Auf die eigene Haltung kommt es an
Es ist möglich, Verhaltensweisen so zu verändern, dass ein gleichwertiges Miteinander entsteht. Dies zeigen die mit dem Anti-Bias-Ansatz gemachten Erfahrungen. Seit Ende der 1990er Jahre wird er in Deutschland immer bekannter und hat Eingang in zahlreiche Vorhaben und Projekte sowie in die Konzepte von Bildungseinrichtungen und Behörden gefunden.
Das englische Wort "Bias" bedeutet übersetzt "Voreingenommenheit" oder auch "Einseitigkeit". Anti-Bias in der pädagogischen Arbeit und im Bildungsbereich zielt darauf ab, eine Schieflage, die aufgrund von Einseitigkeiten und Vorurteilen entsteht, ins Gleichgewicht zu bringen. Dadurch sollen Diskriminierungen abgebaut und verhindert werden.
Alle Formen von Vorurteilen werden thematisiert
Das Besondere ist, dass sich der Ansatz mit allen Formen von Einseitigkeiten, Vorurteilen und den damit zusammenhängenden Diskriminierungen aufgrund von Herkunft, Geschlecht, Behinderung, sexueller Orientierung, Bildungsstand, sozialem Status und Alter beschäftigt. Dabei geht es auch um die gesellschaftliche Bewertung dieser Unterschiede, die zu Diskriminierung führen können. Der Ansatz bezieht auch institutionelle Diskriminierung mit ein. Seine Wurzeln hat er in den 1980er Jahren. Er wurde in den USA von Louise Derman-Sparks und Carol Brunson-Phillips1 insbesondere für den schulischen Elementar- und Primarbereich konzipiert.
In Südafrika haben Pädagog(inn)en2 aus dem Umfeld der Bildungsorganisation Early Learning Ressource Unit (ELRU)3 den Anti-Bias-Ansatz aufgenommen und verstärkt nach dem Ende der staatlichen Apartheid umgesetzt. Sie entwickelten - auf der Basis der US-amerikanischen Anti-Bias-Praxis für Kleinkinder - in Kombination mit anderen Methoden Lerneinheiten und Seminarformen für den Schulbereich und die Erwachsenenbildung.
Interessanterweise kam der Anti-Bias-Ansatz aus zwei Richtungen nach Deutschland: Zum einen adaptierte das Projekt "Kinderwelten"4 diesen aus den Vereinigten Staaten und implementierte ihn im deutschen Kontext in den Kita-Bereich.
Zum anderen fand das Konzept im Rahmen des Projekts "Vom Süden lernen" (Inkota-Netzwerk e.V.5 in Zusammenarbeit mit südafrikanischen Trainer(inne)n den Weg in den deutschen Bildungsbereich und die erwachsenenpädagogische Weiterbildung. Die Arbeit am Ansatz ist ein fortlaufender Prozess, und auch in anderen - außer den hier genannten - Ländern gibt es Erfahrungen damit.
Vorurteilsbewusst mit Vielfalt umgehen
Anti-Bias ist ein präventives, diversitätsbewusstes und diskriminierungskritisches Praxiskonzept. Es geht darum, vorurteilsbewusst mit Vielfalt und Unterschiedlichkeit auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten umzugehen und aktiv an Veränderung zu arbeiten.
Die Ziele sind:
- Sensibilisierung hinsichtlich Vorurteilen gegenüber verschiedenen gesellschaftlich konstruierten Kategorien,
- Bewusstmachen von diskriminierenden Strukturen und Verhaltensweisen,
- Arbeit an der eigenen Haltung,
- Entwicklung alternativer Handlungsstrategien,
- Veränderung von Strukturen.
Ein Ausgangspunkt ist: Jeder Mensch hat Vorurteile. Diese werden von früher Kindheit an durch die Familie, durch Bekannte, Freund(inn)e(n) und Medien erlernt. In bestimmten Situationen können sie zu Diskriminierung führen. Allerdings gibt es Unterschiede, wie stark jemand von Vorurteilen und deren Auswirkungen betroffen ist. Dies hängt unter anderem von der gesellschaftlichen Positionierung und der Bewertung der sozial konstruierten Merkmale ab. Vorurteile können nicht vergessen werden. Daher wird von vorurteilsbewussten und nicht von vorurteilsfreien Haltungen und Handlungen gesprochen.
Erwachsene (pädagogische) Fachkräfte und Beratende haben eine verantwortungsvolle Position, wenn es um das Vorleben bestimmter Haltungen und Verhaltensweisen geht. Für den eigenen Arbeitskontext bedeutet dies, eigene Vorurteile und fehlende Perspektiven (also welche Lebensweisen und Erfahrungen berücksichtige ich und welche nicht?) zu reflektieren. Dies ist Voraussetzung, um sich daraus einen kompetenten Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt zu erarbeiten.
Entscheidend ist, zu lernen, verinnerlichte Vorurteile, Herabwürdigungen, Abwertungen und Ausgrenzung wahrzunehmen und Veränderungsmöglichkeiten im eigenen Einflussbereich zu entwickeln. Anti-Bias-Seminare sind daher nur als Einstieg in eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit Diskriminierung im Alltag zu verstehen. Sie unterstützen dabei, ein vorurteilsbewusstes Verhalten zu entwickeln.
Erfahrungen in Kitas, Freiwilligendiensten und Schulen
Das Erfahrungsspektrum für den Anti-Bias-Bereich erstreckt sich auf die Begleitung von Beschäftigten in Kitas, Projektwochen und -phasen im Grundschulbereich, Seminare für Teilnehmende von (internationalen) Freiwilligendiensten und des zivilen Friedensdienstes, auf Fortbildungen für Teams, Lehrer(innen) und andere Multiplikator(inn)en sowie auf Unterstützung von Schulen in Inklusionsprozessen.
Fragestellungen für die pädagogische Praxis sind beispielsweise:
- Wie kann ich in der Kita gewährleisten, dass die Gemeinsamkeiten und die Heterogenität der Kinder, deren Eltern und der Erzieher(innen) bezüglich Alter, Familienbild, Sprache, sozialer und geografischer Herkunft sowie Religion sichtbar werden und ein wertschätzender Umgang entwickelt wird?
- Zu welchen Kindern fällt mir der Kontakt leicht und warum?
- Wie kann ich die Familien teilhaben lassen an der Kita- und Schulgestaltung?
- Mit welchen verinnerlichten Bildern beginne ich ein Auslandsprojekt und mit welcher Perspektive trete ich in Kontakt mit den Menschen?
- Wie kann ich mit meinen Privilegien/Benachteiligungen umgehen? Wie beeinflussen diese meine Einstellungen und Handlungen?
- Welche Vielfalt gibt es im Team und wie gehen wir damit um?
- Wie gehen wir mit der Vielfalt unserer Zielgruppe um?
Hinter diesen Fragestellungen verbirgt sich als zentraler Bestandteil der Arbeit die Frage nach der eigenen Haltung. Bei der Umsetzung in der Praxis beziehungsweise im (beruflichen) Alltag kann es auch erleichternd sein, dass es weniger um Methodenkompetenz geht. Wichtiger ist, dass wir uns und andere sensibilisieren, Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Ungleichheiten wahrzunehmen und kritisch darüber nachdenken. Dazu gehört es, sich aktiv gegen Ungerechtigkeiten und Einseitigkeiten einzusetzen und andere darin zu unterstützen.
Die eigene Haltung sichtbar machen
Beispielsweise kann man sich im pädagogischen Bereich einerseits überlegen, wie diskriminierende Praxen bearbeitet oder verhindert werden können. Der wesentliche Schritt ist aber, die eigene Haltung gegenüber den Kindern und Jugendlichen, deren Bezugspersonen und den Kolleg(inn)en in der Arbeitspraxis sichtbar zu machen. Wie ist beispielsweise die Reaktion auf vorurteilsbehaftete Äußerungen, auf Ausgrenzungserfahrungen? Welche Arbeitsmaterialien werden ausgewählt? Welche Menschen sind auf den Arbeitsblättern präsent? Wird die Vielfalt der Familienmodelle sichtbar? Welches Wissen über Religionen und welche Überzeugungen werden weitergegeben? Dies kann sich durch die pädagogische Praxis ziehen, ohne dass eine Extrastunde oder Projektwoche benötigt wird.
Anti-Bias lädt dazu ein, sich mit Diskriminierung auf verschiedenen Ebenen langfristig im Austausch mit anderen auseinanderzusetzen. Verinnerlichte gesellschaftliche Vorstellungen von "Normalität" werden hinterfragt und ein aktives Bewusstsein in Gruppen geschaffen, so dass Heterogenität und Gemeinsamkeiten wahrgenommen und wertgeschätzt werden können. Es geht um einen positiven und proaktiven Umgang mit Vielfalt in der Gestaltung des Miteinanders, ohne die Unterschiede sowie gesellschaftliche und globale Machtverhältnisse auszublenden.
Anmerkungen
1. Derman-Sparks, Louise: Anti-Bias Curriculum: Tools for empowering young children/ Louise Derman-Sparks and the A.B.C. Task Force. Washington DC, 1989 sowie dies.; Brunson-Phillips, Carol: Teaching/Learning Anti-Racism. A Developmental Approach. New York, 1997.
2. Die Autorin plädiert aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit dafür, den Unterstrich ("Gender Gap") zu verwenden (Pädagog_innen statt Pädagog(inn)en). Damit soll ausgedrückt werden, dass es mehr Möglichkeiten jenseits der zweigeschlechtlichen (männlich und weiblich) sozialen Konstruktion von Geschlechtsidentitäten und Geschlechtern gibt. Darüber hinaus kann es aufzeigen, wie Sprache auch inklusiv wirken kann, wenn versucht wird, alle mitzudenken.
3. ELRU (Hrsg.): Shifting Paradigms, using an anti-bias-strategy to challenge oppression and assist transformation in the South African context. Lansdowne/South Afrika, 1997 (www.elru.co.za).
4. "Kinderwelten" ist ein Projekt zur vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung in Kitas und Grundschulen (www.kinderwelten.net).
5. Inkota-Netzwerk e.V. (Hrsg.): Vom Süden lernen. Erfahrungen mit einem Antidiskriminierungsprojekt und Anti-Bias-Arbeit. Berlin, 2002.
6. Mehr Informationen zum Anti-Bias-Ansatz unter www.anti-bias-netz.org