedrängt wurde. Freilich gab es auch immer wieder Proteste gegen dieses Verdrängen. Die Gründung von Bettelorden im 13. Jahrhundert und die Entstehung der Befreiungstheologie vor einigen Jahrzehnten gehören zu dieser Traditionslinie. Heute haben wir einen Papst, der selbst die Option für die Armen einklagt. Die Fußwaschung in einem Jugendgefängnis am Gründonnerstag, der Besuch der Flüchtlinge auf der Insel Lampedusa, sein Verzicht auf aufwendige Gewänder und die Entscheidung, nicht im päpstlichen Palast zu wohnen, sprechen eine deutliche Sprache. Jüngst verlangte der Papst bei einem Besuch im Flüchtlingszentrum der Jesuiten, die Orden sollten leerstehende Klöster nicht in Hotels umwandeln, sondern Flüchtlinge aufnehmen.
Papst Franziskus propagiert damit aber eigentlich nichts Neues, sondern knüpft an das Zweite Vatikanische Konzil an. In einer Radioansprache 1962 hatte Johannes XXIII. gesagt: „Gegenüber den unterentwickelten Ländern erweist sich die Kirche als das, was sie ist und sein will, die Kirche aller, vornehmlich die Kirche der Armen.“ Dieser Gedanke hat dann Eingang gefunden in den ersten Satz der Pastoralkonstitution: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“ Für die dogmatische (!) Konstitution über die Kirche gehört die Liebe zu den Armen zur kirchlichen Identität: „[…] in den Armen und Leidenden erkennt sie das Bild dessen, der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war.“ (LG 8)
Weil diese Formulierungen manchen Konzilsvätern nicht weit genug gingen, schlossen sie sich zur Gruppe „Kirche der Armen“ zusammen. 40 Bischöfe unterschrieben am 16.11.1965 den „Katakombenpakt“, eine Reihe von Selbstverpflichtungen, um ein einfaches Leben zu führen, auf Machtsymbole zu verzichten und für die Armen da zu sein. Später schlossen sich weitere 500 Konzilsväter an. Ihr Anliegen fand wenige Jahre später, 1968, einen deutlichen Widerhall im Abschlussdokument der lateinamerikanischen Bischofsversammlung von Medellín. Im Kapitel 14 über Armut der Kirche fordern die lateinamerikanischen Bischöfe einen klaren Vorrang für die Armen, tätige Solidarität mit ihnen sowie anwaltschaftliches Eintreten für sie durch die Anklage der Ungerechtigkeiten, die sie in Armut halten. Und sie wollen mit der eigenen Umkehr beginnen: „Wir möchten, dass unser Wohnstil und Lebensstil bescheiden sind, unsere Kleidung einfach, unsere Werke und Institutionen funktionsgerecht, ohne Pomp und Prunksucht. Wir richten an die Priester und Gläubigen die Bitte, uns eine Behandlung zukommen zu lassen, die unserer Sendung als Väter und Hirten entspricht, denn wir möchten auf die Ehrentitel verzichten, die einer früheren Zeit angehören.“
Armenorientierte Praxis
Manche lateinamerikanischen Bischöfe sind tatsächlich aus ihren Palais ausgezogen. Priester und Ordensleute sind in die Elendsviertel gegangen, um mit den Armen zu leben. Orden haben ihre teuren Privatschulen aufgegeben, um ihre Bildungsarbeit auf die Armen hin auszurichten. Einige haben sich angesichts langanhaltender Gewaltherrschaft von Diktaturen sogar bewaffneten Oppositionsgruppen angeschlossen. Viele dieser Umkehrprozesse waren und sind umstritten. Welche armenorientierte Praxis die richtige ist, lässt sich auch nie abstrakt entscheiden, sondern hängt von der Situation ab – und sicherlich kann und muss es eine Vielfalt unterschiedlicher Praxisentwürfe geben. Auch wenn Papst Franziskus vielleicht kein Befreiungstheologe ist und radikalen Forderungen immer mit Skepsis begegnete, so ist doch klar, dass sein Denken und Handeln von diesem Impuls der Option für die Armen durchdrungen ist.
Aber welche Schlussfolgerungen müssten wir als Kirche in Deutschland daraus ziehen? Was bedeutet dies insbesondere für die Caritas? Volker Resing hat in Christ und Welt (Ausgabe 13/2013) unter der Überschrift „Franziskus ist gefährlich“ darauf hingewiesen, dass solche Forderungen für die Katholiken in Deutschland noch ganz schön unangenehm werden könnten. Dabei stellte er eine Verbindung her zur Freiburger Rede von Papst Benedikt XVI. und seiner Forderung der „Entweltlichung“ und meinte im Vergleich der beiden Päpste: „Bequemer als der Vorgänger wird er nicht.“ Schaut man jedoch genauer hin, so lassen sich wichtige Unterschiede nicht übersehen.
Strategien der Päpste
Papst Benedikts Forderung nach Entweltlichung ist geprägt von einer dualistischen Gegenüberstellung von Welt und Kirche, wobei der Welt der negative, der Kirche der positive Part zukommt. Zwar soll sich die Kirche nicht aus der Welt zurückziehen, aber die Kirche hat von der Welt nichts zu lernen, braucht nicht in einen Dialog mit ihr einzutreten, braucht in ihr nicht nach Zeichen der Gegenwart Gottes zu suchen, weil sie selbst dieses Zeichen schon ist. Alles Negative in der Kirche wird auf Einflüsse der Welt zurückgeführt, so auch die Missbrauchsfälle, und das, obwohl es ja auch gerade „die Welt“ war, die die Kirche dazu gezwungen hat, ihre Praxis der Vertuschung zu überwinden. Auch Jorge Mario Bergoglio hatte am 9. März im Vorkonklave von einer „weltlichen“ oder „verweltlichten“ Kirche gesprochen (in manchen Übersetzungen mit „mondäner Kirche“ wiedergegeben) und meinte damit eine „narzisstische“, „selbstbezügliche“ Kirche, die „in sich, von sich und für sich“ lebt, die glaubt, selbst das Licht zu sein, während das Gegenteil für ihn eine Kirche ist, „die aus sich selbst herausgeht, um zu evangelisieren“, die „bis an die Peripherien“ geht. Die Kritik der beiden Päpste an der Kirche mag ähnlich klingen, aber die vorgeschlagenen Heilmittel sind verschieden. Während der Papa emeritus, wie Michael Ebertz schreibt, eine Strategie der „elitären Minorisierung“ einschlug, die immer in der Gefahr steht, in Selbstbezüglichkeit zu münden, lässt sich das Anliegen von Papst Franziskus als armenorientierte Öffnung beschreiben. Während für Papst Benedikt der Bezug zur theologischen Wahrheit, wie sie die Kirche verkündet, zentral war, steht für Papst Franziskus die Praxis der Gerechtigkeit im Vordergrund.
Es ist verständlich, dass konservative Katholiken bemüht sind, den Kontrast zwischen den beiden Päpsten nicht als zu groß erscheinen zu lassen. Ein Versuch in dieser Richtung findet sich in dem Buch „Benedikts Vermächtnis und Franziskus’ Auftrag: Entweltlichung“ von Kardinal Josef Cordes und Manfred Lütz. Beide wenden sich gegen den „mächtigen Deutschen Caritasverband“ und den „deutschen Institutionenkatholizismus“. Zu Recht verweist Lütz auf das Problem, das entsteht, wenn kirchliche Träger geschiedene und wiederverheiratete Ärzte oder eine Kindergärtnerin entlassen, die mit ihrem Lebensgefährten ohne Trauschein zusammenlebt. Um solche Probleme zu vermeiden, schlägt er vor, die Kirche möge auf „Arbeitgeber-Macht“ verzichten und sich aus all den Bereichen zurückziehen, für die sie nicht mehr ausreichend „katholische“ Mitarbeiter(innen) finden könne.
Bedenkt man jedoch, wie sehr diese Kriterien der Katholizität auch innerkirchlich umstritten sind, wie sehr auch Moraltheolog(inn)en heute dafür plädieren, in Fragen der persönlichen Lebensführung und der Sexualität autonome Gewissensentscheidungen zu respektieren, dann ist dieser Vorschlag von Lütz der falsche Vorschlag. Das Glaubwürdigkeitsproblem entsteht nicht durch die starke und in der breiten Öffentlichkeit positiv geschätzte Präsenz kirchlicher Träger im Sozialbereich, sondern durch das Festhalten an einigen längst überholten Morallehren der Kirche. Nach allem, was oben über die Option für die Armen gesagt wurde, lässt sich das „katholische Profil“ caritativer Einrichtungen sicherlich nicht vorrangig an der privaten Lebensführung der Mitarbeitenden festmachen, sondern doch viel mehr daran, dass sie wirklich die Not der Armen lindern. Sollen die Armen darunter leiden, dass es die Kirche nicht schafft, ihre Sexualmoral zu reformieren? Seine Polemik geht noch weiter: Lütz spricht den entlohnten Mitarbeitern der Caritas sogar ab, „Caritas zu machen“: „Caritas heißt Liebe, und bezahlte Liebe gibt es in Hamburg vor allem auf Sankt Pauli.“ (S. 139)
An dieser Stelle ist ein Rückblick auf die Lernprozesse im deutschen Sozialkatholizismus des 19. Jahrhunderts angebracht. Betroffen von der großen Not vieler Menschen, die durch die Industrialisierung entwurzelt und in Armut gestoßen wurden, teilweise auch angespornt durch das Konkurrenzverhältnis zu Protestanten und Sozialisten, haben sich katholische Kleriker und Laien ab der Mitte des 19. Jahrhunderts dieser „sozialen Frage“ angenommen. Sie setzten dabei zunächst auf individuelle Hilfeleistung und religiöse Bekehrung.
Verbandliche Caritas ist eine Errungenschaft
Doch schon bald war klar, dass man diese Hilfe organisieren, dass man die Hilfstätigkeit effizient gestalten, sie auf eine sichere finanzielle Basis stellen muss, dass es in vielen Fällen Spezialkenntnisse und Professionalität in der Hilfe braucht, dass Ehrenamtliche unterstützt und fortgebildet werden müssen, dass man in Kirche und Staat anwaltschaftlich für die Betroffenen eintreten und deren Selbstorganisation fördern muss, dass die Armen Rechte haben und zu deren Gewährleistung der Staat in Anspruch genommen und dass für dies alles geeignete Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen. Diese Entwicklung von individueller Hilfstätigkeit zu organisierter Caritas, von spontaner Linderung aktueller Not zur dauerhaften Sicherung sozialer Rechte, vom Setzen auf den guten Willen vieler zur verbindlichen institutionellen Absicherung ist ein großer Erfolg der sozialkatholischen Bewegung (und entsprechender evangelischer Initiativen), auf den Christen noch heute stolz sein können und hinter den sie nicht mehr zurückfallen sollten. Wenn dann – was ebenfalls ein Anliegen dieses Sozialkatholizismus war und bleiben muss – bei der Sicherung der nötigen staatlichen Leistungen der Staat dem Subsidiaritätsprinzip folgt, weil er nicht alles selbst zu machen braucht, sondern auf zivilgesellschaftliche Kräfte vertrauen kann, die er finanziell unterstützt, auch um eine Vielfalt an Trägern im sozialen Bereich zu gewährleisten, die den Hilfsbedürftigen Wahlfreiheit sichert, dann muss er darauf hoffen, dass sich nichtstaatliche Träger der nötigen Mitwirkung nicht entziehen. Anders gesagt: Es gehört zu den Gemeinwohlpflichten der Kirche, dass sie sich nicht aus dem sozialen Bereich zurückzieht. Ein solcher Rückzug der Kirche wäre keineswegs eine sinnvolle und moralisch gebotene „Entweltlichung“, sondern ein Verrat an den sozialkatholischen Lernerfahrungen des 19. Jahrhunderts und eine schwere Verletzung der Gemeinwohlpflichten der Kirche, ganz abgesehen davon, dass er auch ihrem Ansehen in der Gesellschaft und ihrer Glaubwürdigkeit schweren Schaden zufügen würde.
Mit diesen Überlegungen ist aber die Frage noch nicht vollständig beantwortet, was die Forderung nach einer „armen Kirche“ bedeutet. Sicherlich verlangt sie nicht den Verzicht auf Mittel, die man für den Kampf gegen Armut braucht. Sie verlangt aber, vorhandene Mittel vorrangig für diesen Zweck einzusetzen, also Ausgaben zu vermeiden, die überflüssig sind, die nicht in einem direkten oder mindestens indirekten Zusammenhang zur Armutsbekämpfung stehen. Wichtig ist deshalb die „heute vor allem im Bereich der caritativen Einrichtungen zunehmende Wachheit für die ökonomischen Aspekte des eigenen Tuns, weil der wirtschaftliche Einsatz vorhandener Ressourcen ermöglicht, caritative Ziele effektiver zu erreichen. Es scheint also unter den gegebenen Umständen nicht die freiwillige Trennung von vorhandenen Ressourcen der Klarheit des religiösen Auftrags dienlich zu sein, sondern die reflektierte Unterscheidung von ökonomischen Mitteln und sozialen oder religiösen Zielen.“ (Kaufmann 2012, S. 123)
Die Vorreiterrolle einnehmen
Glaubwürdig für die Armen eintreten kann schließlich nur jemand, der auch selbst einfach lebt, wobei es sicherlich sehr schwierig ist, genauer zu bestimmten, wie ein einfacher Lebensstil konkret auszusehen hätte. Dies hängt von der allgemeinen Wohlstandsentwicklung im jeweiligen Umfeld ab, wobei auch die globale Armutsproblematik ein wichtiger Aspekt dieses Kontextes ist und nicht vergessen werden darf. Christen und Kirche sollten zumindest eine Vorreiterrolle in den Fragen einnehmen, in denen von allen Menschen ein anderer Lebensstil einzufordern ist: also zum Beispiel weniger Energie verbrauchen, umweltverträglich hergestellte Produkte kaufen, weniger Fleisch essen und auf Prestigekonsum verzichten. Allzu radikale Forderungen könnten sich jedoch schnell als kontraproduktiv oder schlicht als unrealisierbar erweisen. Dies musste auch schon der Franziskanerorden lernen. Wie Christoph Nebgen kürzlich bei einem Vortrag an der Universität Mainz darstellte, wurde die Ordensregel deshalb mehrfach modifiziert. So führte Gregor IX. 1230 sogenannte „Nuntien“ ein, die stellvertretend für die Brüder, die kein Geld besitzen durften, Almosen annehmen, verwalten und sie zur Stillung dringender Bedürfnisse nach den Weisungen der Brüder ausgeben konnten. Wenn Papst Franziskus im Juni in einer Predigt betonte, der Apostel Petrus habe über kein Bankkonto verfügt, so kann dies vielleicht bedeuten, dass der Vatikan nicht unbedingt eine eigene Bank braucht. Man kann daraus aber nicht ableiten, dass Kirche und Caritas heute ohne Geld, ohne Bankkonten und ohne ethisch verantwortbare Geldanlagen auskommen könnten.
Vielleicht liefern die Selbstverpflichtungen des Katakombenpakts erste Anhaltspunkte für eine konkretere Bestimmung eines einfachen Lebensstils. In ihnen (www.pro-konzil.de/?p=140) verpflichteten sich die Bischöfe unter anderem, „so zu leben, wie die Menschen um uns her üblicherweise leben, im Hinblick auf Wohnung, Essen, Verkehrsmittel und alles, was sich daraus ergibt. […] Wir verzichten ein für allemal darauf, als Reiche zu erscheinen wie auch wirklich reich zu sein, insbesondere in unserer Amtskleidung (teure Stoffe, auffallende Farben) und in unseren Amtsinsignien, die nicht aus kostbarem Metall – weder Gold noch Silber – gemacht sein dürfen, sondern wahrhaft und wirklich dem Evangelium entsprechen müssen […].“ Aber auch die Bischöfe des Katakombenpaktes hatten ein waches Bewusstsein dafür, dass es nicht genügt, ihren Lebensstil zu ändern, sondern sie wollten „alles dafür tun, dass die Verantwortlichen unserer Regierung und unserer öffentlichen Dienste solche Gesetze, Strukturen und gesellschaftliche Institutionen schaffen und wirksam werden lassen, die für Gerechtigkeit, Gleichheit und gesamtmenschliche harmonische Entwicklung jedes Menschen und aller Menschen notwendig sind“.
Die Forderung nach einer „armen Kirche“ wäre überdies sicherlich falsch verstanden, wenn sie zu einem freudlosen Rigorismus führen würde. Armut ist kein Selbstzweck und darf nicht der Gesundheit, der Lebensfreude, der Gastfreundschaft oder dem Leben in Gemeinschaft schaden. Im Gespräch mit Sergio Rubin und Francesca Ambrogetti hatte Jorge Mario Bergoglio erwähnt, einer seiner Lieblingsfilme sei „Babettes Fest“ (S. 44). In diesem beeindruckenden dänischen Film geht es um eine ins Exil in eine pietistische Gemeinde geflohene Französin, die nach einem Lottogewinn zu einem Festmahl einlädt, dazu die besten Zutaten aus Frankreich kommen lässt und ein hervorragendes Menü kocht. Der gute Geschmack dieses Essens und die Liebenswürdigkeit dieser Französin lassen die dänischen Pietisten schließlich ihre Lustfeindlichkeit vergessen und ein Fest der Versöhnung und der Lebensfreude feiern. Auch das gehört zur Weisheit des armen Volkes in Lateinamerika und sicherlich auch des neuen Papstes: dass Armut und Lebensfreude keine Gegensätze sein müssen oder gar sein sollten.
Literaturhinweise
Arntz, Norbert: „Für eine dienende und arme Kirche“. Der Katakombenpakt als subversives Vermächtnis des II. Vaticanums. In: Bitter, Gottfried und Blasberg-Kuhnke, Martina (Hrsg.): Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft. Würzburg, 2011, S. 297–307.
Cordes, Paul Josef; Lütz, Manfred: Benedikts Vermächtnis und Franziskus’ Auftrag. Entweltlichung : eine Streitschrift. Freiburg, 2013.
Ebertz, Michael N.: Päpstlicher Kirchenkurs. Die Option der elitären Minorisierung. In: Erbacher, Jürgen (Hrsg.): Entweltlichung der Kirche? Die Freiburger Rede des Papstes. Freiburg, 2012, S. 125–139.
Erbacher, Jürgen: Papst Franziskus. Aufbruch und Neuanfang. München : Pattloch, 2013.
Kaufmann, Franz Xaver: Entweltlichung. Anmerkungen zur Freiburger Rede von Papst Benedikt XVI. In: Erbacher, Jürgen (Hrsg.): Entweltlichung der Kirche? Die Freiburger Rede des Papstes. Freiburg, 2012, S. 115–124.
Rahner, Karl: Theologie der Armut. In: Rahner, Karl: Sämtliche Werke, Bd. 13. Freiburg : Herder, 2006, S. 563–594.
Rubin, Sergio; Ambrogetti, Francesca: Papst Franziskus. Mein Leben – mein Weg. Die Gespräche mit Jorge Mario Bergoglio von Sergio Rubin und Francesca Ambrogetti. Freiburg, 2013.